Shadowrun

14.12.2023: Tür 14

Eine Geschichte von Andreas "AAS" Schroth
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Nakaira

[Nakairas Oase, 07.11.2082, 15:23:05 Uhr]

[[[[ NAKAIRA HAT IHREN ZUGANG GELÖSCHT ]]]

Nur sehr langsam verblasste die Schrift des just beendeten Schattentalks vor Nakairas Augen.

Sie lehnte sich in ihrem schweren, schwarzen, perfekt an ihren Körper angepassten Ledersessel zurück, sog die kalte, klare Luft ein und stieß sie langsam aus, warm, feucht und dampfend, wie sie es eingestellt hatte.

Sie setzte die mit dünnem Metall eingefasste Brille ab, die sie hier ebenso wenig brauchte wie in der Realität, und kniff sich in den Nasenrücken. Die Kühle der Luft machte ihr bewusst, dass da irgendetwas Nasses auf ihren Wangen war. Sie wischte es weg und atmete ruhig weiter.

Die von zu Hause geflohene Punk-Göre, die Sende-Revoluzzerin, die gestandene und mit einiger Sicherheit überbezahlte Medienkonzernerin befand sich in ihrer Oase, ihrem „Safe Space“, ihrem Wohlfühlort, ihrem von ebenso überbezahlten DeMeKo-Matrixdesignern auf Basis endloser Tiefeninterviews, psychotherapeutischer Management Assessments und jeder Menge Post-Awakening-New-Age-Drek geschaffenen Rückzugsort, der sie – so die Theorie – nach jeder noch so stressigen Situation in Rekordzeit „zentrieren“ und in den Alphamodus perfekter Leistungsfähigkeit zurückbringen sollte.

In ihrem Fall bestand die Oase aus einem kalten, klaren See, über den Nebelfetzen trieben. Umstanden von schwarzen Tannen, unter einem Nachthimmel, dessen Wolken von irgendeiner gigantischen Urkraft in göttlichem Rasen zerfetzt worden waren.

Ihr Aufenthaltsort – ihr „Zentrum“ – war ein schwebendes Eiland mit einem ebenso schwerelosen Granit, der ihr Schreibtisch war. Sie liebte es, die Hand langsam über seine Oberfläche gleiten zu lassen – schroff, uneben, widerspenstig und doch weich, zärtlich, ihr ergeben –, sodass alle Daten, die sie bearbeitete, sanft und lautlos aus seiner Tiefe auftauchten oder sich ihr als Fenster auf seiner sanft im Mondlicht spiegelnden Fläche darboten.

Sie erinnerte sich nicht mehr, ob sie das Master Control Interface des ursprünglichen Tron-Films als Grafik-Referenz bewusst angegeben hatte oder ob dies aus unzähligen Sitzungen der DeMeKo-Sorgenbeseitiger extrapoliert worden war (oder ob Monika dahintersteckte), aber sie fühlte die innige Beziehung, die sie zu Struktur und Kälte und Geruch und ebenjenem Klassiker hatte.

Klassiker.

Sie war 13, als sie von zu Hause weglief und nach Berlin ging. Exakt einen Tag nach der Beisetzung ihrer Mutter. Mit der sie eng gekuschelt alte Filme geschaut hatte, während sich draußen die Welt in Chaos auflöste. Vor der ihr Vater sich tunlichst zurückhielt. Die ihr ein ewiger Quell der Wärme war in einem düsteren, kalten Teil von Deutschland, wo die Tannen dicht standen und die Häuser in schwarzen Schindeln gedeckt waren, wo alles klein und normal und eng und artig und gläubig und angstvoll war.

