Autor: Cristo Fe Crespo Soro
Kurzgeschichte: Die Extraktion (Teil 1)
"Frohe Weihnachten, Schatz."
Antonietta Guyer-Leutwiler, geborene Martinelli, reagierte mit einem einfachen Nicken auf den Glückwunsch, als sie ihrem Mann zuprostete. Dieser wandte sich seinem Sohn und dessen Braut zu. "Euch natürlich auch."
"Ebenso euch." Meinten diese und erhoben gleichfalls die Sektgläser.
Versammelt standen alle vor einer imposanten Nordmanntanne, die mit abertausenden funkelnden Swarovski-Ornamenten geschmückt war und dessen Kristallstern praktisch die ganze Räumlichkeit erhellte. Ein Meer an themenbezogenen AROs umschwirrte den Baum. Von diesen überbot sich die Mehrzahl mit kitschigen Animationen, während der Rest bei Kontakt weihnachtliche Musik abspielte oder Gedichte rezitierte. Zusätzlich umrundete noch ein Santa Claus-Hologramm mit Schlitten und animierten Rentieren regelmäßig den Baum und war sein "Ho Ho Ho!" auch auf mehreren Metern Entfernung zu hören. Es roch nach Zimt und Glühwein.
Mit verschränkten Armen versuchte Antonietta, die einzige Elfe im Saal, zumindest den Moment zu genießen, während sie den Blick wandern ließ.
Einige der durchgehend vornehm gekleideten Gäste waren bereits über das Buffet hergefallen und andere tänzelten lustlos auf der Showbühne herum, auf der später ein Konzert stattfinden sollte. Kaum einer saß an der reich geschmückten Festtafel, während die Mehrzahl vor einer riesigen Glasfront stand, von der aus man einen atemberaubenden Ausblick auf das Combin-Massiv und den Mont Fort hatte. Dahinter ging die Sonne gerade in einem spektakulären Farbenspiel unter.
Es herrschte eine ausgelassene, feiertägliche Stimmung an diesem Heiligabend.
So schien es zumindest.
Langsam drehte sich Antonietta ihrem Mann zu. "Ich dachte wirklich, du würdest mich holen oder wenigstens vorbeikommen."
Jedes einzelne Wort drückte maßlose Enttäuschung aus.
"Ach Liebes", ignorierte dieser den anklagenden Ton, "du weißt doch, wie das in meiner Welt ist. Der Finanzmarkt kennt nun Mal keine Feiertage. Die Wirtschaft ruht nie, nicht einmal an einem Tag wie heute."
Ernst Guyer-Leutwiler, Unternehmer, Mehrheitsaktionär und exekutiver Vizepräsident, sowie Delegierter des Verwaltungsrates von AgronOmni Schweiz hielt kurz inne und blickte scheinbar ins Leere. "Erst recht an einem Tag wie heute."
"Ist deine Sekretärin mit von der Partie?" Wusste seine Frau nur dazu.
"Xenia? Ja. Sie ist ja schließlich mein Schatten, meine rechte Hand."
Gerade als Antonietta zu einer gepfefferten Erwiderung ansetzte, unterbrach sie ihr Sohn.
"Wir haben echt viel zu tun. Die Verhandlungen verlaufen mehr als nur schleppend. Und gerade deswegen sitzen wir zwei ja hier in Winterberg fest. Ich weiß nicht, was übler ist, dieses Jahr oder die Drachenbrut."
"Womöglich schaffe ich es aber auf Silvester." Machte Ernst seiner Frau neue Hoffnung.
"Sehr wahrscheinlich sind wir dann auch zurück. Könnte sogar endlich klappen." Schlug ihr Sohn ebenso in die gleiche Kerbe.
Und trotz ihrer sichtlichen Unzufriedenheit, klammerte sich Antonietta an die vage Hoffnung und klang deswegen geselliger. Augenblicklich fühlte sie sich unendlich einsam.
"Wisst ihr, ich wünsche mir wirklich nichts sehnlicher, als das wir als Familie wieder einmal in echt zusammenkommen könnten. Ich vermisse das so sehr."
Alle nickten zustimmend.
Sie lächelte. "Sollte uns dies endlich mal gelingen, wäre das einfach nur fabelhaft." Nur schon der Gedanke daran brachte sie zum Schwärmen. "Wer weiß, vielleicht wäre dann auch der richtige Moment, um reinen Tisch zu machen und uns mit Lara zu versöhnen."
"Wer?" Entgegnete ihr Ernst.
"Ach lass das, es ist doch Heiligabend. Mir würde es schon genügen, zu wissen ob sie noch am Leben ist."
