Shadowrun

Eine Geschichte von Susanne Lamprecht
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Zwieblblootz

[Nürnberg-Erlenstegen, 03.11.2082, 16:00:00 Uhr]

„Wer zahlt, schafft an.“ Ein Sprichwort, das seine Gültigkeit nie verloren hat. Schon gar nicht in den Schatten. Das bedeutet nicht, dass man sich mit dem Auftrag auch wohlfühlen muss. Oder einen Sinn darin sehen. Dieser Run gehörte zur sinnlosen Variante. Warum sollte man einen Komplex sprengen, der schon seit Jahren leer stand? Welchen Wert konnten die Daten noch haben, die vorher herausgeholt werden sollten?

„Seltenheitswert“, murmelte Cass vor sich hin. Zwieblblootz musste lachen. „Das, oder Antiquitätswert“, stimmte er seinem neuesten Protegé zu. Die rothaarige Normfrau sah überrascht von der Ares Predator auf, die sie gerade unter seiner Aufsicht zerlegt hatte. „Habe ich laut gedacht?“, wollte sie wissen.

Es war verlockend, sie in dem Glauben zu lassen. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich hab’ nur das Gleiche gedacht. Aber es ist ein einfacher Job, der dir ein bisschen Übung und Reputation verschafft. Also, was wissen wir?“

Er lehnte sich zurück und beobachtete die junge Frau, die die Informationen abwog, die sie bisher hatte. Sie erinnerte ihn an diejenigen, die vor ihr gekommen und gegangen waren. Wie mochte es Snow-WT ergehen? Hatte sie sich vor dem ganzen Unsinn in Sicherheit gebracht? Langsam wurde er zu alt für den Scheiß, aber jedes Mal, wenn er erwog, sich zur Ruhe zu setzen, passierte irgendein neuer Drek. Wenn alles glatt lief, würde Cass seine Nachfolgerin werden und er endlich den verdienten Ruhestand genießen. Wenn nicht … Das war ein Problem, um das er sich kümmern würde, wenn es so weit war.

Cass schien nicht recht zu wissen, wo sie beginnen sollte. Also fing er an zu fragen. Sie war ein schlaues Mädchen, und es war ihr erster Run. Beim nächsten Mal würde er nicht mehr fragen müssen. „Was hat uns der Schmidt erzählt?“

Sie sah ihn erleichtert an und begann damit, das Meeting zusammenzufassen. Er hörte kaum zu, sondern fragte sich wieder, was an diesem Gebäude war. Die Vorbereitungen und Befragungen der Connections ergaben nichts. Niemand schien zu wissen, was für Daten in dieser verdammten Ruine sein sollten. Oder warum sie es jemandem wert waren, seinen Satz zu zahlen.

Zwieblblootz hasste es, blind in einen Job zu gehen. Vor allem, wenn es ein Job in seinem Heimatplex war. Er hätte verstanden, wenn es um einen Siemens-Komplex gehen würde. Aber ein Gebäude in NeoNET City? Letztlich blieb ihnen wenig anderes übrig. Sie hatten den Job akzeptiert, und nur weil er langsam wirklich paranoid wurde, konnte er Cass nicht ihre ersten Erfahrungen verweigern. Das ungute Gefühl blieb. Irgendetwas stank zum Himmel, und vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis der Drek zu dampfen anfing.

Sie gingen nach Sonnenuntergang.

[Nürnberg-Erlangen, NeoNET City, 03.11.2082, 18:30:25 Uhr]

Als sie in Erlangen ankamen, waren die Überreste von NeoNET City deutlich vor dem dunklen Abendhimmel zu sehen. Hier und da brannten ein paar Mülltonnen-Feuer, die die Squatter angezündet hatten. Der ganze Komplex wirkte wie eine Geisterstadt, die nicht mal von Ratten bevölkert wurde. Aus Richtung der Siemens-Komplexe wehte ein undefinierbarer Medizingeruch zu ihnen herüber.

