Kurzgeschichte: "Morgen kommt der Weihnachtsmann"
Morgen kommt der Weihnachtsmann
Gelsenkirchen – Anonymer Wohnblock – Zweizimmerapartment
Das Komm piept.
Schmidt ist am anderen Ende. Draußen geht die Welt unter und das an deinem persönlichen Feiertag, dem Tag, an dem du dir geschworen hast, nur noch aus dem Fenster zu schauen und die Vergangenheit zu begraben.
Es piept weiter.
Du greifst dir ein Plätzchen vom Pappteller, der noch warm ist. Soykeks mit Zimtapfelgeschmack und schreiend buntem Zuckerüberzug. Der Fooddesigner hatte wohl eine traurige Kindheit, ohne Weihnachten und Adventszeit, denn einen echten Keks oder Zimtapfel hat er nie probiert. Selbst mit Geschmacksverstärkern sollte mehr drin sein. Deine Gedanken wandern zu selbstgebackenen Keksen und lang zurückliegenden Jobs.
Schmidt gibt nicht auf.
Viele Auftraggeber hast du nicht mehr. Andere machen jetzt deinen Job: Elfen, Zwerge, Ki-Adepten und AR-Drachen. Jobs, für die du jahrelang der gefragte Spezialist warst. Nur Schmidt, der Elf mit dem grünen Anzug, ist dir noch geblieben. Du hebst ab.
„Claus hier.“
„Na endlich. Ausgeschlafen?“
„Ich habe Feiertag“, entgegnest du.
„Und ich habe einen besseren Vorschlag. Ich habe einen Job für dich. Du bist genau der Richtige. Vielleicht brauchst du ein Team, aber du bist auf jeden Fall dabei. Ich schicke dir die Daten.“
Kurz darauf füllt sich dein Postfach.
Eine Shopping-Mall in Oberhausen. Sternförmiger Grundriss, modernes Design, neu errichtet. Eine schneeweiße Fassade ragt fünf Stockwerke auf. Bilder von Innen zeigen helle, großzügige Gänge. Das Weiß setzt sich drinnen fort, mit Akzenten in Gold. Normale Geschäfte im Keller und Erdgeschoss, nach oben hin immer teurer. Und mit eigenem U-Bahnanschluss.
Schmidt hat aber noch mehr ausgegraben. In der Mall gibt es einige Bereiche in der Kategorie „Technik und Verwaltung“, die nicht näher beschrieben sind. Ein paar Lagerräume sind keinen Geschäften direkt zugeordnet. Und der Komplex hat sechs Kellergeschosse, die offiziell außer Technik, Lager, ein paar Geschäften und der U-Bahnhaltestelle keine Funktion zu haben scheinen.
Eröffnung der Mall wird am 1.12.2080 sein. Bis 24.12. können alle Bürger hier den neuen Glanz bewundern und shoppen gehen. Für die, die sich das nicht leisten können, ist ein großer Weihnachtsmarkt geplant, mit allem was dazu gehört. Im Zentrum der Mall soll es auch einen Märchenwald geben, wahrscheinlich mit einer bunten Mischung aus deutschen, eurasischen und indianischen Märchenfiguren, die nun alle Weihnachten feiern müssen, egal ob sie wollen oder nicht. Aber das ist ja schon die letzten 100 Jahre egal.
Die mitgelieferte ID ist wasserdicht und kommt mit einem passenden Arbeitsvertrag. Keine festen Arbeitszeiten aber mindestens zwölf Stunden Präsenzpflicht. Die Dienstkleidung ist auch genau vorgeschrieben. Roter Mantel, weißer Saum. Ein weißer Rauschebart. Du wühlst dich durch die dichten Haare an deinem Kinn. Keine Plastikmatte für dich!
Ein Blick auf die Uhr. Mittwoch, der 29.11.2078 6:12. Zeit für ein wenig Fußarbeit vor Ort.
Am selben Tag
Die neue Stern-Mall ragt vor dir in die Höhe, weiß, angestrahlt mit festlicher Beleuchtung. Verzierungen mit Kugeln und Tannenzweigen, natürlich künstlich, verschönern die Eingänge. Und: Es schneit. Zumindest in der AR.
Zwei Jungs vom Sicherheitsdienst stehen am Eingang. Schicke neue Uniformen in den Farben der Mall. Und Taser.
Du schlägst den Kragen hoch und stapfst auf die Beiden zu. „Eröffnung ist erst übermorgen.“ Du winkst mit deinem neuen Mitarbeiterausweis und die Türen öffnen sich für dich.
Handwerker und Drohnen basteln an allen Ecken, Angestellte räumen Regale ein oder kämpfen mit der Weihnachts-AR ihrer Geschäfte. Eine Gruppe Elfen – Weihnachtselfen – erhalten eine Einweisung von ihrem Oberelfen. Ein Gebäuderigger diskutiert mit einem Sicherheitsmann über die Bereiche, in denen die Engelsdrohnen über dem mächtigen Mittelbereich schweben dürfen.
Du wirfst den Kopf in den Nacken. Über vier Ebenen flutet das Licht durch das Atrium in der Mitte des Gebäudes, von der aus die fünf Strahlen des Sterns weggehen, vollgefüllt mit Geschäften und Möglichkeiten, Geld auszugeben.