"Ich hoffe nicht."
Die unüberlegte Erwiderung ihres Ehemannes ließ Antonietta so laut werden, dass sich alle Anwesenden ihnen zuwandten. "Ernst Guyer-Leutwiler, das ist verdammt nochmals deine einzige, leibliche Tochter!"
Nervös verfolgte ihr Sohn den Schlagabtausch, als er beschwichtigend dazwischenfuhr. "Mutter, bitte. Sie ist nun Mal eine Verbrecherin. Sie wird ja auch von der Polizei gesucht. Und du kannst nicht leugnen, dass unser Ruf wegen ihr massiv gelitten hat."
"Sie war doch nur bei einer Demo in Genf. Das sie dabei in einige Ausschreitungen geriet, war nicht ihre Schuld."
"Wie erklärst du dir dann das mit GrüenChrieg? Es war doch von Anfang an klar, dass etwas mit ihr nicht stimmt," hielt ihr Ernst entgegen, "aus wie vielen Internate ist sie denn geflogen? Wann hatten wir denn keine Probleme mit ihr? Das ist einfach nicht normal."
"Palle!" Ließ sich Antonietta hinreißen. "Das schon wieder ... jetzt sind die 80er und wir leben nicht mehr im letzten Jahrhundert, geschweige denn im Mittelalter. Wird wohl Zeit, dass das auch diese überteuerten Kindergärten es endlich begreifen."
Ihr Mann verschränkte trotzig die Arme. "Ich persönlich finde es trotzdem unnatürlich. So etwas gab es in meiner ehrenhaften Familie nie. Nein, das kann nicht ... darf nicht mein Fleisch und Blut sein."
"Ist sie aber. Und, sie persönlich wird auch nicht die Einzige bleiben." Grinste ihn seine Frau herausfordernd an und kassierte dafür einen verächtlichen Blick.
"Elfenfrau, dir ist bewusst, dass ich dir das nie vergeben werde!"
"Lässt du mich deswegen hier eingehen?" Brach es schließlich aus Antonietta heraus.
Betretenes Schweigen folgte und wechselten die Männer enttäuschte Blicke.
Ebenso verblasste das Interesse der anwesenden Gäste, wandten sich die meisten dafür der verlockenden Tafel zu. Mehrfach fiel hierbei der Name Guyer-Leutwiler, gefolgt von einem Kopfschütteln.
Während das dem Kopf der Familie sichtlich unangenehm war, starrte ihn seine Frau anklagend an. Bis er reagierte.
"Und? Kriegst du wieder einen deiner Migräne-Anfälle?"
"Ich denke schon!"
Wutentbrannt klinkte sich Antonietta aus und riss sich das Transferkabel förmlich aus der Nackendatenbuchse.
Dunkelheit verschlang sie dabei und wurde ihr schwindlig, wie auch äußerst übel.
Abrupte Auswürfe aus der Matrix hatten für ungeübte Anwender nun Mal einen solchen Effekt.
Zwar kämpfte sie gegen das dringende Verlangen an, sich übergeben zu müssen, aber ebenso spielte sie mit dem Gedanken, es doch zuzulassen. Es hätte so gut zur augenblicklichen Situation gepasst und ihr wenigstens ein wenig Erleichterung gebracht.
Dann kam ihr wieder in den Sinn, dass sie sich nicht nur feierlich herausgeputzt hatte, sondern auch die teuerste Abendgarderobe trug, die sie überhaupt besaß.
Und obwohl die Maßanfertigung von Franzinger Fashion ein Geschenk ihres Mannes war, mochte sie das einzigartige Cocktailkleid ja trotzdem.
Also rang sie das Würgen nieder und richtete sich gequält im ergonomischen Multimediasessel auf, kämpfte sich aus der Liegemulde und blieb ausgebrannt an der Kante hocken.
"Vai a fotterti!" War das Erste, das ihr über die Lippen kam. "Du alter, verbohrter Greis."
Sie stützte das Gesicht in den Händen und die Ellbogen auf den Knien ab, während sie nicht nur gegen den Schwindel ankämpfte, sondern auch um ihre Fassung rang.
Sie hätte weinen können.
Ein zynisches Grinsen materialisierte sich auf ihren bläulich geschminkten Lippen. Eigentlich müsste sie wirklich weinen.
Vielleicht nicht ihretwegen, sondern ihrer Tochter wegen, die im 21. Jahrhundert in eine Familie mittelalterlicher, kleingeistlicher Krämerseelen hineingeboren worden war. Lara war nun mal seine verdammte, leibliche Tochter. Sie WAR sein Fleisch und Blut. Was war dann schon daran, wenn sie eine aufmüpfige Ader besaß oder Frauen liebte?
