Shadowrun

Eine Geschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Roadkill

[Brandenburg, nördlich von Cottbus, 05.11.2082, 18:03:52 Uhr]

„Oh Emely, ich sag ja gar nicht, dass wir das Geld nicht gut gebrauchen können, aber eine Familie zu gründen bedeutet eben nicht nur, genug Euros zur Seite zu legen, sondern auch, anzufangen, verantwortungsvoll zu denken und keine so heißen Fahrten zu übernehmen.“ Blip sprach über das direkte Neuralinterface (DNI) ihrer Riggerkontrolle mit ihrer Partnerin. Zugleich streunte die untersetzte, blonde Riggerin um ihren stark modifizierten GMC Grizzly Pick-up, als würde tatsächlich die Gefahr bestehen, dass sie an dem einwandfrei gepflegten Fahrzeug noch in letzter Minute irgendeinen Wartungsmangel entdecken würde. Zumal sie in der früh einsetzenden Abenddämmerung dieses Novembertags eh kaum etwas sah. Hier in der Brandenburger Einöde gab es kein Licht, außer dem ihrer beiden Geländewagen. Die angesprochene Emely „Roadkill“ Borgenmeier saß ihrerseits in einem nicht minder stark angepassten Tata Hotspur und überwachte mit einer leistungsstarken Flugdrohne die Umgebung. Sie antwortete ebenso nur über ihr DNI. Das verhinderte aber nicht, dass Blip im Geiste den wohlbekannten, aufgesetzt schuldbewussten Blick aus Emelys strahlend grünen Augen zu sehen glaubte, als diese sagte: „Ja, ich weiß. Ich wusste halt auch nicht vorher, wie heiß die Sache wird.“ Kurz schwiegen beide, doch dann ergänzte Roadkill: „Aber selbst, wenn ich es gewusst hätte, es geht halt nicht nur ums Geld. Ich schulde ihnen was.“ Erneut herrschte einen kurzen Moment lang Funkstille, bevor die Nachrichtenübertragungen der Riggerin langsamer und zögerlicher fortgesetzt wurden: „Wenn man es genau betrachtet, wäre ich ohne ihre Hilfe in irgendeinem finsteren Loch der AGC gelandet – oder Schlimmeres, und dann hätte ich dich nie kennengelernt, Jen, dann gäbe es erst recht keine Familienplanung.“

Ohne wirklich etwas zu erwidern, seufzte Jennifer „Blip“ Borgenmeier nur resignierend. Sie war die weitaus weniger sture Riggerin und wusste das auch. Es brachte nichts, das hier auszudiskutieren. Inzwischen war es eh zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Den Kunden einfach in der Trostlosigkeit Brandenburgs stehen zu lassen, wäre Gift für den guten Ruf des Überlandexpresses gewesen. Lange warten mussten die beiden auch nicht mehr. Keine zehn Minuten später erschien ein Kampftaxi auf Basis eines alten BMWs und heraus stieg ein schlaksiger Mann. Weder seine Hauer noch der Bürstenhaarschnitt oder die geflickte Panzerjacke ließen ihn wie das wirken, was er sein sollte, ein Magier, doch er stellte sich Blip gegenüber als Merkur vor und das zumindest passte. Der Ork wirkte unruhig und sah sich mit glasigem Blick hektisch um, ehe er drängte, schnell loszufahren. Die blonde Riggerin versuchte, sich nicht von der Nervosität ihres Kunden anstecken zu lassen, und wies ihn ruhig an, in ihren Geländewagen zu steigen, wobei sie ganz nebenbei dessen hervorragende Panzerung erwähnte. Kurz darauf waren sie auch schon unterwegs. Roadkill fuhr voraus und Blip folgte ihr samt Passagier und mit wenig Abstand. Die übliche Taktik, um bei Straßenfallen die Ware nicht zu gefährden.

[Sächsische Schweiz, 05.11.2082, 20:35:02 Uhr]

Ihr Weg führte sie über abgelegene Landstraßen Brandenburgs und schließlich nach Sachsen Richtung tschechischer Grenze; ihr Kunde wollte so schnell wie möglich nach Prag. Wenig überraschend für jemanden, der die Dienste des Überlandexpress in Anspruch nahm, hatte der Ork keine Lust auf eine Grenz- und SIN-Kontrolle. Normalerweise wäre das Risiko dazu abseits der EuroRouten und großen Autobahnen auch überschaubar gewesen, aber nach einigen Terroranschlägen der letzten Tage waren die Polizeibehörden auf beiden Seiten äußerst nervös und jeglicher Grenzverkehr war stark eingeschränkt. Die Riggerinnen hatten sich daher auf eine Route über abgelegene Nebenstraßen durch die Sächsische Schweiz geeinigt. Die Serpentinen würden sie zwar ausbremsen, dafür verirrten sich weder der Bundesgrenzschutz noch seine tschechischen Kollegen hierher.