Der Mond verbarg sich hinter der dichten Wolkendecke und gab bei normaler Sicht nicht genügend Licht ab. Zwieblblootz schaltete seine Cyberaugen auf Restlichtverstärkung und bedeutete seiner Begleiterin, das Gleiche zu tun.

Sie folgte der Anweisung, und er konnte sehen, dass sich ihre Lippen lautlos bewegten. „Security“, warnte sie über die gesicherte Verbindung. Er wartete ab. „Drei Mann, leichte Bewaffnung. Westen, bewegen sich nach Süden.“ Mit einer knappen Geste signalisierte er, dass er verstanden hatte. Sie würden weitergehen, wenn die Wachen sich nach Osten wandten.

Zwei Minuten später duckten sie sich in die Schatten der Gebäuderuinen und bewegten sich schnell auf ihr Ziel zu. Der Eindruck einer Geisterstadt wurde immer stärker. Hier waren nicht mal Squatter. Hier war niemand. Warum?

Das Schloss am Zielgebäude war neu. Sah robust aus. Cass fluchte lautlos und zog den Magschlossknacker aus einer ihrer unzähligen Taschen, um sich dann daran zu schaffen zu machen. Die Sekunden dehnten sich ins Unendliche, bis sich die Tür endlich öffnete. Zu lautlos. Zu glatt. Er bedeutete seiner Schülerin, zurückzubleiben, während er sich vorsichtig durch die Tür schob. Nichts. Der Raum war leer. Genau, wie der Schmidt es vorhergesagt hatte. Genaugenommen lief alles viel zu sehr, wie es der Schmidt vorhergesagt hatte.

Er verzog das Gesicht und wartete noch fast eine Minute. Erst dann bedeutete er seiner Begleiterin, dass sie eintreten konnte. Zwieblblootz zog die Pläne, die der Schmidt ihnen überlassen hatte, ins Sichtfeld seiner AR. Neumodischer Schnickschnack. Aber hilfreicher Schnickschnack, wie er zugeben musste. Während er den Plan ansah, kam es ihm vor, als wäre er eine Laborratte, die man in ein Labyrinth gesteckt hatte. Der erste Weg war einfach. Kein zu erwartender Widerstand, keine eventuell zurückgebliebenen Sicherheitsmaßnahmen. Zu einfach.

Der zweite Weg verzeichnete ein gutes Dutzend Kameras. Dazu nicht näher definierte Sicherheitssysteme, die vielleicht noch intakt und aktiv waren. Es war, als hätte jemand den „richtigen“ Weg mit Neon-Overlays ausgeschildert. Zwieblblootz hatte nicht vor, diesen Weg zu nehmen. Der Straßensamurai wandte sich den alten Versorgungsschächten zu. Es würde vielleicht unbequemer werden, aber zumindest war das nicht der Weg, den der Schmidt vorgeschlagen hatte.

Vorsichtig nahm er die Abdeckung des Schachts ab. Das Schaben von Metall auf Plasbeton war fast so laut wie ein Schuss. Er hielt einen Moment inne, um sicherzugehen, dass niemand den Lärm gehört hatte. Cass nahm ihm die Abdeckung ab und legte sie vorsichtig auf den Boden, während er sich in den Schacht zwängte. Glattes, kaltes Metall unter seinen Händen. Kein Staub. Keine Spinnweben. Es war wirklich unheimlich. Der Straßensamurai schlängelte sich vorsichtig vorwärts und tastete den Schacht zentimeterweise ab. Hinter ihm hörte er seine Schülerin, die sich ebenfalls in den Schacht zwängte. Drei Meter Abstand. Ganz so, wie er es ihr beigebracht hatte.