Was hätte er wohl getan, wenn sie goblinisiert wäre?
Ihr fiel schmerzhaft wieder ein, wie enttäuscht ihr Mann gewesen war, weil sie nicht nach der Mutter gekommen war und keine spitze Ohren und elfische Schönheit besitzen würde. Entgegen jeglicher ärztlichen Prognose hatte er das ja von ihr erwartet.
Sie hielt sich die Stirn, als wiege ihr Kopf ein Vielfaches ihres eigenen Körpergewichtes. Vor allem, hatte er damals gewettert, weil das ihren Wert auf dem Heiratsmarkt empfindlich verringern würde.
Wieso nochmals hatte sie diesen Mann geheiratet?
War da mal wirklich Liebe im Spiel gewesen?
Nein, sie würde nie mehr in ihrem Leben weinen. Für das war sie einfach zu abgestumpft.
Seufzend blickte sie an sich hinter. Und erneut war sie auf seine leeren Versprechungen hereingefallen. Hatte sie blindlings seiner Engelszunge geglaubt.
Wofür hatte sie sich überhaupt schön gemacht und ihr bestes Kleid angezogen?
So viel zu den versprochenen gemeinsamen, glücklichen Feiertagen.
Inzwischen schmerzten oder irritierten die alltäglichen Sinneseindrücke nicht mehr so sehr, durchdrang der Geruch nach Desinfektionsmittel erneut alles und erinnerte sie nachdrücklich daran, dass dies der Konferenzraum des ‚Hexagons‘ war. Im künstlichen Licht wirkte der aufgestellte Weihnachtsschmuck, insbesondere der synthetische Weihnachtsbaum immer noch an ein zweitklassiges Genom-Werbegeschenk. Und es war auch kaum zu überhören, wie die anderen Gäste, in ihren bequemen Multimedianestern gebettet, ihrerseits versuchten, den Heiligabend mit Freunden oder der Familie zu genießen.
Langsam fuhr sie über die berührungsempfindliche Oberfläche ihrer Liege. Eigentlich hatte sie schon vorher gewusst, dass es so ausgehen würde, wie es ausgegangen war. Wieso sollte es dieses Mal anders sein?
Und wieso machte sie nicht das Beste daraus?
Das wenigstens beherrschte sie meisterlich.
Vielleicht sollte sie in der Matrix bei der Party ihres Cousins in San Marino vorbeischauen. Und von allen ausgelacht werden, weil sie nicht auf diese gehört und eher bei ‚ihrer‘ Familie hatte bleiben wollen?
Hierbei den ganzen Abend sich dämliche Witze über die knochensteifen Deutschsprachigen und insbesondere den knausrigen Schweizern anhören?
Dann ging sie lieber zu ihren Freundinnen. Momentan kamen diese ja wieder in Paris zusammen. Könnte ein toller Abend werden.
Obwohl jede einzelne von ihnen sie sicherlich mehrfach am Abend nach Enkelkindern fragen würde.
Antonietta seufzte schwer. Eventuell hatte sie auch bloß eine echte Migräne.
Sie stand auf und fühlte sich uralt.
Deprimiert musterte sie sich in der spiegelnden Silberkuppel der Liege, die nicht nur den Eindruck eines futuristischen Cockpits vermittelte, sondern den Liegenden auch glauben lassen sollte, dass seine Worte gedämpft wurden und kaum hörbar blieben. Was ein ziemlicher Trugschluss war, wenn sie das Stimmenwirrwar bedachte, das momentan im Konferenzraum herrschte. Einer sang sogar Weihnachtslieder.
Sie war alt geworden.
Zwar war sie immer noch eine elfische Schönheit, aber die markanten Krähenfüße sprachen ihre eigene Sprache. Ebenso hatte sie dieses jugendhafte Leuchten der Augen verloren, mit dem sie ihren Ernst stets um den Finger wickeln konnte.
Tja, es musste ja irgendwann so weit kommen.
Vielleicht war es wirklich an der Zeit für eine Leónisation, wie ihr Mann stets behauptete. Bei ihm hatte es ja Wunder gewirkt. Und da sie momentan zur Kur hier in der Platzspitz-Arkologie residierte, war sie ja am genau richtigen Ort dafür.
Sie kontrollierte ihre haselnussbraune Mähne.
Aber womöglich brauchte sie bloß einen blutjungen Liebhaber, wie Samantha stets meinte. Wenn sie bedachte, dass die Multimediasessel auch SimSinn-Feeds wiedergeben konnten ...
