Eine Geschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Waldläufer
[Badisch-Pfalz, bei Achern, 06.11.2082, 21:14:56 Uhr]
Ein einzelner, aufgesetzter Schuss durch den Kopf, dann sackte die Frau, die sie nur als Waldläufer kannten, vor Emanuel in sich zusammen. Hätte sein Bruder Leon das Opfer nicht an der Schulter zu Boden gedrückt und festgehalten, wäre ihr Körper wohl nach hinten gefallen. „Herrgott, Emanuel, Glückwunsch! War doch gar nicht so wild, und endlich keine Jungfrau mehr!“, feixte Leon und klopfte seinem gerade mal achtzehnjährigen Bruder gegen die Schulter. Leon war fast zwölf Jahre älter und hatte als Söldner im Aztlanisch-Amazonischen Krieg seine vermeintliche Unschuld verloren. Wenn Emanuel in den Schatten arbeiten wollte, musste er auch für die Drecksarbeit bereit sein. Wobei die eigentliche Drecksarbeit erst noch kommen würde. Achtlos stieß Leon den leblosen Körper zu Boden und ging zu ihrem Pick-up, während er sich die dämliche Latexmaske vom Gesicht zog und, ohne auf seinen Bruder zu achten, weitersprach: „Ich hol das Zeug zum Feuermachen und zwei Klappspaten, du such schon mal die Kugel.“ Der Ältere wusste, was er tat. Zwar war die Waffe nicht registriert und eine tote Runnerin am Rande des Schwarzwalds würde eh kein Schwein interessieren, aber wer in den Schatten überleben will, geht immer zu zweihundert Prozent sicher. Das bedeutete, die Leiche verbrennen, die Knochen vergraben und auch kein Projektil zurücklassen. Normalerweise hätte sich Leon mit der Leiche bei dem Ghul gemeldet, den er in München kannte, aber bei den ganzen Abriegelungen und Polizeikontrollen der letzten Tage wollte er nicht mit einer Leiche auf der Ladefläche umherfahren. Weniger routiniert als im Umgang mit Toten war Leon jedoch im Umgang mit Lebenden, selbst dann, wenn sie mit ihn verwandt waren.
Emanuels Finger zitterten noch immer. Trotz der Handschuhe waren sie klamm und kalt. Ihm war so unglaublich schlecht. Sein Magen rumorte und krampfte. Das Einzige, was verhinderte, dass er sich an Ort und Stelle übergab, war, dass sich seine Speiseröhre noch mehr verkrampfte als sein Magen. Er hatte sie umgebracht. Emanuel hatte die Frau namens Waldläufer umgebracht. Nicht aus Notwehr, Hass oder irgendeinem Ehrgefühl heraus. Sondern zum Teil, weil er damit in einer Nacht mehr verdiente als seine wenigen Klassenkameraden, die das Glück hatten, eine Ausbildung bei einem der großen Konzerne machen zu können, in einem Jahr bekommen würden. Hauptsächlich aber, weil sein Bruder es so wollte. Leon hatte die ganze Zeit betont, dass sie eh schon tot sei. „Nicht die Kugel oder der Söldner, der sie abfeuert, tötet sie, sondern der Geldsack, der das Kopfgeld aussetzt. Wenn wir’s nicht tun, tut’s ein anderer.“ Das hatte Emanuels Bruder bei der Planung dieser sogenannten Wetwork immer wieder betont. Auch dass es nach dem ersten Mal leichter werden würde, wenn er keine Jungfrau mehr wäre, hatte Leon gesagt. Doch all diese Weisheiten halfen dem jungen Mann nicht. Stattdessen musste er an das freundliche, helle Lachen von Waldläufer denken, mit der sie ihre eigenen, düsteren Witze quittierte. Sie hatte einen sympathischen, ehrlichen und fast fürsorglichen Eindruck auf Emanuel gemacht. Ihm war, als hätte auch sie ihn gemocht, auch wenn er auf Leons Anweisung hin den ganzen Tag über fast nichts gesagt hatte. Sein großer Bruder hatte gemeint, gute Lügen sind nah an der Wahrheit. Sie waren mit gefälschten Gesichtern und anderen Namen über einen Vermittler an Waldläufer herangetreten. Leon hatte ihr gesagt, dass er seinen jüngeren Bruder zur Jagd mitnehmen wollte, etwas Besonderes zu erlegen, damit er erwachsen wird, dass sie aber einen ortskundigen Führer wollten. Dafür kassierten zwar sowohl der Vermittler als auch Waldläufer, aber es ersparte ein mühseliges Aufspüren und Leons Kontakt, der Geldsack, der für ihren Tod bezahlte, wollte, dass es schnell geschieht.