Roadkills Flugdrohne flog voraus, es war ruhig und Blip informierte Merkur, dass sie gleich die ADL verlassen würden, was diesen aber kaum zu beruhigen schien. Über die Innenkameras ihres Wagens konnte sie die ganze Zeit beobachten, dass die Nervosität des Orks zu keinem Moment abgenommen hatte. Was auch immer er fürchtete, der lange, korrupte Arm des Gesetzes allein war es wohl kaum gewesen.

Blip mochte Serpentinen nicht sonderlich. Sie war eher eine Freundin von Geschwindigkeit, davon, sich jenseits der zweihundert Stundenkilometer waghalsig durch den Verkehr zu schlängeln. Um ihrer Begeisterung über die Schleichfahrt Ausdruck zu verleihen und sich von der Unruhe ihres Kunden etwas abzulenken, schickte sie ihrer Frau ein betontes Gähnen als Nachricht. Emely reagierte prompt: „Jen, wir wissen beide, dass man nicht versehentlich in den Nachrichtenkanal einer DNI-Verbindung gähnen kann.“

Dabei klang sie jedoch eher amüsiert als entrüstet und so war Blips Antwort auch nicht minder gelöst: „Ja – ich wollte mich auch nur deiner Aufmerksamkeit erfreuen.“

„Das ist zwar süß“, gab Roadkill zu, ergänzte aber auch sofort in tadelndem Ton: „Aber meine Aufmerksamkeit sollte vor allem auf der Umgebung liegen – und deine ebenso.“ Blip wusste, dass ihre bessere Hälfte recht hatte, so schnell wollte sie aber diesmal nicht nachgeben und fuhr fort: „Natürlich, ich bin voll auf die Umgebung fixiert.“ Unweigerlich nahm sie über die Sensoren ihres Grizzly die Landschaft wahr. Ein dunkler Laubwald, der sich rechts der alten Straße hügelaufwärts und auf der linken Seite hügelabwärts erstreckte, was Blip entsprechend wenig begeistert beschrieb: „Hier gibt es nun mal nichts außer einer furchtbar schlechten Straße, Abhängen, Bäumen …“ Doch mit einem Mal wurde die gelangweilte Aufzählung von ihrem eigenen lauten Aufschrei durch das DNI unterbrochen. Denn neben Roadkills Tata Hotspur sprang gerade ein halbes Dutzend riesiger, grauer Kreaturen aus dem finsteren Wald. Blip erkannte, dass mehrere von ihnen mindestens vier Arme hatten, und zwei verfügten sogar über riesige Knochensporne. Mangels eines besseren Begriffs schrie Blip also heraus, was sie sah: „MONSTER!“

Adrenalin schoss durch den Körper der Riggerin und fort war jede gelangweilte Müdigkeit. Alles lief rasend schnell ab, in Bruchteilen von Sekunden. Blip bremste ab, fuhr die getarnten Geschütze aus und begann sofort, die albtraumhaften Wesen mit Blei einzudecken. Es war völlig egal, was sie waren oder genau wollten. Diese Monster hatten Roadkills Wagen, den Wagen ihrer Ehefrau, angesprungen und rissen gerade mit reiner Muskelkraft Einzelteile aus dem gepanzerten Tata Hotspur heraus. Es war Blip nicht bewusst, jemals so konzentriert gewesen zu sein, jemals so sehr etwas töten zu wollen wie diese Dinger. Sie registrierte nicht mal, wie Merkur in sich zusammensackte und sich kurz darauf zwei annähernd humanoide Feuersäulen mitten zwischen den grauen Angreifern materialisierten. Viel zu sehr war Blip davon vereinnahmt, sich auf Roadkills Zustand und Rettung zu konzentrieren. Der Wagen ihrer Frau war durch den Überraschungsangriff schwer getroffen worden. Zwar hatte die andere Riggerin die Kontrolle über den Hotspur behalten und war nicht von der Straße abgekommen, doch war sie dabei auch fast zum Stehen gekommen. Eines der vierarmigen Monster hatte das ausgefahrene Maschinengewehr des Tata Hotspur einfach herausgewissen und weggeworfen, während ein anderes seinen Sporn tief in den Motorblock gerammt hatte.

