Shadowrun

Eine Geschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Ortan

[Freiburg-Mitte, Einsatzfahrzeug des LKA Schwarzwald, 04.11.2082, 10:13:46 Uhr]

„Okay, Männer, Frauen, hört zu.“ Die trollische Hauptkommissarin Bernadette Grünheim hielt in ihrer Hand ihr Einsatzkommlink, das den Grundriss des beliebten Freiburger Brauhauses „Hopfenquell“ zeigte. Sie sprach mit deutlich mehr Nachdruck und Schärfe, als sie es außerhalb von solch brisanten Einsätzen tat, und ihr Team wusste, jetzt war der Moment, um aufmerksam zuzuhören, denn es gab keinen Plausch, sondern strikte Befehle. „Die Zielperson ist der Wirt des Lokals Emanuel Schäfer-Gungel, auch bekannt unter dem Alias Ortan. Er wird verdächtigt, in seinem Keller illegale und teilweise militärische Waffen, Spezialausrüstung und Sprengstoffe zu lagern sowie mit diesen zu handeln. Einige seiner besten Kunden sind württembergische Extremisten.“ Sie machte eine kurze dramatische Pause, in der sie jedem aus ihrem Team, sechs Trolle, vier Orks und ein Norm, nacheinander tief in die Augen sah, um sich weiterhin ihrer uneingeschränkten Aufmerksamkeit zu vergewissern. „Die Observation hat ergeben, dass sich Schäfer-Gungel aktuell in seinem abgeschirmten Keller aufhält. Trotz seines hohen Alters gilt er als kampferfahren und vor allem als bestens bewaffnet. Oberkommissar Schmitz wird versuchen, ihn mittels magischer Projektion unter Zuhilfenahme eines beschworenen Wesens zur widerstandslosen Festnahme zu bewegen. Sollte das jedoch scheitern, gilt hier: Eigenschutz ist oberstes Gebot! Ich werde keine Risiken zugunsten des Verdächtigen eingehen. Wenn er sich mit Waffengewalt zur Wehr setzt, erdulde ich eher den Papierkram, dass er mit den Füßen voraus den Ort verlässt, als das einer von uns das tut, ist das klar?“ Das verlangte Echo kam sofort aus elf Kehlen: „Klar!“

Darauf setzte sich einer der Trolle, Oberkommissar Hennes Schmitz, auf die Kante der Ladeluke des Einsatzfahrzeugs. Er nickte seiner Vorgesetzten nochmals kurz zu, dann sackte der für einen Troll schon fast schmächtige Körper in sich zusammen. Schmitz’ astrale Gestalt verließ seine physische Hülle und er sah neben sich den zuvor herbeigerufenen Geist des Menschen, der geduldig auf die Erfüllung der vereinbarten Dienste wartete.

Brauhaus Untergeschoss

[Freiburg-Mitte, Keller des Brauhauses „Hopfenquell“, 04.11.2082, 10:15:07 Uhr]

Der Hermetiker brauchte kurz, um sich zu orientieren, fand aber schnell das Brauhaus. Das Einsatzteam hatte gerade so im Sichtschatten des gegenüberliegenden Gebäudes geparkt. Auch innerhalb des Schankhauses gelang es ihm dank der Grundrissstudie, die er sich zuvor eingeprägt hatte, rasch den Keller zu finden. Etwas schwieriger hingegen war es, die Zielperson zu entdecken, doch da es nur eine Aura in den Kellerräumen gab, die deutlich größer als eine Ratte war, gelang auch das zügig.