Würde man sie rauswerfen, falls sie sich an einem heißen Sim versuchte?
Das wäre dann aber ein wirklich erinnerungswürdiger Heiligabend.
Eigentlich war es jedoch Zeit, dass sie ihrem Göttergatten endlich echte Hörner aufsetzte. Diese Retourkutsche hatte er sich mehr als verdient.
Zwar konnte sie sich immer noch nicht recht mit dem Gedanken anfreunden, aber eines war sie sich augenblicklich absolut sicher: Sie würde diesen Heiligabend nicht nochmals alleine verbringen.
Entschieden streckte sie ihren Rücken durch und probierte begehrenswert zu wirken. Hatte dieser Doktor, der sich stets übermäßig um sie bemühte heute Dienst?
Wie hieß er doch gleich?
"Doktor Douglas Ross." Flüsterte sie sich selber zu und versuchte, lasziv zu klingen. Möglicherweise könnte hierbei ihr blau glitzerndes Cocktailkleid mit den dazugehörigen High Heels ein wenig abschreckend wirken. Denn ihr war, dass der Mann eher ‚häuslichere‘ Frauenzimmer bevorzugte. Dann musste sich zuerst einmal umziehen.
Auf der Silberkuppel war jemand auszumachen, der näher kam.
Nach der Uniform zu schließen, handelte es sich hierbei um eine einfache Schwester oder ‚Begleiterin‘, wie man sie hier zu nennen hatte. Musste wohl von einer anderen Abteilung kommen, denn Antonietta hatte sie noch nie zuvor gesehen. Wobei es schien, als wäre die Uniform, die sie trug zu groß. Aber sie konnte sich gut vorstellen, dass bei einer solch feenhaften Erscheinung jedes Standardkleidungsstück unförmig aussah.
Und natürlich war es wieder eine Ausländerin. Wobei es hier zum Klischee einer Inderin passte, dass diese sogar den obligaten roten Schönheitsfleck auf der Stirn trug. Andere Kulturen, andere Schönheitsideale, dachte sich Antonietta. Dennoch sah die Frau entzückend aus und hatte für einen Menschen ein Figürchen, wie sie sich stets erträumt hatte.
Sie hasste den als lustig empfundener Kommentar "Die kann problemlos aus der Dachrinne saufen" ihres Gatten ihr gegenüber immer mehr.
Ihr kam unerwartet der Gedanke, es vielleicht einmal auch mit einer Frau zu versuchen. Ihre Familie hatte es ja scheinbar im Blut.
Antonietta hielt inne und errötete leicht, schüttelte dann den Kopf. So verzweifelt war sie schon?
Mit einem schweren Seufzer drehte sie sich dem Neuankömmling zu.
Schlussendlich handelte es sich bei der Frau nur um eine schlecht bezahlte, nichtschweizerische Arbeitskraft, der man hier das Paradies versprochen hatte. Ihr Anblick ließ die Inderin förmlich erstarren und verschlug dieser sichtlich die Sprache. Was Antonietta nicht nur positiv überraschte, sondern kurzfristig sogar ein richtiges Hoch bescherte.
Wie hatte sie diese Reaktion vermisst.
Das war einer der Gründe gewesen, weswegen ihr Ernst sie gerne an Geschäftsverhandlungen mitgenommen hatte. Denn man hatte sich in der kleinen, abgeschotteten Schweiz auch heutzutage nicht an den Anblick echter Metamenschen gewohnt.
Bis er diese amerindianische Elfe zu seiner Sekretärin gemacht hatte.
Schlagartig kippte ihre Laune.
Die Angestellte hatte wohl bloß wegen dem sündhaft teuren Kleid und ihr Make-up so reagiert. Dennoch mochte sie die Kleine schon jetzt irgendwie.
"Solltest du nicht mindestens vier Arme haben?" Meinte sie trocken.
Die ‚Begleiterin‘ erwachte aus ihrer Starre und verneigte sich. "Auch wenn in den hiesigen Medien die Nartakis omnipräsent sind und praktisch das Bild unseres Volkes prägen, sieht die Mehrheit von uns wie ein normaler Mensch aus. Wie auch meine Wenigkeit. Es ist nichts Besonderes oder Bedrohliches an mir."
Sie besaß einen schwachen Akzent, der ins Französische tendierte.
"Mein Name ist Manushi de Staël und man hat mich beauftragt, sie abzuholen."
Die Elfe zog die Augenbrauen hoch. "Wer den?" Wollte sie wissen.
"Das ist eine Überraschung und soll nicht verraten werden."
