Eine Geschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Dat0r
[Berlin-Mitte, 09.11.2082]
Die Cyberaugen waren auf den ersten Blick nichts Besonderes mehr. Das Modell hatte vor zehn Jahren noch einen Listenpreis von fast 7.000 Euro gehabt, aber das war eben zehn Jahre her. Heute waren es ein paar alte Cyberaugen, die aus einem Menschen extrahiert worden waren, von dem wohl sonst nicht viel übrig geblieben war. Jetzt lagen sie in einer kleinen Nierenschale aus Edelstahl auf dem Schreibtisch von Anglius Braun, Forensiker beim Sternschutz mit dem Spezialgebiet Kybernetik. Seine Aufgabe in diesem Fall war relativ einfach: Was man sonst von dem Toten hatte, reichte nicht, um ihn zu identifizieren, nur dass es ein ungefähr 60-jähriger, männlicher Mensch war, hatte man ihm gesagt. Anglius sollte nun schauen, ob er über die Cyberware Benutzerdaten in der Matrix fand. Die Bodytech war zumindest schon WiFi-fähig, was es wahrscheinlich machte, dass sie sie sich für Updates mit dem Host des Herstellers oder eines entsprechenden Dienstleisters verbinden würde, sobald sie wieder online war. Eigentlich eine einfache Sache, Routine.
Sein eigenes, kräftiges Gähnen brachte Anglius dazu, nochmals seine Einweghandschuhe abzustreifen, um eine knallig blaue Aluminiumdose BOOM! zu öffnen und einen kräftigen Schluck aus ihr zu nehmen. Der Energiedrink war gerade im Angebot bei AldiReal und bestand hauptsächlich aus Farbstoff, Zucker und Koffein. Das Zeug schmeckte widerlich, war aber genau das, was er gerade brauchte, um wach zu bleiben. Dank all der Anschläge dieser Anarchos und der Grauen Zelle stapelten sich gerade Arbeit und Überstunden für ihn. Routiniert legte er daraufhin zwei Kontakte zur Stromversorgung an die Implantate und ließ ein Diagnoseprogramm durchlaufen. Doch schnell wurde klar, dass die Routine damit auch endete. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass der Kybernetikexperte Bodytech vor sich hatte, die mit Protokollen lief, die nicht von registrierten Herstellern stammten und sich durch die üblichen Diagnoseprogramme auch nicht auslesen ließen. Normalerweise hätte er es eher als sportliche Herausforderung betrachtet, aber angesichts des sonstigen Berges von Arbeit, der noch vor ihm lag, nervte es ihn eher. Wieder ein Schluck vom BOOM!, dann begann Anglius damit, die Treiber, Protokolle und Software der beiden künstlichen Augen auseinanderzunehmen. Das Eigenartige war, dass die Programme auf dem Gerät nicht einfach nur unregistriert und damit fremd waren, sondern sich aktiv zu wehren schienen. Kaum hatte er einen Teil des Codes entschlüsselt, waren die nächsten Segmente wieder unleserlich geworden. Ganz schön wehrhaft für zehn Jahre alte Tech.
Es brauchte weitere drei Dosen BOOM!, bis Anglius endlich vollen Zugriff auf die Cyberaugen hatte. Die Erkenntnisse daraus wurden aber nur noch ungewöhnlicher. Neben den zu erwartenden Funktionen der Bodytech wie einer Blitzkompensation, Restlichtverstärkung, Sichtvergrößerung und einem Smartlink stolperte er auch über einen Dateispeicher für einen automatischen Videorekorder. Etwas, das für Tech dieses Alters mehr als ungewöhnlich war. Bevor er jedoch genauer analysierte, wie es dazu kam, übermannte ihn die Neugierde, zu erfahren, was er darauf zu sehen bekam. Vielleicht war es der entscheidende Hinweis zur Identifikation des Opfers. Nachdem er die Dateien auf dem Zwischenspeicher paranoid nach weiteren Überraschungen geprüft hatte, warf er sie in die AR und betrachtete das dreidimensionale Bild direkt vor sich.
Zuerst machte alles einen unauffälligen Eindruck. Der Blick des Mannes bewegte sich einen schmalen Fußweg im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung entlang. Der Zeitstempel gab den 07.11.2082 halb zehn abends an, die lockere Bebauung deutete auf einen Randbezirk der Stadt hin, die schlechte Straßenlage auf einen der Alternativen. Einige Sekunden war es ruhig. Als die Blickrichtung kurz herabschwenkte, scheinbar um eine Pfütze zu umgehen, stoppte Anglius die Aufnahme sofort. Die Spiegelung im Wasser war schlecht, es waren keine Details zu erkennen, aber die Statur passte zu einem Menschen, aber so viel wusste er auch schon. Darüber hinaus konnte man aber nur die Kleidung ausmachen, ein langer, brauner Mantel, an der Brust geöffnet und etwas Blaues darunter. Der Kybernetiker ließ das Video weiterlaufen. Kaum hatte der Mantelträger ein paar weitere Schritte gemacht, drehte sich sein Blickwinkel ruckartig, sah erst hinter sich und dann über sich, ganz so, als hätte etwas, wahrscheinlich ein Geräusch, seine Aufmerksamkeit erregt. Obgleich nichts Ungewöhnliches zu sehen war, griff der Mensch nach seiner schweren Pistole. Es war eine Zastava CZ49. Nicht, dass sich Anglius mit Waffen auskannte, aber der Videorekorder hatte auch das Smartgun-Overlay aufgezeichnet und dieses gab neben dem Typ und einwandfreien Zustand auch ein volles Magazin panzerbrechender Munition an. Einen Moment noch starrte der Mann in die Berliner Nacht, dann drehte er sich wieder um.
