Eine Geschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Riot Doll
[Wien Zentralfriedhof, 19.11.2082]
Für Mütter gab es Dinge, die sollten nicht sein. Mütter sollten nicht schlecht über ihre Kinder denken. Mütter sollten nicht wütend auf ihre Kinder sein. Mütter sollten nicht vergessen, wie ihre Kinder lachen. Mütter sollten ihre Kinder nicht überleben.
Doch all das war, auch wenn nichts davon hätte sein sollen. Dorothea lief in einem betont schlichten, schwarzen Kleid hinter dem Sarg aus Holzimitat hinterher. Ihre getönte Brille ließ sie zwei pummelige Engel in der Augmented Reality anmutig über dem Sarg schweben sehen, doch eigentlich starrte die alte Frau ins Leere. Es war ihr bewusst, dass ihre Tochter den Glauben nicht praktiziert hatte und ihre kleine Susanne mit dem unschuldigen Lachen wahrscheinlich kein religiöses Begräbnis gewollt hätte. Aber was blieb Dorothea denn noch? Dieses Begräbnis war der letzte Dienst, den sie ihrer Tochter erweisen konnte. Die letzte Gelegenheit in ihrer Beziehung voller Streit und Missbilligung, etwas wiedergutzumachen. Susanne hatte ein anständiges Begräbnis verdient, auch wenn sie kein anständiges Leben geführt hatte. Mütter sollten nicht schlecht über ihre Kinder denken.
Dorothea hatte gehört, wie die kleinen Enkel ihrer jüngsten Schwester fragten, warum ihre Großtante nicht weinen würde. Die unausgesprochene Antwort war, dass sie keine Tränen und keine Kraft mehr zum Weinen hatte. Sie hätte selbst gerne Enkel gehabt. Doch Susanne war ihr einziges Kind gewesen und für Susanne war es immer wichtiger gewesen, das moralisch Richtige zu tun, anstatt sich ihr eigenes, privates Glück zu ermöglichen. Schon als junges Mädchen hatte sie sich für Umweltschutz und Nachbarschaft eingesetzt. Später im Studium wurde sie dann aber viel politischer und auch radikaler. Dorotheas Tochter hatte damals die falschen Leute kennengelernt, war abgerutscht in staats- und konzernfeindliche Kreise. In jeder größeren Organisation sah sie sofort das Böse, das bekämpft werden musste. Susanne war immer bestrebt danach, den Metamenschen die vermeintliche Wahrheit über Regierung, Adel, Politik und Kapitalismus zu bringen. Doch spätestens mit ihrem eigenen, nicht registrierten Sender hatte sich Dorotheas Tochter zu viel Arbeit und zu viele Feinde gemacht. Ihre Mutter hatte sich immer geweigert, „Donau Schwarz-Rot“ zu hören. Für Susanne aber hatte es alles bedeutet. Sie war so darin aufgegangen, dieser Welt mit ihren Wahrheiten eine bessere Zukunft zu ermöglichen, dass sie ihrer eigenen Familie keine Zukunft ermöglichte. Es erfüllte ihre Mutter mit einem verbitterten Zorn, dass ihre Tochter all die Liebe und die Chancen, die ihr zuteilgeworden waren, so verschwendet hatte. Mütter sollten nicht wütend auf ihre Kinder sein.
Wie mechanisch blieb Dorothea stehen, als der kleine, familiäre Trauerzug an dem ausgehobenen Grab angekommen war. Eine alte, gläubige Witwe wie sie kannte den Ablauf nur zu gut. Die Segnung des Grabes, das Herablassen des Sarges und Segnen desselben, all das lief an ihr vorbei wie ein fernes Rauschen im Hintergrund. Die monotone Sprechweise des Priesters half auch wenig dabei, ihm zuzuhören. Dorothea musste an die helle, energische Stimme ihrer Susanne denken, die mit Worten andere immer begeistern und mitreißen konnte. Sie starrte auf die braun furnierte Kiste, in der ihre Tochter nun lag. Besser gesagt das, was von ihrer Tochter übrig geblieben war. Die Beamten des Sicherheitskons hatten ihr sehr vorsichtig von dem Tathergang und den Ursachen erzählt. Susanne, die die Uniformierten auch „Riot Doll“ nannten, sei mit anderen radikalen Anarchisten in Streit geraten und wollte wohl deshalb nach Berlin fliehen. Dorothea wusste von den plötzlichen Umzugsplänen, auch wenn ihre Tochter am Tag zuvor noch irgendwelche Verschwörungstheorien von Monstern aus anderen Ebenen als Grund dafür angeführt hatte. Als Susanne dann am vierten November um halb sieben in ihr Auto stieg, zerfetzte die von den feindlichen Terroristen platzierte Bombe sie in ungezählte Einzelteile. Zumindest war sie sofort tot, das war der einzige Trost, der Dorothea geblieben war. Sie konnte ihre Tochter nicht einmal am offenen Sarg verabschieden, weil Susannes Überreste nicht mehr ausreichend rekonstruierbar waren. Wie konnte ein Mensch überhaupt konstruierbar sein? Es war alles so absurd, fühlte sich so unwirklich und fremd an, Dorothea wollte doch nur einmal noch das Gesicht ihrer Tochter sehen, sie begann schon zu vergessen, wie ihr Lachen aussah. Mütter sollten nicht vergessen, wie ihre Kinder lachen.
„Von der Erde bist du genommen und zur Erde kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken.“ Die Worte des Priesters weckten auch Dorothea für einen Moment aus ihrem Dämmerzustand. Sie sah der Schippe voll Erde zu, wie sie auf der Kiste in dem Loch im Boden landete. In der Kiste, in der nun ihre Tochter Susanne lag. Wie fremd und fern ihr dieser Mensch auf einmal war. So gerne hätte sie mehr Zeit mit Susanne verbracht, wollte sie besser kennenlernen, wollte verstehen, wer Riot Doll war, wofür sie wirklich gelebt und was sie geliebt hatte. So gerne hätte Dorothea Enkel gehabt oder zumindest das unschuldige Lachen ihrer Tochter zurück. Sie hätte nicht einen Moment gezögert, um ihr eigenes Leben für das ihres Kindes zu geben. Warum nur legte der Herr ihr solch eine Prüfung auf? Dorothea verlor den Halt in ihren Beinen, und hätte ihre kleine Schwester sie nicht rechtzeitig gestützt, wäre sie wohl am Grab zusammengebrochen. Doch die Kraft, die ihr zum Stehen fehlte, hatte sie wieder für die Tränen, die so unvermeidlich mit der bitterwahren Erkenntnis kamen: Mütter sollten ihre Kinder nicht überleben.