Antonietta verschränkte die Arme und lehnte sich leicht angewidert gegen den Multimediasessel. "Der alte Zausel wird auch nicht schlauer. Was für ein Schauermärchen hat er sich jetzt wieder einfallen lassen?"
Manushi wies nur zum Ausgang des Konferenzraumes und wartete.
"Ich hatte wirklich gehofft, dass er dieses Jahr kommen würde. Meinetwegen. Ich habe mich extra schön gemacht für ihn."
"Sie sehen auch toll aus."
Die Spur Bewunderung, die jetzt in der Stimme mitschwang, ließ die Elfe hellhörig werden und verunsicherte sie ein wenig. "Geht es möglicherweise gegen meinen Mann? Oder hat er sie wirklich geschickt, damit ich auch auf meine Kosten komme und er kein schlechtes Gewissen haben muss?"
"Es ist eine Überraschung." Beharrte die ‚Begleiterin‘ auf ihre Aussage.
"Und wenn ich mich weigere?"
"Dann gibt es keine Überraschung."
Zwar grinste Antonietta, aber ein mulmiges Gefühl beschlich sie inzwischen. Denn die Inderin gab sich ernsthaft Mühe, sich nicht durchschauen zu lassen; erweckte damit immer mehr ihre Neugierde.
Und die hatte sie schon so manches Mal in Teufels Küche gebracht.
Herausfordern blickte sie deswegen der Frau in die Augen. Sie ließ sich doch von einem solchen Mädchen nicht an der Nase herumführen.
Und verlor sich.
Denn den bernsteinfarbenen Augen wohnte eine eigentümliche Faszination inne, die sie kurz an ihren Vorlieben zweifeln ließ. Heiß und kalt lief es ihr hierbei den Rücken herunter. Würde ihr Ehemann sie enterben, wenn sie ...
Gleichzeitig fühlte sie auch die mechanische Kälte der Multimediastation, gegen die sie sich lehnte. Das war die Alternative?
Und Antonietta Guyer-Leutwiler warf jegliche Bedenken über Bord und traf eine Entscheidung.
"Wenn es Doktor Ross ist, ist es für mich in Ordnung," meinte sie eher scherzhaft, "aber, wenn es Brunner der Idiot ist, hast du mich gesehen."
"Wer?"
"Gut so." Lächelte Antonietta, schnappte sich ihre Zoé de Paris Handtasche, die gegen den Multimediasessel lehnte und folgte ihrer Führerin. Die kleine, kugelförmige Drohne, die stets ihre gesundheitlichen Daten überwachte und jeder Patient hier besaß, schwebte ihr dabei wie üblich nach.
Trotz der weihnachtlichen Dekoration und unzähliger brennenden AR-Kerzen strahlte der Gang, den sie jetzt einschlugen immer noch den Charm eines Spitals aus. Wobei die neorealistischen Bilder, die in regelmäßigen Abständen Nahaufnahmen organischen Gewebes dargestellten, ihren Teil hierzu beitrugen.
Manushi wandte sich im Gehen ihr zu. "Dürfte ich etwas fragen?"
"Wieso nicht."
"Was hat ihre Tochter denn getan, um den Zorn der Familie zu verdienen?"
Abrupt blieb Antonietta stehen, erdolchten ihre Blicke die Angestellte förmlich. "Wie kannst du es wagen ..."
Doch diese ließ sich nicht beeindrucken. "Entschuldigen sie bitte, wenn ich sie mit meiner Frage verletzt haben möge. Aber es war wirklich nicht zu überhören, wie sie ihren Mann gemaßregelt haben."
Es dauerte einige Herzschläge, in der die Elfe wie versteinert dort stand, bis sie reagierte. Dann sackten ihre Schultern herunter und wirkte sie älter als zuvor, als sie bloß ein "das hat dich nicht zu interessieren" durch die Lippen presste.
"Von mir aus. Aber ich denke, es würde ihnen wirklich guttun, darüber zu reden."
"Mit dir?"
Die Inderin lächelte geheimnisvoll, während ihre Stimme von einer Wärme erfüllt war, die Antonietta schon fast schmerzte. "Sie können es auch mit der Wand versuchen. Aber ich denke, dass sie eine lebende, physisch präsente Person bräuchten, um mit ihr darüber zu sprechen."
"Und das bist du?"
"Ich bin nur eine unbedeutende Schwester. Aber wir befinden uns doch in einer Klinik, in der man um das Wohlergehen der Gäste bemüht ist. Nicht? Und sie können nicht leugnen, dass schon seit Urzeiten bekannt ist, dass es heilsam sein kann, miteinander zu reden. Also wieso nicht? Oder soll ich hierfür einen Arzt holen?"
