Shadowrun

24.12.2023: Tür 24

Eine Geschichte von Andreas "AAS" Schroth
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Fienchen

[Berlin, 09.11.2082, 03:05:09 Uhr]

Im Radio lief „Antiheld“ von Daemonika, und Fienchen passte das singende Zischen des Schleifsteins dem Rhythmus an, summte mit.

Antiheld. Sie war kein Antiheld. Sie war ein Held. Besser noch: eine Heldin. Eine gottverdammte Walküre, obwohl sie mit der visuellen Darstellung als fettes Weib mit blonden Zöpfen, die in irgendeinem Wagner-Bühnenbild herumstand und sich die Seele aus dem Leib schrie, wenig anfangen konnte (sie war nie in der Oper gewesen und hatte auch nie eine in Trid oder VR „genossen“, nahm aber an, dass Walküren dort so aussehen – jedenfalls, wenn sie nicht von Bugs Bunny dargestellt wurden).

Niemand wusste, was sie war. Am wenigsten sie selbst. Sie war zu klein für eine Riesin, zu „normal“ proportioniert für einen Troll, sie hatte Hörner, aber nur kleine Hauer, war stärker als viele Trollkerle, die das Vierfache an Gewicht auf die Matte brachten – und sie war erfüllt von einer Magie, die sie, wenn sie eine Axt in Händen hielt, erst vollständig machte.

Die Eltern konnte sie nicht fragen – sie hatte keinerlei Erinnerung an sie, an überhaupt nichts, was ihre Kindheit betraf. Sie war einfach „da“. Einfach erwacht, eine Straße in Hamburg hinabgehend, ihre Axt in einem Lederbeutel, die Gewandung der Zeit entsprechend, nicht besonders hungrig, nicht besonders durstig, durchaus nicht orientierungslos, und sie sprach auch nicht in irgendwelchen obskuren ausgestorbenen Dialekten.

Tatsächlich hatte sie nicht mal gemerkt, dass sie keine Erinnerung hatte, bis einer ihrer Co-Runner sie nach einem erfolgreichen Run in ein Gespräch über die jeweilige Vergangenheit und „wo man so herkam“ verwickelt hatte.

Es hatte sie nicht einmal erschreckt.

Fienchen

Sie war eine Urgewalt im Kampf, aber keine Mystikerin. Sie war erfüllt von einer Bestimmung, die sie nie in Zweifel zog (sie verstand auch nicht, warum sich andere so sehr damit beschäftigten, bei ihr und bei sich selbst). Sie trank und rauchte und schiss und putzte sich ab, sie fluchte wie eine Hafennutte, sie mochte Sex und verstand nicht den Aufriss, den andere darum machten, sie war mal verliebt, dann getrennt, dann kam ein Neuer, sie hasste Geschirrspülen und besonders Staubwischen, sie nahm Aufträge an und lieferte, und längst nicht alle Jobs waren glorreich oder ehrenvoll.

Irgendwann – die Jahre vergingen, ihr Körper veränderte sich kaum, ihre Bekanntheit nahm zu, sie ging auf Urlaub nach Berlin und blieb – konnte sie sich ihre Jobs aussuchen, bis es gar keine „Jobs“ mehr waren, sondern Dinge, die sie tat, weil sie einer Gemeinschaft, einem Kiez, Lichtenberg, Berlin, „der Sache“ nutzten, und Berlin sorgte sich im Gegenzug um sie, kleidete und nährte sie.

Sie zahlte keine Miete in der kleinen Hausgemeinschaft, in der sie wohnte. Sie bezahlte nichts für Essen und Trinken in den Pinten, in die sie ging, und wann immer sie es brauchte, standen Tüten mit gespendeten Lebensmitteln vor ihrer Tür.

Sogar Geschirr und Wohnung putzten sich selbst.

Im Gegenzug half sie, wo sie konnte. Und sie konnte viel helfen. Politisch in der Lichtenberger Versammlung und der Livegen, anfangs zudem, indem sie so lange Schläger und Presser von Verbrechensgruppen und Konzernen auf die Fresse gab, bis einfach niemand mehr jemanden schickte.

Ihre Präsenz war genug.

Sie hatte viele Freunde, war bestens integriert in Nachbarschaft und Bezirk, wurde auf der Straße gegrüßt – sie war auch wirklich schwer zu übersehen – und dennoch: Irgendwie spürte sie, dass es zwischen ihr und „den anderen“ eine unsichtbare Kluft gab.

Wenn man nicht genau wusste, was man war, aber man fest spürte, dass man etwas war, war die Frage nach der eigenen Identität letztlich egal.

Sie war Fianna. Fiene. Fienchen.

„Du bist ’ne Alita, weißt du das?“, hatte Umsturz ihr mal im Suff gesagt, bevor er auf ganz andere Arten von Getränken umsteigen musste: „Nur im Kampf, weißte, biste ganz bei dir, ganz voll.“

„Voll, so wie du?“

„Nee, voll ganz. Komplett, meine ich. Alita, weißte, aus dem Manga, wo sie grade ’n Trid draus machen“ – das musste in den frühen 70ern gewesen sein – „die ist so ’n Robo-Girl ohne Erinnerung, aber weißte, gebaut zum Kampf, und nur im Fight versteht sie, was sie ist.“

„Soll das heißen, ich bin ein Robo-Girl? Da kann ich dir gern das Gegenteil beweisen, Absturz.“

„Ey, Umsturz, okay? Aber stimmt schon, heute Absturz-Modus, aktiviert! Aber hey nee, lass mal. Das mit dem Badabumm.“