Der alte trollische Schieber Ortan war gerade dabei, eine Packung panzerbrechender Sturmgewehrmunition zu prüfen, als er bemerkte, wie hinter ihm ein Geist materialisierte. Seine Reflexe waren noch gut genug, um den schweren Revolver von der Werkbank vor ihm zu greifen, herumzuwirbeln und auf den Geist anzulegen. Das Wesen hatte aus dem Staub und Dreck der Umgebung eine Gestalt angenommen, die an einen grau-blauen Troll in einer Toga erinnerte. Ortan zögerte, sofort abzudrücken, denn neben dem Geist war die halb durchsichtige Gestalt eines manifestierten Magiers in Polizeiuniform zu sehen, der beschwichtigend die Hände hob. „Ich bin hier, um dich zu retten, Ortan“, flehte Schmitz ihn an, und nachdem er sicher war, dass der Schieber sich dazu entschlossen hatte, erst einmal zuzuhören, fuhr er eilig fort: „Wir haben gemeinsame Freunde, Ortan, ich erkläre dir alles später. Jetzt ist nur wichtig, dass meine Kollegen vom LKA Schwarzwald gleich mit einer Kommandoeinheit hier hereinstürmen werden und dass sie keine Handschellen, sondern einen Leichensack dabeihaben. Hast du irgendeinen Fluchtweg?“

„Scheißdreck“, rutschte es Ortan heraus, und während er versuchte, abzuwägen, wie viel er auf die Worte des ungebetenen Besuchers geben konnte, mischte sich der Geist plötzlich in das Gespräch ein: „Du kannst ihm vertrauen, er ist deine einzige Chance, hier lebend herauszukommen.“ Der Trollschieber hatte keine Lust, auch noch mit einem Geist zu diskutieren, und seine Gedanken waren wirklich gerade woanders, weswegen er wohl das Flimmern in der Luft und das ätherische Echo in den Worten des Geistes nicht als die Beeinflussung erkannte, die sie war. „Ja, er führt zu dem Souvenir-Shop gegenüber“, gab der Schieber schließlich zu. Sofort danach begann er hektisch, Munition und alles, was sonst noch für eine übereilte Flucht nützlich war, mangels vernünftiger Tasche in einen Karton zu werfen. „Gut, Ortan, ich muss meinen Kollegen jetzt sagen, dass die astrale Erkundung sauber ist, dann stürmen sie zur Tür rein. Nimm den Fluchttunnel, ich versuche, dich dort abzuholen, aber sei auf alles gefasst. Wenn du einen anderen Uniformierten als mich siehst, lief was schief. Die wollen dich nicht festnehmen, Ortan.“ Auch diese Botschaft wiederholte der Geist sinngemäß in die Ohren des Schiebers: „Du musst fliehen und dich rauskämpfen.“ Ortan war mittlerweile dabei, sich eine Schutzweste überzuwerfen, die für einen deutlich weniger wohlgenährten Troll gemacht war, und nahm sich fatalerweise nicht die Zeit, um die Situation genauer zu analysieren. Als der manifestierte Magier und sein Geist verschwanden, rannte er bereits zum Fluchttunnel.

[Freiburg-Mitte, Einsatzfahrzeug des LKA Schwarzwald, 04.11.2082, 10:17:03 Uhr]

Es war anstrengend, aber wichtig, und so schaffte Schmitz es schnell zurück in seinen Körper. Er riss die Augen auf und rief so panisch wie möglich: „Souvenirshop! Ich bin gescheitert. Er flieht schwer bewaffnet über einen Geheimgang zu dem Souvenirshop gegenüber! Der Typ ist total irre! Hat nur geschrien, dass er euch alle abknallen will!“ Hauptkommissarin Grünheim schaffte es im selben Atemzug, zu fluchen und einen Befehl zu brüllen: „Verdammt, alle sofort zu diesem Shop! Los, los, los!“ Während seine elf Kameraden losstürmten, erhob sich Schmitz langsam. Er verfolgte über den Einsatzfunk das Geschehen, lief dabei ruhig zur Gebäudeecke und nahm eine Zigarette aus einem silbernen Etui, die er mit einem dazu passenden Feuerzeug entzündete. Nach dem ersten Zug an dem Glimmstängel hörte der Magier zwei Schüsse aus einem schweren Revolver, dann hektischen Funkverkehr und das Losrattern mehrerer Sturmgewehre. Mit dem zweiten Zug kam über den Funk, dass der Verdächtige am Boden sei, und kurz darauf, dass er keine Lebenszeichen mehr zeige. Mit dem dritten Zug zog er ein nicht registriertes Kommlink aus der Hosentasche und schrieb dem einzigen gespeicherten Kontakt auf diesem: „Erledigt.“