Jetzt war Waldläufer tot. Leon hatte sie im Niemandsland mittels einer Gasgranate voll Neuro-Stun X erst betäubt, dann gefesselt und geknebelt. Anstatt sie gleich zu erschießen, bestand der Ältere darauf, dass sein Bruder ihr in die Augen sah, während er abdrückte. Wahrscheinlich würde Emanuel diesen Blick nie vergessen können. Waldläufers graugrüne Augen, die ihn mit einer Mischung aus Verzweiflung, Wut und Flehen anstarrten. Der Blick eines Menschen, der sich krampfhaft an der Hoffnung auf einen Rest Empathie in seinem Mörder festhielt, bis es zu spät war. Er wollte eigentlich gar nicht mehr abdrücken in diesem Moment. Was waren zwölftausend Euro schon für das Leben eines Menschen, doch Leon hatte seinen Bruder immer wieder angeherrscht: „Mach endlich, verdammt, es ist scheiße kalt“, „Herrgott, Emanuel, ihr Tod ist unvermeidlich!“ und „Sei verdammt noch mal nicht so ein Weichei, Emanuel, beweis mir endlich, dass du ein echter Mann bist!“ Dann hatte Emanuel auf einmal abgedrückt. Es war schon absurd, wofür Menschen einander umbringen. Die einen tun es aus Furcht, andere aus Eifersucht, viele für Geld. Emanuel tat es vor allem für die Anerkennung des Menschen, der ihm mehr ein Vater war als ihr verschwundener Erzeuger. Jetzt war er ein Mörder und es fühlte sich ganz und gar nicht erwachsener, besser oder männlicher an, sondern einfach nur unbeschreiblich furchtbar. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich seine Unschuld verloren hatte. Niemals mehr würde er frei sein von Schuld. Er könnte nicht mehr die Augen schließen und sich der Reinheit seines Gewissens sicher sein, nie mehr. Ein elementarer Teil seiner selbst war gerade zerbrochen, mehr noch, er selbst hatte ihn zerstört und es war wahrscheinlich der bessere Teil von ihm gewesen. Die Erkenntnis trieb ihm die Tränen in die Augen. Ungehindert rollten sie in dicken Tropfen über sein Gesicht.
„Herrgott, Emanuel, heul nicht rum! Lass nicht schon wieder die Schwuchtel raushängen und beweg dich! Du sollst die Kugel suchen! Wir haben ja nicht die ganze Nacht!“ Leons zorniger Ausruf riss Emanuel aus seiner Schockstarre. Er blickte zu seinem älteren Bruder, der, beladen mit Benzinkanister und Klappspaten, alles andere als stolz wirkte, nur genervt, wütend fast. Dieser Mensch, für den er gerade die Unschuld seiner Seele geopfert hatte, war nur genervt davon, dass er zwischen Matsch und Blut nicht nach einem kleinen Metallstück suchte. Zum zweiten Mal in viel zu kurzer Zeit zerbrach etwas Wichtiges in dem Teenager: das Bild, das er von seinem Bruder gehabt hatte. Ganz gleich, was er tat, selbst wenn er für ihn mordete, er würde niemals seine Anerkennung erhalten. Emanuel ließ die Waffe fallen, drehte seinem Bruder den Rücken zu und rannte davon. Die wütenden, klagenden und verhöhnenden Dinge, die ihm Leon in einer Mischung aus Unglauben und Zorn hinterherrief, verhallten in der Nacht. Doch Emanuel rannte einfach nur davon. Für Waldläufer war es zu spät, aber vielleicht konnte er wenigstens noch die traurigen Reste seiner selbst retten.