"Diese eingebildeten Ärzte und hochnäsigen Oberschwestern haben für so etwas nie Zeit. Und erst recht die anderen Gäste hier. Die haben doch alle einen Stock im Arsch. Wen interessiert schon ..."
Mit einem sanften Lächeln stand Manushi dort und wartete.
Unsicher wich Antonietta einen Schritt zurück. "Bist du magisch begabt? Willst du mich verzaubern? Oder hast es schon?"
"Nein. Das können sie mir ruhig glauben. Mit Magie habe ich absolut nichts am Hut. Des weiteren hätte mich die magische Sicherheit hier schon längst gegrillt, wenn ich auch nur ansatzweise etwas Derartiges versucht hätte."
"Stimmt."
Was wollte diese Frau von ihr, fragte sich jetzt Antonietta. Denn ein gewisses Interesse war eindeutig vorhanden. Ging es ihr wirklich nur um ihr Wohlergehen?
Oder war da mehr dahinter?
Bis ihr in den Sinn kam, wie viele Male sie während ihrer Kur versucht hatte ein normales Gespräch zu beginnen, sich mit jemandem zu unterhalten, ohne dessen Leidensgeschichte in allen Details vorgetragen zu bekommen. Praktisch jedes Mal war sie schließlich in ihrer Wohnung gestrandet und hatte Selbstgespräche geführt. Und jetzt bot man ihr ...
"Nenn mich Tonia." Begann sie.
Zuerst nur zögerlich erzählte sie vereinzelte Anekdoten über ihre Tochter, schilderte die Mühen, die ihr Mann mit ihrer rebellischen Art gehabt hatte. Im Gegensatz zu ihr, die sie deswegen vergötterte. Und auch über ihren Sohn ließ sie sich aus, der eindeutig mehr nach dem Vater gekommen kam. Vor allem mit seinem konservativen Weltbild hatte sie so ihre Mühe.
"Er hat einfach kein Feuer im Arsch." Meinte Manushi nur dazu.
"Ja, genau, dass sagte meine Lara auch immer."
Und von hier aus war das Eis gebrochen.
Antonietta/Tonia schwärmte über die Jugend ihrer Tochter und berichtete sogar freimütig von deren amourösen Eskapaden, die ihren Vater zur Weißglut getrieben und sie mehrfach aus renommierten Mädcheninternaten hatten fliegen lassen. Auch ließ sie sich dazu hinreißen, Manushi zu erklären, dass sie hier war, weil ihr im Moment eine Autoimmunerkrankung das Leben schwer machte und Professor Izumi Hinohara selbst ihr einen Therapieplatz angeboten hatte.
Bis sie an einem Wartungsroboter vorbei kamen. Dieser besaß einen humanoiden Oberkörper, der auf einem rechteckigen Aufbau steckte und an einen medizinischen Schrank erinnerte. Überrascht sah Antonietta mehrfach der weißen Figur nach.
"Was ist?" Fragte ihre Führerin.
"Er hat nicht mich nicht gegrüßt."
"Er hat wohl ihren ID-Sensor nicht lesen können. Kommt ab und zu mal vor. Manchmal haben Drohnen ihre liebe Mühe damit."
"Aber wir sind praktisch neben ihm vorbeigegangen? Ist mir bisher noch nie passiert."
Unschlüssig musterte sie hierbei die Drohne, welche ihr folgte. Doch diese schien weiterhin einwandfrei zu funktionieren.
"Stört sie das nicht?" Wandte sich Manushi an sie. "Ich meine, wenn man ständig derartig überwacht wird?"
Erstaunt blickte Antonietta von der Drohne weg. "Wieso? Sie passen auf uns auf. Und die Roboter sind höflich und grüßen bloß."
Es war Antonietta ziemlich klar, dass die Angestellte sich mit der hiesigen Kultur überhaupt nicht auskannte. Dies hier war eine andere Welt, zu der sie keinen Zugang hatte.
Und mit ihrem Hungerlohn auch nie haben würde.
"Darüber hinaus fühlt man sich so viel sicherer und behütet. Nur so ist unser Wohlbefinden gewährleistet. Denn die Welt da draußen ist ein gefährlicher Ort voller Kriminellen. Und ich glaube nicht, was uns manche Medien diesbezüglich glaubhaft machen wollen. Das Bild, das uns die Presse manchmal über diese sogenannten Schattenläufer suggeriert ist grundlegend falsch. Das sind in Wahrheit skrupellose und gewissenlose Verbrecher. Mein Mann sagt auch immer, dass selbst Mord für sie bloß ein weiterer Job ist."
Manushi nickte verstehend, als sie einen der wenigen Expresslifte der Etage betraten.