Doch in dem Augenblick, als das Bild wieder nach vorn drehte, begann es auch sofort, wild nach oben zu schwenken, zu wackeln, den Fokus zu verlieren und schließlich zu kreisen, bis es sich mit dem Straßenbelag an der rechten Seite und dem Reifen eines geparkten Wagens im Fokus wieder beruhigte. Offensichtlich wurde der Mann von irgendetwas hart getroffen, das ihn von dem Fußweg mit starker Wucht auf die Straße geschleudert hatte. Wenn der Mensch wirklich an die sechzig war, musste er voll mit Bodytech gewesen sein, denn trotz des heftigen Schlags rollte er sich sofort auf den Rücken und hob seine Waffe in Blickrichtung. Noch deutlich überraschter als von der Geschwindigkeit des Menschen war Anglius über das, was in den Blickwinkel getreten war. Ein trollgroßer Albtraum von gräulich violetter Färbung hatte sich dort aufgebaut. Das Wesen hatte vier Arme, lange Klauen an den Händen und neben dem großen, aufgerissenen Mund im Gesicht noch einen weiteren, riesigen Schlund mit spitzen Zähnen mitten auf dem Bauch. Kleine Mündungsfeuerblitze kamen aus dem Lauf der Pistole und die Munitionsanzeige im Smartgunsystem leerte sich rasant. Doch der riesige Schrecken schien davon wenig beeindruckt. Er machte nur einen Sprung, raste durch die Luft und landete mit seinem furchterregendem Körper-Maul direkt auf dem Blickfeld. Die letzten Aufnahmen der Cyberware zeigten in Nahfokus eine grau-rote Schleimhaut. Das Smartgunsystem meldete, das die Munition alle war, eine Warnmeldung erschien, dass die Verbindung zur Reaktionsverbesserung verloren war, dann schaltete sich das System ab.
Anglius starte ins Leere, wo eben noch die Aufzeichnung des Horrors projiziert war. Das war heftig. Mit unruhigen Händen griff er nach einer weiteren Dose BOOM!. Seine zittrigen Finger verzweifelten an dem Verschluss der Aluminiumdose und der Forensiker bezahlte seine Ungeduld mit einem kleinen, blutigen Schnitt am Zeigefinger. Vielleicht sollte er weniger davon trinken, aber nicht in dieser Nacht. Eine ganze Portion Energydrink lang dachte er über das nach, was er gesehen hatte, um zu dem Schluss zu kommen, das Video erst einmal sauber abzuspeichern. Es gab keinen Grund für übereilte Panik oder Kurzschlüsse. Es war irgendein seltsamer Geist, vielleicht nur eine Illusion, oder aber jemand hatte hier falsche Spuren platziert. Wie ein aufgeschrecktes Kind mit dem Bildmaterial allein zu den Ermittlern zu rennen, würde ihn bestenfalls unprofessionell wirken lassen. Er musste noch mehr über die Implantate aussagen können, wenn er schon keinen registrierten Benutzer vorweisen konnte.
Vorsichtig leckte er trockenes Blut und klebriges Zuckerwasser von den Fingerspitzen, wischte sie an seinem weißen Kittel trocken und begann dann mit feinem Werkzeug, das erste Cyberauge zu öffnen. Die gelösten Schrauben allein schienen das Gehäuse aber nicht wie vorgesehen aufklappen zu lassen, wahrscheinlich war die Hülle leicht verzogen. Durch den Konsum von vier Dosen BOOM! erstaunlich entschlussfreudig und aufgedreht, nahm Anglius kurzerhand die blanken Finger, um das Gehäuse zu öffnen. Erst ein wenig Widerstand, dann klickte das Gehäuse auf. Mit dem Schwung des Öffnens des Gehäuses wurde Anglius jedoch schlagartig klar, warum man die Schutzhandschuhe nicht auszieht, warum man Werkzeug verwendet und warum man auch kleine Fingerverletzungen sofort behandelt. Der graue Schleim, der aus dem Cyberauge quoll, konnte nichts anderes sein als Naniten. Naniten, die auch die Cyberware modifiziert hatten. Darauf gab es nur eine naheliegende Antwort: KFS – Fuck!