„Rassist oder was?“

„Nee.“

„Was dann? Haste Angst, ich zerquetsch dich? Oder dass dein Würstchen zu klein für ein großes Mädchen wie mich ist? Dass es sich aus Angst nach innen stülpt? Dass dir zu früh einer abgeht? Dass ich mich unsterblich in dich verliebe, weil du so very wonderful bist? Dass es unsere Geschäftsbeziehung belastet? Dass ich dich nach dem Akt auffresse?“

„Ja.“

„Was davon?“

„Alles davon.“

Fienchen im Trid

Und das war das. Sie hatte sich danach Alita im Trideoplex angesehen, was eine dumme Scheiße. Alles für ’nen dummen Jungen aufgeben, klar. Und der Twist mit Desty Nova (Grundgütiger) war auch absehbar. Aber ihr gefielen sowieso die wenigstens Filme. Außer Tank Girl. Und die Splatterversion von Mulan, die Sol Media mal gemacht hatte. Ein bisschen.

Fiktives lag ihr einfach nicht. Jeder Abend im Sechs-Tief war interessanter als jede Schnulze – und hatte meist sogar bessere Dialoge.

Echtheit war ihr Ding. Es wäre unerträglich für sie, wenn am Ende herauskäme, dass sie selbst nur irgend so ein doofer Charakter in einer zusammengestümperten Story war. „Die Welt ist eine Matrix-Simulation“ und all das.

Sie begutachtete die Klinge im Widerschein der Kerzen und ihrer Arbeitslampe und nickte.

Scharf und nutzlos. Wie sie selbst.

Als die Feinde letzten Dienstag beinahe zeitgleich an verschiedenen Orten der Welt – und Berlins – losschlugen, war sie nicht da. Sie war an keinem jener Orte, an denen schallgedämpfte Waffen zischten, Raketen einschlugen oder diese verdammten Horrorviecher auftauchten, und keiner hatte ein Killerkommando direkt zu ihr geschickt.

Sie hatte irgendwann im Lauf der Woche gescherzt, dass der Feind zu viel Angst vor ihr habe, aber gottlob hatte es im Lärmen der Versammlung keiner gehört (oder jene, die es gehört hatten, waren zu höflich, um sie auszulachen).

Seitdem hielt sie sich bereit.

Kein Trinken. Kein Kiffen. Nicht mal schweres Essen. Askese. Meditation. Ewige Wiederholung von Kampfbewegungen. Gewichte pumpen, bis ihre Haut fließend in Schweiß überging. Schärfen der Axt, immer wieder. Sogar Seelsorge bei den paar Hexen und anderen Seelsorgern, auf deren Meinung sie etwas gab.

Sie war sogar bei Alhazred im Goldenen Apfel gewesen, hatte ihn gefragt, warum eigentlich er, der ja nun auch ziemlich eng mit der neoanarchistischen Szene verwoben war, nicht angegriffen wurde.

„Nun, weil ich natürlich aufseiten der Disianer stehe.“ Und ehe sie aufspringen und ihm seinen grinsenden Schädel vom Körper trennen konnte: „Und auf deiner und jedermanns und keiner Seite ebenso.“

„Das kannst du nicht ernst meinen. Nicht, wenn es um das Ende der Welt geht. Ohne Welt kein Streit, keine Eris.“

„Eris braucht uns nicht. Wenn die Zwietracht auf dieser Welt erlischt, bleiben mehr als genug Metaebenen übrig, die ihrer huldigen.“ Es blitzte listig in seinen Augen: „Wer weiß? Vielleicht streiten sich gerade jetzt die Disianer schon mehr als wir. Vielleicht wegen mir.“

Sie wusste, dass die Selbstverliebtheit des Drakes keine Grenzen kannte und er sich wesentlich wichtiger nahm als vermutlich sogar sein Herr, welcher Drache auch immer das sein mochte.

Ein anderer Drachendiener dachte völlig anders über das nahende Ende:

„Was auch immer du für Unterstützung gegen diese Dis-Pridurki brauchst, lass es mich wissen“, hatte die Drakova gesagt, als Fienchen sie bei einer als Party getarnten Besprechung im Schlosshotel Krasnaya Zvesda traf. Die Begegnung war nur kurz, aber die Vehemenz von Nadjeskas Reaktion hatte Fiene durchaus überrascht. Fast hatte sie gemeint, dass die Augen der Drakova für einen Moment zu Drachenaugen wurden …

Das Fiepen ihres Kommlinks riss Fianna aus ihren Gedanken. Sie griff das mit Punk- und Hello-Puppy-Stickern beklebte Plastikteil und warf den Call auf ein Stück an die Wand gepinnte Videofolie, das ihr als Computermonitor, Fernseher und Notizzettel diente.

Kein Bild, unbekannte Nummer, Stimmverzerrer, aber die Begrüßungsformel identifizierte den Anrufer als Snow-WT aus Hamburg:

„Dem Niddhög zum Gruße, Kleines. Dein Lieblingsschmidt ist dran.“

„Kak dela, Makkala? Schön, dass es dich noch gibt. Was gibt’s?“

„Schön, dich zu hören. Hatte befürchtet, du hättest dich schon aufgeraucht beim Versuch, irgendeinen Schwachkopf zu retten.“ Fianna schluckte. „Aber das lässt sich nachholen: Hier geht grad alles zum Teufel, deshalb schick ich dir ein Paket plus Begleitung für den Pastor.“

Snow-WT musste nicht mal fragen, ob Fienchen den Job annehmen würde, denn im Grunde war es ja kein Job. Es war etwas, das getan werden musste, also würde sie es tun.

Die Domino-Steine fielen. Alles lief nach seinem vorgezeichneten Plan.

Das Ende war unausweichlich.