Du stehst auf einem Glasboden, der gerade zur Eisbahn präpariert wird. Unter dir geht die Mall weiter bis tief zur U-Bahnstation.
Kurz Inspizierst du deinen Arbeitsbereich: trittst durch die Tür an der Rückseite der Bühne und gelangst so auf schnellstem Wege zu deinem Podest mit Sessel. In deinem Sichtfeld erscheint ein großes Geschichtsbuch, in dem Weihnachtsgeschichten bereitstehen. Als ob du das benötigst. Wie oft bist du schon in diese Rolle geschlüpft? Wie viele haben den gutmütigen Kerl mit Bart und Mantel als Teil des Hintergrunds wahrgenommen ohne ihn wirklich zu bemerken?
Wie praktisch, der Sessel steht direkt auf einem Stromanschluss. Du platzierst das kleine Kommgerät unter dem Sessel und schließt es an.
„Sabrina, bis du da?“
„Ja, geht los. Signal kommt gerade rein.“
Einen Moment später hast du ein Bild auf der Bildverbindung, die aussieht wie der Blick durch Facettenaugen. Die einfachen Sensoren der hunderten Dekodrohnen liefern ein gebrochenes Bild der gesamten Mall. Nach und nach stellt Sabrina es schärfer. Überwachung steht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Rigger auf eine der Drohnen setzt und das Signal bemerkt, ist minimal. „Läuft.“
Beiläufig wartest du auf eine Gelegenheit und fängst eine der Drohnen. Dieser kleine Engel wird die Nacht auf einer ganz besonderen Wolke in Gelsenkirchen verbringen und morgen über sich hinauswachsen. Erzengelstyle.
Als letztes schaust du dir noch den Laden selbst an. Da haben die sich doch tatsächlich im Schutz der Mall eine A-Handelsniederlassung hinbauen lassen mit entsprechendem Zertifikatslogo auf der Tür. Die Tür ist zu Drinnen sind ein paar Anzugträger dabei, Technik zu prüfen. O.k., passt.
Einmal werdet ihr noch wach
Sabrina hat den Engel gemoddet. Er ruht schon in einer Geschenkpackung im Sack. Feile holt gerade die eingeschweißte Predator aus dem Ultraschallbad und verpackt sie in ein weiteres Geschenk. Kuddel mault über seine Servicekleidung und dass er keine Knarre mitnehmen darf.
Du erinnerst ihn: „Erstens wird nicht geballert. Und zweitens wird nicht geballert. Die Predator ist nur als Meinungsverstärker am Start. Die haben da an Sensoren alles, was du dir vorstellen kannst. Du kommst damit nicht rein.“
Kuddel mault noch ein wenig, fummelt aber weiter den Magschloßknacker in den Akkuschrauber rein, der ihm den Weg in den Servicebereich öffnen wird.
Sabrina meldet sich. „Die haben gerade das System hochgefahren, testweise. Wir müssen nur abwarten, bis es morgen richtig in Betrieb ist. Dann klinkt sich der kleine Engel direkt ein. Kuddel bekommt von mir das Signal: Die Tür ist dann durch deren Netzwerk nicht mehr überwacht, nur noch über das Standardzeug der Mall.“
„Was genug sein könnte!“
„Feiles Wunderwerk wird das schon richten.“
„Und am 24.12. geht der Weihnachtsmann mal dienstlich pinkeln. Job erledigt.“
„Genau“.
Der Plan steht. Du hoffst, dass die sich am Eröffnungstag an ihren Plan halten. Eine gut eingespielte Choreographie.
Dann muss das System nur noch überwacht und am Leben gehalten werden. Bis der Jackpot voll ist. Wer weiß, vielleicht könnt ihr die Backdoor danach noch jemandem weiterverkaufen. Ob andere Teams sich auch schon warmlaufen?
Du kratzt dich am Bart. Dass der Grundriss so viele ungekennzeichnete Stellen hat, macht dich nervös. Was die da unten noch alles haben? Da könnte die Black-OPS-Zentrale der MET 2000 untergebracht sein und keiner würde es merken. Du wischst die Gedanken zur Seite. Noch mal kurz aufs Ohr hauen.
Wenig später
Schnee! Kein AR-Effekt sondern echtes, gefrorenes Wasser. Das hast du seit dem Job in Russland 2060 nicht mehr gesehen. Nun ist 2080 und die Kids stehen mit offenem Mund da, während sie die Matrix nach einer Erklärung für das Phänomen durchsuchen.
Die Schneekanonen in der Fassade schwenken hin und her und verteilen ihre Pracht. Ob die staunenden Kids wissen, dass die Lafetten originales Kriegsspielzeug von Ruhrmetall sind und ohne weiteres mit Miniguns bestückt werden können?
Nach dem 24. Dezember kann der Laden jedenfalls locker zur Festung umgebaut werden. Bis dahin aber gibt es Arbeit zu erledigen. Du schulterst deinen Sack, schwer bepackt mit Überraschungen, und begibst dich zu deinem Arbeitsplatz. „Hohohoho!“