Nakaira Nakaira (jung)

Sie atmete tief, wusste, dass, wenn sie jetzt die Augen öffnen würde, am Rand der fernsten Ecke des Sees ein Haus zu sehen wäre (obwohl es in der Oase nie zu sehen war). Ein schwarzes Haus, mit schwarzen Dachziegeln und schwarzen Schindeln an den Wänden, drinnen mit schwarzen Möbeln und weißen Spitzendeckchen, schwarzen Dosen mit weichem Spekulatius, umstanden von schwarzen Tannen, gefüllt mit schwarzen Gedanken, tintenschwarzer Muttermilch, wir trinken sie morgens, wir trinken sie mittags, wir trinken sie nachts …

Scharf sog sie die Luft ein, blinzelte den Vater vor ihrem inneren Auge weg – nicht mal er alt genug, selbst Teil des finstersten Kapitels Deutschlands gewesen zu sein, aber oh, wie gerne wäre er es gewesen, er und seine Sammlung, seine Verbindung, seine Freunde, und alles gebadet in schwarzes Feuer und Träume davon, wie das Reich aus den Geburtswehen der Sechsten Welt neu entstehen könnte, und wie hatte ihre Mutter nur einen wie ihn …

Ihre Lider flogen auf und rissen sie aus dem jähen Abgrund der Erinnerung, der ihr eben noch kalt die Wirbelsäule emporgeschossen war. Sie zog den Pelz – hyperrealistisch, warm, liebkosend, und strich man durch ihn, tanzten sanfte Lichter über das feine Haar eines Tieres, das nie gelebt hatte – enger um sich, blickte dem dunstigen Stoß ihres Atems nach, wie er sich in der Nachtluft verlor.

Vor ihr lagen zwei Pillen, klar und glänzend wie Glas, eine rot, eine blau, und auch sie waren gestaltet nach einem uralten Film, den ihr Mama gezeigt hatte, als sie … wie alt war? Sieben? Neun?

Doch das hier war kein Entweder-oder, wie nichts in dieser Welt – ihrer Welt – ein Entweder-oder war. Sie nahm beide Pillen und führte sie in ihren Mund, der vorbereitete Kelch füllte sich selbst (tintenschwarze Muttermilch, wie in diesem Film mit dem Magier-Jungen und seinem alten Professor) und sie stürzte den bitteren Trank hinunter.

Weit weg in der Realität passierten zwei Dinge:

Ihr Vorgesetzter bei der DeMeKo empfing den Nachweis, dass sie alle Brücken zum „anarchistischen Terror-Untergrund“ abgebrochen hatte, damit zukünftig aus jener Verbindung kein Skandal mehr für das Unternehmen entstehen konnte (um die Ausräumung der Gefahr früherer Kommentare und Verbindungen würden sich im Bedarfsfall Spezialisten kümmern). Und wichtiger: Damit der Beweis erbracht war, dass sie ihre Seite gewählt hatte.

Das andere Ding war, dass eine Reihe vorab ausgewählter Kontakte stark verschlüsselte Informationen erhielten, ohne sie als Absender zu identifizieren, wenn alle Beauftragten ihren überbezahlten Dreksjob gemacht hatten – wovon sie nicht wirklich ausging.

Keine zwei Sekunden später erschien die erste Antwort. Penny, natürlich.

> Dein Dreksernst?

> Viel zu Ernst für einen Joke. Sogar für mich.

> Ich glaube dir nicht.

> Glaub, was du willst. Verifiziere, was du kannst. Überlebe oder lass es sein.

Ehe Nakaira auf den erwarteten langen Wortschwall ihrer früheren Geliebten reagieren konnte, bemerkte sie am Rand des Sees eine Gestalt.

SIE.

Nakaira stand auf, seufzte, haderte viel zu kurz und erwartbar sinnlos, ob sie hingehen oder die zerbrechlich wirkende Frau mit der weiß-pinken Undercut-Frisur ignorieren sollte, und stieß sich sanft vom Boden ab, um in einem grazilen Bogen langsam zu IHR hinzugleiten.

Nakaira landete wenige Schritte hinter IHR, aber sofern SIE sie bemerkte, reagierte SIE nicht. SIE kniete am Ufer, auf einem Knie, in der einen Hand ein Stock, mit dem sie kleine, kreisförmige Wellen machte, aber Nakaira hatte keinen Zweifel, dass sie bemerkt worden war.

„Hallo, Lycia.“

IHRE Stimme war genauso wie in Nakairas Erinnerung. Sie wollte sich in diese perfekte Illusion ihrer Erinnerung fallen lassen, wollte sich darin ertränken, wollte zwei Schritte vortreten, sie umarmen, sich in der Wärme ihres Körpers vergraben – aber sie war nicht mehr die, die sie damals war, und SIE war definitiv nie diejenige gewesen, die SIE hier zu sein vorgaukelte.

