Shadowrun

06.12.2023: Tür 6

Eine Geschichte von Frank Plenert
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Snow-WT

[Hamburg-Wandsbek, 04.11.2082]

Snow-WT stand am Fenster ihres Arbeitszimmers und schaute in den Garten. Die kleine, gepflegte Anlage hatte leider keinen alten Baumbestand mehr, dank der Schwarzen Flut. Dennoch mochten die meisten Bäume hier so alt sein wie sie. Dazwischen konnte man sieben kleine Haufen sehen, dahinter eine Gruppe von sieben rotbemützten Zwergen. Sie lächelte. Eine Anspielung von Paul auf ihren Straßennamen. Paul, ihr Hausmeister und Mädchen für alles, kümmerte sich um solche Details. Auch um frische rote Tulpen in der Vase auf dem Fensterbrett, direkt vom Hafen. Im Grunde war eigenes Personal nicht ihr Stil, aber Paul war eine Ausnahme. Sie hatte in München mit ihm zu tun gehabt, in ihren wilden Zeiten. Er war dann Schmuggler geworden, hatte sich aber mit den Falschen angelegt. Sie hatte ihn nie gefragt, was genau geschehen war, aber sie brachte ihn nach Hamburg, als er um Hilfe bat. Und er war nicht wieder ausgezogen, machte sich nützlich und arbeitete als Taxifahrer in der Hansestadt. Sie wandte sich wieder ihrem Arbeitsplatz zu, einem modernen Schreibtisch, weiß und ergonomisch. Ein Dutzend AROs schwebten über der leeren Arbeitsfläche, spiegelten sich darin. „Was ist nur los?“, fragte sie sich zum wiederholten Male. Stromausfälle im Norden der ADL, Anschläge und Explosionen in allen großen Städten der ADL, sogar weltweit. Als Technomancerin spürte sie die Erschütterungen in der Matrix, die Unruhe ihrer Nutzer. Aber auch persönlich machte sie sich Sorgen. Der Newsfeed zu ihrem Kontakt in Budapest, Dal: abgebrochen. Und das Gerücht einer Serie von Terroranschlägen machte die Runde. Ein Blick wanderte zu ihrem Entschlüsselungsjob, den ihr Sprite namens Enigma für sie durchführte. Eine Datei von Dal, irgendwas bezüglich Terror und Verbindungen zu S-K. Sie war keine Deckerin mehr, aber als Enthüllungsjournalistin nutzte sie noch immer die Resonanz. Dal war wegen des Fundes ganz aufgeregt gewesen. Sie meinte, dass sie sich die Daten unbedingt anschauen solle. Und sich es dann noch mal wegen der Einladung überlegen, zu diesem Datennetzwerk. Graue Zelle. Klang eher nach einer Terrororganisation. Ihre losen Verbindungen zur Sprawlguerilla reichten ihr eigentlich schon. Verschwörungstheorien hatten wenig Platz in ihrem Leben. Obwohl Cornelia ihr auch wegen der Sache in den Ohren lag und sich wohl auch dieser Gruppe angeschlossen hatte. Immer die Gratwanderung zwischen Information und Involviertheit.

Ihr Kommlink piepte. Cornelia versuchte, sie zu erreichen. Außerdem hatte sie in den letzten fünf Minuten offensichtlich ein Dutzend Nachrichten an sie abgesetzt. Snow-WT nahm den Anruf an. Cornelia überfiel sie sofort, ohne Gruß oder nur ein „Hallo“. „Gut, dass du noch da bist! Hast du die Dateien aus Budapest bekommen? Ist Paul da? Schnapp dir deine Sachen, du verreist! Wir sind auf dem Weg. Schnapp dir deine Waffen, wirf dir eine Schutzweste über. Sag Paul, er soll das auch machen. Und sichere all deine Daten, vor allem die aus Budapest!“

Sie standen in der Garage. Snow-WT fühlte sich nicht wohl. Formangepasste Panzerung hin oder her, der schwere gefütterte Mantel drückte ihr die Beretta im Schulterholster unangenehm in die Rippen. An der Wand lehnend, den Rucksack zu ihren Füßen, beobachtete sie Paul. Oder besser Edelweiß, hatte er sich doch in den Schmuggler zurückverwandelt, der er in München gewesen war. Es trug die Gebirgsjägeruniform, darüber eine taktische Weste mit allerlei Kram. Sogar sein Seil hatte er dabei. Alte Gewohnheiten. An den BMW gelehnt überprüfte er gerade seine dritte Waffe, ein Benelli-Jagdgewehr. Eine Automatikschrotflinte und eine Maschinenpistole lagen bereits überprüft auf der Motorhaube des Sportwagens.