"Dürfen wir denn überhaupt benutzen?" Fragte Antonietta. "Ich dachte, die wären nur den Sicherheitskräften und Chefärzten vorbehalten."
"Manchmal erlaubt man es auch uns." Beruhigte die Angestellte sie, während sie wartete, bis die Schwebedrohne im Aufzug war. "Dürfte ich vielleicht eine weitere persönliche Frage stellen?"
Da das bisherige Gespräch erfreulicher als erwartet ausgefallen war, nickte Antonietta.
"Was würde ihnen ihr Mann nie vergeben?"
Sie antwortete, ohne die Frage zu hinterfragen. "Es ist leider schon Jahre her. Und es war auch das letzte Mal, dass ich sie gesund und lebendig sah. Lara ist eine erwachsene, kluge Frau, weißt du. Damals kam sie zu mir mit ihrem einen, großen Herzenswunsch, der sie für unerreichbar hielt. Also erfüllte ich ihn ihr." Sie wurde nachdenklicher. "Das war, bevor mein Mann mir den Zugriff auf meine Konten beschränkte. Und wohl auch der Moment, als er begann, auf Abstand zu gehen."
Die Lifttüre öffnete sich und die Inderin ging zielstrebig zu einer gegenüberliegenden, unscheinbaren Türe. Zögerlicher betrat Antonietta den schmucklosen, bunkerartigen Raum, der zu einem Teil der Arkologie gehörte, in dem sie noch nie gewesen war. "Wo sind wir?"
"In der Wartungsetage über den öffentlichen Parkplätzen."
Augenblicklich wich die Elfe mehrere Schritte zurück. "Wir verlassen das Hexagon? Ich dachte ..."
Plötzlich war sie sich nicht mehr so sicher. Sie blickte zu ihrer Drohne und musste feststellen, dass diese eigentlich der Inderin und nicht ihr folgte.
Beschwichtigend kam währenddessen Manushi auf sie zu. "Es sollte doch eine Überraschung sein, oder?"
"Ohne Begleitschutz verlasse ich das Gebäude nicht."
Plötzlich kam Furcht auf, war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob die Inderin überhaupt eine echte ‚Begleiterin‘ war. Und wieso schien es ihr so wichtig zu sein, dass sie ihr folgte?
All die Warnungen und Schreckensberichte ihres Mannes kamen ihr jetzt in den Sinn, ließen sie nervös nach dem Expresslift Ausschau halten.
Das war eine Wendung, die ihr überhaupt nicht passte.
"Vertrauen sie mir bitte. Ich wäre niemals in der Lage, ihnen etwas anzutun. Es ist wirklich nur zu ihrem ..." Fuhr Manushi fort und verstummte, gemeinsam mit dem Knall eines heftigen Schlages. Ebenso knallte ihre Schwebedrohne auf den Boden.
Als Antonietta herumfuhr, sackte die Inderin gerade in sich zusammen, während jemand hinter dieser stand. Sie brauchte einen Moment, bis sie den Mann erkannte, der grinsend einen blutigen Knüppel in der Hand hielt.
"Doktor Brunner?"
Aufgeregt kam sofort zu ihr hinüber. "Alles in Ordnung Antonietta Guyer-Leutwiler? Geht es ihnen gut?"
"Wieso haben sie das arme Mädchen niedergeprügelt?"
Der untersetze Mann in weißem Doktorkittel sah sie durchdringend an. "Sie mögen zwar wohlhabend sein. Aber sie sind einfach zu blind für die Realität, für die wahren Gefahren da draußen. Ist ihnen das nicht aufgefallen? Haben sie denn wirklich nichts bemerkt?"
Er wies mit dem Schlagstock anklagend zur liegenden Frau. "Das ist eine dieser gefährlichen Missgeburten. Man muss den Kopf angreifen."
Die Elfe wich weiter zum Lift zurück. "Wie ... was?"
"Sie ist ein Technokinetiker, ein Technomancer!" Schrie der Mann sie schon fast an. "Antonietta Guyer-Leutwiler, laut ihrem eigenen ID-Sensor befinden sie sich augenblicklich in ihrem persönlichen Schlafzimmer."
Unbewusst tastete die Elfe den Arm nach ihrem Implantat ab.
"Keine Angst, ich habe auch schon einen stummen Alarm ausgelöst." Fuhr Doktor Brunner weiter, der sie derzeitig mehr an einen aufdringlichen Hund als an einen Retter in Not erinnerte. "Wow! Sie sehen heute Nacht aber echt heiß aus. Hätte nichts gegen einen gemeinsamen Tanz aus Dankbarkeit mir gegenüber."