Jennifer brauchte Emelys panische Schreie über das DNI nicht zu hören, um zu wissen, wie schmerzhaft diese Erfahrung sein musste, wenn man über heißes Sim eingeriggt war. Doch ihre Frau war zäh und Blip sah, wie die Räder des Hotspurs durchdrehten, um das Vieh, das mit seinem Sporn in dem Motor steckte, kurz darauf zwischen dem Fahrzeug und dem nächsten Baum zu zerquetschen. Auch Blip selbst hatte Erfolge und zwei der furchterregenden Angreifer sackten kurz hintereinander von Kugeln zersiebt auf dem Boden zusammen. Noch bevor die wütende Riggerin die nächsten beiden Ziele ins Visier nehmen konnte, hatten die Feuergeister diese verbrannt, wobei eine von den beiden brennenden Gestalten während des Kampfes anscheinend selbst verschwunden war. „Halte durch!“, gab Blip in einer Mischung aus Schreien und Flehen über das DNI von sich, während sie versuchte, ihren Pick-up an Roadkills Hotspur vorbeizumanövrieren, um eine freie Schussbahn auf den letzten der Angreifer zu haben. Das Monster hatte soeben mit einem Spornstoß in dessen Kopf den zweiten Feuergeist verdrängt. Das Vieh war mindesten trollgroß und spuckte als Nächstes eine ekelhafte grüne Flüssigkeit auf die Tür des Hotspurs, die ein großes Loch in das Fahrzeug ätzte. Blip feuerte aus beiden Geschützen, sobald sie eine Schussline hatte, doch die grausame Kreatur hatte erneut mit ihrem Sporn zugestoßen, diesmal gezielt in die Fahrerkabine des Hotspurs hinein.

Auf einmal war es Blip, als ob die Zeit um sie herum beschlossen hätte, stehen zu bleiben. Jennifer hörte Emely noch ihren Namen schreien, dann war die Verbindung zu ihr plötzlich abgerissen. Die dauerhafte Nachrichtenübertragung, die beide seit heute Mittag eingerichtet hatten, war einfach verschwunden. Blips Maschinengewehre brachten das Monster zu Fall, noch ehe es sich völlig von dem Hotspur abgewandt hatte, und die Riggerin hörte erst auf zu feuern, als von dem Wesen nur noch ein zerfetzter Haufen blutiger Matsch übrig geblieben war. So schnell, wie sie es noch nie zuvor geschafft hatte, klinkte Blip sich aus, sprang aus ihrem Pick-up und sprintete zu Emelys Hotspur. Sie scherte sich nicht um die Monstereingeweide, durch die sie watete, oder um die Reste der grünen Säure, die sich in ihren Overall fraßen, als sie sich durch das große Loch in der Tür des Geländewagens beugte. Doch als sie in das Innere des Wagens blickte, verließ ihren Körper jede Kraft, jeder Mut, jeder Lebenswille durch einen lauten verzweifelten Schrei. Jennifer sackte über dem toten Körper ihrer Frau zusammen. Emelys strahlend grüne Augen waren wie im Schreck erstarrt noch immer weit aufgerissen, und in ihrer Brust klaffte ein großes Loch, das jedes Leben in ihr sofort ausgelöscht haben musste. Jennifer schrie so laut und verzweifelt, wie ihre Lunge es hergab. Alles um sie herum verschwand mit einem Schlag in absoluter Bedeutungslosigkeit. Unter ihr, in ihren Armen, hielt sie den noch warmen und doch völlig leblosen Körper des einzigen Menschen, der ihr jemals wirklich wichtig gewesen war. Das durfte nicht sein, das konnte nicht sein. Es musste ein Fehler in der Existenz selbst sein. In Jennifers Welt gab es keine Vorstellung der Realität, die ohne Emely hätte existieren können.

Doch es war wahr. Es war so präsent und real, dass man es mit keiner Anstrengung der Welt hätte verleugnen können. Emely „Roadkill“ Borgenmeier war tot. Erst als Blip spürte, wie eine Hand an ihrer Schulter zerrte, kehrten die Zeit und der Rest der Realität ganz vorsichtig zurück zu ihr. Merkur stand hinter ihr und sein Antlitz war nicht mehr nervös, sondern uneingeschränkt angsterfüllt. „Wir müssen hier weg, wir müssen sofort nach Prag!“ Als er Blips erschütterten Ausdruck wohl anscheinend richtig deutete, fand der Magier zu seinem Glück die vielleicht einzig richtigen Worte, um zu der blonden Riggerin durchzudringen: „Wenn wir jetzt hier warten, bekommen sie uns auch und dann war ihr Tod völlig umsonst. Wir müssen nach Prag, dort sind Leute, die uns helfen können, die wissen, was diese Wesen sind und wie man sie bekämpft! Nimm deine tote Freundin mit, aber ich flehe dich um ihrer und unser willen an, wir müssen nach Prag!“

Blip wusste nicht, woher sie die Kraft, den Willen oder auch nur die kognitiven Fähigkeiten dafür nahm, doch sie nickte zu Merkurs Worten. Vorsichtig und behutsam, als würde Emely nur schlafen und dürfe nicht geweckt werden, befreite Jennifer ihren Körper aus dem Hotspur und trug sie zu ihrem Pick-up. Sie legte sie vorsichtig auf die Ladefläche und deckte sie fürsorglich mit einer Decke zu. Dann stieg sie wieder in ihren Grizzly. Auf nach Prag, dort sind Leute, die wissen, wie man diese Wesen bekämpft.