SnowWT

Draußen hielt ein Fahrzeug. „Sie sind da“, verkündete Snow-WT nach einem kurzen Blick auf die Kamerafeeds. Paul öffnete das Tor und ein dunkelgrauer Transporter kam in Sicht, direkt vor der Einfahrt. Cornelia stieg gerade aus. Im gleichen Moment spürte Snow-WT, wie sich die Signale der Matrix veränderten und ein starkes Rauschen in ihren Ohren erzeugte. „Vorsicht! Wir werden gestört. Da ist was im Busch!“, rief sie und streckte ihre Sinne nach der Resonanz aus, um die Quelle zu finden. Es waren drei. In Wellen schütteten sie weißen Nebel in die Matrix. „Sie sind auf allen Seiten!“ Schnell markierte sie die Punkte auf einer Karte und sandte diese an Paul und Cornelia, während sie versuchte, den Link zu den beiden durch das Rauschen aufrechtzuerhalten. Paul fluchte und ging mit der Waffe in Deckung, während Cornelia winkte. „Kommt zum Transporter! Wir müssen hier weg. Ich erklär es euch auf dem Weg“, rief sie Snow-WT zu. Diese setzte sich in Bewegung, als sie auf dem Kamerafeed etwas sah. Eine Gestalt, wie ein unbehaarter, riesiger Gorilla, näherte sich dem Fahrzeug von Cornelia. „Achtung, hinter euch!“, schrie sie und deutete in die Richtung. Die Schiebetür des Transporters flog auf und Klabauter sprang heraus, Cornelias Freund. Der Söldner trug volle Kampfmontur und eröffnete sofort das Feuer aus seiner HK auf die Kreatur. „Ruf das Back-up-Team!“, rief er Cornelia zu. Paul zögerte nicht lange, legte an und feuerte zwei Großkalibergeschosse aus seinem Benelli in den Kopf des Wesens. Die Wirkung war erschreckend gering. Zeitgleich schlugen Geschosse in den Transporter und Cornelia ein. Sie verschwand mit einem Schrei in einer Blutwolke hinter der Fahrertür. Snow-WT stand unschlüssig da. Sie hatte keinen Plan, zog aber ihre Waffe. Weitere Schreckensgestalten, Chimären mit deformierten Körpern, Klauen und blitzenden Zähnen, kamen von mehreren Seiten auf sie zu. Während Paul und Klabauter um sich schossen, was ihre Waffen hergaben, rannte Snow-WT los, zu Cornelia. Sie feuerte dabei ungezielt auf die sich nähernden Kreaturen und erreichte die Fahrertür. Der feindliche Schütze hatte das Feuer eingestellt. Aus der Nähe klangen plötzlich Schüsse aus verschiedenen Waffen an ihr Ohr. Das Unterstützungsteam griff wohl ein. Cornelia lag getroffen auf dem Fahrersitz. Ein Schuss hatte sich unterhalb ihrer Panzerweste in ihren Unterleib gebohrt. Blut sprudelte stark zwischen ihren Fingern, die sie sich auf die Leiste presste. „Ihr müsst weg von hier! Es passiert überall. Die Graue Zelle wusste es. Das Gerede der Anarchisten ist wahr. Ihr müsst nach Berlin, dort formiert sich der Widerstand. Du musst die Daten dorthin bringen, die aus Budapest. Geht! Flieht! Ihr könnt sie nicht besiegen!“ Cornelia schaute Snow-WT mit festem Blick an. „Ich kann dich nicht zurücklassen, du brauchst Hilfe.“ – „Warum ich?“ – „Was ist hier los?“ All dies lag in dem Blick, den Snow-WT erwiderte, aber auch die Antworten. Ohne ein weiteres Wort nickte sie. Man hatte ihr mehr als einmal Empathielosigkeit vorgeworfen, aber es ermöglichte ihr jetzt einige schnelle, rationale Entscheidungen. Der Transporter qualmte bereits aus dem Armaturenbrett. Cornelia würde in einer Minute so viel Blut verloren haben, dass sie ohne einen Notarzt verloren war. Und ein Notarzt war da, wo sie nun hingehen würde, nicht verfügbar. Hoffentlich schaffte es ihre Rückendeckung rechtzeitig. „Zum BMW, wir fliehen“, sandte sie als Botschaft an Paul und Klabauter. Dann rannte sie los. Kugeln folgten ihr. Im Augenwinkel sah sie einen Mann mit langem Mantel. Ein seltsames Leuchten ging von ihm aus. Er hatte ein Sturmgewehr im Anschlag. Nach der Salve auf sie machte er eine befehlende Bewegung und drei der Chimären wechselten die Richtung, um sie abzufangen. Snow-WT lief schneller. Paul tauchte neben ihr auf, legte auf den Mann an und schoss. Dann wurde das Feuer erwidert. Sie hörte Paul aufstöhnen, als er getroffen wurde. Dann erreichte sie die Garage. Paul war bei ihr und riss die Fahrertür auf. Snow-WT schnappte ihren Rucksack, warf sich auf den Beifahrersitz und ihr Zeug auf den Rücksitz. Dann schaute sie sich um. „Klabauter, komm hier rüber!“ Die Chimären der zweiten Reihe stiegen gerade über die Leichen der Bestien, die Paul und Klabauter erschossen hatten. Aber Klabauter war in den Transporter gestiegen. „Ich muss Conni holen!“, rief er. Dann packte ihn der stachelbewehrte Arm einer Bestie, die auf das Dach des Wagens gesprungen war und das Blech mit Leichtigkeit durchdrungen hatte. Klabauters Schreie vermischten sich mit denen von Cornelia, als diese ebenfalls von einer Chimäre am Bein aus dem Wagen gezerrt wurde. Snow-WT schloss die Augen, als die Chimäre einen riesigen Rachen aufriss.

Der BMW beschleunigte aus der Garage heraus. Paul rammte eine Chimäre, umfuhr dann geschickt zwei weitere. Klauen kratzten über das Metall der Außenhaut des Wagens, aber die verdeckte Panzerung hielt stand. Auch als Geschosse die Karosserie trafen. Paul bog in den Fußweg zum Fleet ein. Hier war niemand. Der Feind hatte diesen Fluchtweg offensichtlich nicht in Betracht gezogen, war durch das Back-up-Team von Cornelia beschäftigt worden.

Paul beschleunigte den Wagen in eine ungewisse Zukunft.