„Hallo, Monika.“

Schweigen.

Jeder normale Mensch wäre irgendwann dem Druck dieses Schweigens erlegen, wäre gescheitert gegen die ganzen, während eines langen Konzernlebens einstudierten Tricks zu Verhandlung und Herauslockung von Information, aber SIE war kein Mensch, egal, wie sehr sich Nakaira mit jeder Faser ihrer Seele wünschte, dass SIE sie, dass SIE Monika wäre.

Und eben gerade weil das alles so war, hatte es keinerlei Sinn zu warten, bis SIE etwas sagen würde. Also sagte sie:

„Schön, dass du da bist.“

Angesichts der Begleitumstände war dies eine geradezu metaphysische Aussage: War SIE wirklich „da“, hier, in der Oase, einer virtuellen Fieberfantasie? Wann immer Nakaira mit IHR sprach, ging sie sämtliche Protokolle der Oase durch, nur um festzustellen, dass sie definitiv immer alleine war (ich bin … allein).

Bei den ersten Begegnungen hatte sie sogar die Admins sämtlicher DeMeKo-Konzernrealitäten der Metropolis-Arkologie die Datentransfers mit dem feinstmöglich denkbaren Kamm durchgehen lassen, hatte, nachdem nichts gefunden worden war, gemutmaßt, dass der Konzern selbst jene Figur kontrollierte, um Nakaira zu kontrollieren, hatte Runnerteams und über Monate sondierte Top-Decker rekrutiert, um dem Mysterium dieses „Glitches“ in der Matrix auf die Spur zu kommen, ohne Ergebnis.

SIE hatte sie täuschen, in ihre Oase und in sie selbst eindringen können, langsam und verborgen und weich und feucht und schmeichelnd, lange vor dem Netzgewitter, lange vor Befreiung der schrecklichen Kabelmatrix-Entität, und auf Basis aller Erkenntnisse, die die besten Matrixtheoretiker, die sich für Geld kaufen ließen (jeder war käuflich), offerieren konnten, blieb am Ende nur ein Schluss:

SIE, Monika, war keine Invasion eines fremden Datenorganismus.

SIE, Monika, war nur eine Projektion ihres, Nakairas, eigenen Verstandes. Eine adaptive Realitätsanpassung auf subliminale Signale. Ein in der Grundprogrammierung des psychoreaktiven Oase-Codes verborgener Faktor.

SIE … war Nakaira. Ihr … Wahnsinn.

Tintenschwarze Muttermilch.

„Du hast dich entschieden?“

Noch immer kein Blick zurück zu ihr. Noch immer kein Anblick des so endlos vertrauten, immer vermissten Gesichtes. Psychotricks, natürlich, und ins Schwarze treffend, natürlich, denn immerhin war SIE eine Fabrikation von Nakairas eigenem Selbst.

„Ja. Das habe ich.“

Schweigen.

Endlos.

Einmal mehr.

„Aber ich zweifle noch immer.“

Schweigen. Kreise im schwarzen Wasser.

„Es sterben Menschen. Es werden noch Tausende sterben, bis all das vorbei ist.“

Und Nakairas innerer Wall brach, die Worte strömten heraus. Wie es unvermeidbar war.

„Am Ende werden vermutlich alle sterben. Die Disianer und ihre Diener wollen die ganze Welt verzehren, verschlingen … sie werden nichts zurücklassen.“ Und kleinlaut, nur auf den Verdacht hin, dass sie doch mit APEX sprach, fügte sie hinzu, während sich ihr Avatar in das grotesk dickbusige, riesenäugige Teenie-Girl verwandelte, das sie vor oh so vielen Jahrzehnten hinter sich gelassen hatte, klein und unsicher und verzweifelt um Gefallen bemüht, egal, wie schlau sie sich damals vorkam:

„Ohne Leben gibt es auch keinen Status F, Apex.“

Nun drehte SIE sich um. Das gleiche vertraute Gesicht. Dieselbe Frisur, die – abgesehen von der pinken Strähne – Nakaira selbst schon seit Jahren trug, blickte sie an, blickte in sie, drang in sie, erdrückte sie mit einer Gewalt, wie es nur ihre ureigenensten, inneren Dämonen konnten.