Die Nahtstellen fühlten sich sauber an. Glatt. Als wären sie noch kein Jahr alt, obwohl das Gelände seit fast drei Jahren leer stand. In seinem Nacken richteten sich die Härchen auf. Paranoia, oder stimmte hier wirklich etwas nicht? In seinem Kopf jagten Dutzende Erklärungen herum. Vielleicht hatte ein neuer Schattendoc sich hier niedergelassen und die Sicherheit auf den aktuellen Stand gebracht? Möglich. Forschte die Abteilung unabhängig von der Existenz des Konzerns weiter? Unwahrscheinlich. Der Schacht zog sich endlos, bevor er eine weitere Abdeckung ertastete, die in den Laborkomplex weiter unten mündete.

Er bedeutete Cass, anzuhalten, und machte sich an der Abdeckung zu schaffen. In seinem Kopf plärrte die Paranoia, dass das alles viel zu glatt lief. Es war zu einfach. Selbst für einen solchen Run. Er löste die letzte Schraube, dann fiel die Abdeckung nach unten auf den Boden. Laut. Aber es schien einfach niemanden zu interessieren. Vielleicht war auch niemand da. Wieder hielt er still, wartete ab. Kein Gebell von Crittern. Keine hastigen Schritte der Security. Nichts. Er atmete mit einem leisen Zischen aus und ließ sich dann die drei Meter ins Labor hinunter. Auch hier wirkte alles neu. Er drehte sich auf der Stelle, um sich einen Überblick zu verschaffen. Neueste MedTech, die ein nettes Zusatzeinkommen bringen würde, wenn man sie mitnahm. Nicht, dass sie das könnten. Aber es lohnte, das im Hinterkopf zu behalten.

Über ihm erschien der Kopf seiner Schülerin im Zugang zum Versorgungsschacht. Er nickte ihr zu und machte einen Schritt zur Seite, damit sie sich ebenfalls ins Labor herunterlassen konnte. Er hätte es beinahe nicht bemerkt. Die Fliese, auf die er trat, gab minimal nach. Eine verdammte Druckplatte! Er herrschte Cass an, sie solle bleiben, wo sie war. Für Nettigkeiten war keine Zeit. Seine Modifikationen sprangen an und verliehen ihm mehr Geschwindigkeit, als ein normaler Mensch es sich träumen konnte. Im Bruchteil einer Sekunde registrierte er die dezenten, kreisrunden Öffnungen in der Laborwand. Dann brach die Hölle los.

Es war fast schon ironisch. Zwieblblootz hatte immer geglaubt, dass er im Kugelhagel sterben würde. Er hatte allerdings auch geglaubt, dass er seinen Gegner zumindest sehen könnte. Oder dass es laut sein würde, wie es auf der Straße nun mal war. Von schallgedämpften Selbstschussanlagen in einer verlassenen Laboranlage war nie die Rede gewesen. Die erste Kugel traf ihn in den Bauch und ging durch die Panzerung wie durch weiche Butter. Er ließ sich fallen, beschleunigt durch die Reflexbooster, die er erst vor ein paar Wochen hatte upgraden lassen. Immer noch zu langsam. Die zweite Kugel traf ihn genau zwischen die Augen. Die Cyberware begann unkontrolliert zu agieren. Seine Sporne bohrten sich kreischend in den Boden, die Muskeln kontrahierten und ließen seinen Körper bocken. Dann lag er still. Aus seiner Tasche rollte eine einzelne, goldfarbene Münze und blieb mit dem Bild von drei Drachenaugen nach oben liegen.

Es dauerte lange, bis Cass sich traute, in das Labor zu springen. Sie mied sorgfältig die Stellen, auf die ihr Lehrer getreten war. Die Münze zog ihren Blick auf sich, und sie hob sie auf. Schob sie in eine der Taschen ihres Overalls. Dafür war später noch Zeit. Jetzt war die Frage, ob sie den Run zu Ende bringen sollte oder nicht. Für einen Moment sah sie auf ihren Mentor herunter. Die Tränen würden später kommen. Was würde er wollen? Als sie Geräusche im Wartungsschacht vernahm, traf sie die Entscheidung in Sekunden. Sie lief weiter. Auf sich gestellt.