Er wog seinen Knüppel in der Hand. "Diese Missgeburt hat es mir wahrlich nicht leicht gemacht. Keines der Haussysteme war in der Lage sie innerhalb der Anlage überhaupt zu orten."
Er grinste bösartig. "Doch mich hat sie trotzdem nicht linken können. Nachdem ich mich in ihrer Wohnung vergewissert habe, dass sie wirklich nicht da waren, war es klar, dass man sie zu entführen versuchte. Also habe ich alle möglichen Fluchtwege im Auge behalten und sofort reagiert, als einer der Expresslifte in Betrieb genommen wurde, für den keine Genehmigung vorlag. Dann musste ich nur hier auf der Lauer liegen ... und voilà!"
"Sehen sie, meine verehrte Antonietta. Ich hatte doch Recht. Ihre Anschuldigungen und Befürchtungen mir gegenüber waren absolut unbegründet."
Er wippte jetzt sogar mit den Füssen, während sie ihre Handtasche enger an sich drückte.
"Hätte ich sie nur dieses eine Mal aus den Augen gelassen, weiß Gott, was ihnen Schreckliches widerfahren wäre. Nun, ich hoffe, von jetzt an werden sie sich mir gegenüber umgänglicher erweisen."
Ein leises Stöhnen erklang hinter ihm.
Doktor Brunner zuckte zusammen, als er entgeistert auf den blutigen Knüppel in seiner Hand blickte. "Der Schlag hätte sie doch töten sollen? Diese Technokinetiker sind echt nicht menschlich." Entschlossen fuhr er herum und machte sich daran, sein Werk zu beenden. "Keine Angst meine Dame, ich weiß ganz genau, wie man mit dieser ausländischen Brut umgeht."
Er hob den Arm zum entscheidenden Hieb und ... sackte wie unter Krämpfen gurgelnd in sich zusammen. Kurz zuckte er noch mehrmals, bevor er ohnmächtig wurde.
Manushi hatte sich unterdessen hingesetzt und rieb sich den blutenden Hinterkopf. "Ich kann mehr einstecken, als man mir ansieht."
"Ja, das sehe ich."
Dann sah sie zu Antonietta hoch, die gerade einen Yamaha Micro-Pulsar Holdout-Taser in ihrer Handtasche verstaute. "Sie waren bewaffnet?"
"Ist ein Geschenk meines Sohnes."
"Wieso haben sie nicht? Ich war ..."
"Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt bedroht gefühlt."
Die Inderin nickte nur kurz und musste sich darauf fluchend den Kopf halten.
Antonietta trat zu ihr. "Das mit dem Technomancer stimmt?"
"Ja."
"Wieso?"
"Ich wollte nicht, dass sie Schwierigkeiten bekommen. Ich hätte sie auch so unauffällig wieder zurückgebracht. Glauben sie mir bitte."
Die Elfe nickte nur, als sie sich zu ihr beugte und ihre Wunde untersuchte. "Trotzdem, das muss sofort behandelt werden."
Doch Manushi wimmelte sie ab. "Machen sie sich keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht."
Dann sah sie mit feuchten Augen hoch. "Das war’s dann wohl. Gehen sie bitte zurück. Sonst bekommen sie wirklich noch Probleme. Der Lift bringt sie wieder rauf. Laut Protokoll waren sie dann nie außerhalb ihrer Wohnung gewesen. Somit würde auch keiner dem Kerl da seine Geschichte abkaufen."
Sie ließ den Kopf hängen. "Trotz allem, es war mir eine Freude, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben."
Nach einem verächtlichen Blick zum liegenden Arzt wandte sich Antonietta entschlossen der Inderin zu. Sie hatte zwar bisher jede Entscheidung bereut, die sie jemals mit dem Herzen getroffen hatte. Aber es war Heiligabend und vielleicht geschah an diesem Abend wirklich ein Wunder.
Und schließlich mochte sie sie die kleine Inderin irgendwie.
Was sie von sehr vielen Leuten nicht sagen konnte, mit denen sie ihre Lebenszeit vergeudet hatte.
Also stemmte sie Manushi auf die Füße. Ihre Stimme duldete keine Widerrede.
"Junge Dame, das würde ihnen wohl so passen. Aber Kneifen gibt‘s nicht. Wenn man was anfängt, führt man es auch zu Ende."
Verdattert starrte die Inderin sie an.
"Man hat mir eine Überraschung versprochen. Ich hoffe, dass sie gut wird."
Manushi strahlte sie nur noch an. "Das wird sie. Das wird sie."
"Auf was warten wir dann?"