„Und kein Status F im bequemen Leben, Lycia.“

SIE erhob sich, wandte sich ab vom schwarzen Wasser, trat auf Nakaira zu, bis sie (zu dicht! viel zu dicht!!) vor ihr stand.

„Wir stehen näher am Zusammenbruch von Konzernherrschaft und Einheit als je zuvor, Liebes. Und nicht nur in Berlin.“

IHRE Hand streichelte ihren Nacken, liebkoste ihr Haar.

„Berlin war von jeher die Stadt mit dem größten Willen, sich zu widersetzen. Das Unkraut Deutschlands. Stein gewordenes Versagen. Der ewige Rebell. Dreck in den Straßen, unfähig zur Verwaltung, unwillens, sich anzupassen – und doch: Leute wie Pflügler und Özgün und selbst Jandorf und Sigorski und Wojenko und selbst der wunderbare Zöller, sie alle haben es geschafft, eine Einheit zu schaffen, Frieden zu schaffen, Zu-Frieden-heit zu schaffen – einige aus den besten Absichten, doch viele, weil dies den Sieg der Konzerne garantieren würde.“

Über ihren Köpfen ballten sich die Wolken zusammen, der Mond verschwand.

„Meine Projektionen zeigen deutlich: Noch fünf bis zehn Jahre, dann wird ein Bezirk nach dem anderen ‚normal‘, einige sogar zu Konzernbesitz. Die Akbaba arbeiten beständig daran. Der ‚Bevölkerungsaustausch‘ ist real, doch ganz anders, als die Berliner es sehen. Die Dynamiken des Kapitals werden die Alternativen vom einen zum anderen Bezirk treiben, bis sie sich in wenigen, beherrschbaren Gettos sammeln, wie überall sonst. Spandau wird der erste Bezirk sein, der ‚heim ins Reich‘ kommt, das weißt du ebenso wie ich.“

IHR Kopf senkte sich leicht, sodass SIE Nakaira düster von unten herauf anblickte:

„Die Frage ist nur: Wird dieser Wandel schleichend geschehen, im Herzschlag eines Drachen, oder in der Lebenszeit eines Menschen, mit Blut und Verrat und Gewalt und Willkür und Gift und Monstern und Lagern, sodass den Opfern dieses Wandels – denn den Wandel wird es so oder so geben – keine Wahl bleibt, als aufzubegehren?“

In Nakairas Eingeweiden bildete sich ein kalter Klumpen, als sie zu ahnen begann, wer Fletscher getötet hatte.

„Also müssen sie alle sterben, Monika? Die Friedensbringer, die Diplomaten, die Verhandler? Morek? Safiya?“ Sie schluckte. „Ich?“

SIE warf ihren Kopf so heftig in den Nacken und lachte so laut, dass IHR Lachen über den See aus tintenschwarzer Muttermilch hallte:

Du, Herzliebchen?“

Nakaira wurde blass.

Du hast versucht, die Anarchos zu warnen. Hast ihnen ihre Hybris aufgezeigt, ihre Fehler – aber ‚versöhnlich‘, Schatz, ‚versöhnlich‘ warst du nie.“

SIE kam ihr noch näher, zog Nakaira am Genick näher zu sich, während diese verzweifelt versuchte, sich dagegen zu stemmen, bis nur noch ein Finger ihre Lippen von IHREN Lippen trennte.

Du bist die Stimme der Niedertracht. Das Zündholz, das die Wut entfacht. Die Spalterin. Und deshalb wirst du leben. Folge deinem kleinen Plan, herauszufinden, wer in deinem Konzern den Disianern dient, es schert mich nicht.“

Plötzlich war SIE weg, und Nakairas virtuelles Selbst machte reflexartig einen taumelnden Schritt dem Ufer entgegen, wo SIE gerade eben noch gewesen war.

„Zwei Dinge in dieser Welt weiß ich, Liebes …“

Die Stimme begann, sich aufzulösen, wurde zum Echo.

„Die Drachen werden nicht zulassen, dass diese Welt, ihr Hort, untergeht …“

Nur noch ein Flüstern im Nebel.

„… aber der Status F wird ihr Untergang sein.“