Hi! Mein Name ist Marc. Inzwischen haben wir das Jahr 2075. Bald ist der 24.12. Bald ist Weihnachten. Ich meine, wie kennt ihr Weihnachten? Großeltern reden immer von den guten alten Zeiten. Geschenke gab‘s für insgesamt 100 €, und nicht überall standen Weihnachtsmänner. Ab September gab‘s in den Supermärkten Weihnachtsgebäck, man sang Weihnachtslieder am Abend des 24.12., und der Bundeskanzler hielt eine Rede, mit über 5 Millionen Zuschauern...
Der Geist der künftigen Weihnacht
>>>BLOG-AUSZUG, RUHR-NET, 01-12-75
Hi! Mein Name ist Marc. Inzwischen haben wir das Jahr 2075. Bald ist der 24.12. Bald ist Weihnachten. Ich meine, wie kennt ihr Weihnachten? Großeltern reden immer von den guten alten Zeiten. Geschenke gab‘s für insgesamt 100 €, und nicht überall standen Weihnachtsmänner. Ab September gab‘s in den Supermärkten Weihnachtsgebäck, man sang Weihnachtslieder am Abend des 24.12., und der Bundeskanzler hielt eine Rede, mit über 5 Millionen Zuschauern. Hehe! Wisst ihr, wie Weihnachten heute ist? Wir leben in der ADL, der Allianz Deutscher Länder. Konzerne und Firmen gibt es fast nur noch in Großausgabe. Sie nennen sich Megakons, und alles um ihre Häuser ist extraterritorial. Der Kon als eigener Staat. Ares-Land oder das Saeder-Krupp-Reich. Ja ja. Die Staaten der ADL haben viele Rechte zurückgewonnen. Westphalen ist zu 100 Prozent deutsch-katholisch (jedenfalls ist es nicht unbedingt ratsam, nicht deutsch-katholisch zu sein), deswegen schaut man hier auch die Predigt des Bischofs von Münster statt der Ansprache des Bundeskanzlers. Im Saarland feiert niemand mehr, denn da ist ein Atomkraftwerk hochgegangen, und für die nächsten 10.000 Jahre besingen da nur Glow Punks die strahlende Nacht. Tja, Städte sind inzwischen verdammt groß geworden. Frankfurt etwa nennt man jetzt Groß-Frankfurt. Von Mainz bis Hanau, vom Mitteltaunus bis nach Ludwigshafen ist heute alles Frankfurt-Megaplex. Und auch Offenbach ist heutzutage (leider) ein Frankfurter-Stadtteil.
Wenigstens der Euro ist noch das einheitliche Zahlungsmittel, und für Weihnachtsgeschenke werden in der ADL jährlich pro Kopf fast 500 € ausgegeben. Natürlich online, denn niemand geht mehr zum Einkaufen vor die Tür!
Wenn ihr glaubt, das Amerika des 20. Jahrhunderts war schlimm, dann zieht euch jetzt mal den Plex rein. 250-stöckige Bürogebäude sind komplett zu einem großen Weihnachtsmann geworden. Für Weihnachtsdeko wird heute 50-mal so viel ausgegeben wie vor 60 Jahren. Inzwischen müsste die katholische Kirche in der ADL ihr gesamtes Vermögen 15-mal verkaufen, um die Deko der letzten zehn Jahre in der ADL zu zahlen. Unter der Armutsgrenze leben 20 % (bei 90 Millionen registrierten Einwohnern). Die Welt ist schlecht geworden. Hamburg ist das moderne Venedig, dank Flutkatastrophen und gestiegenem Meeresspiegel. Wasser an sich wäre ja nicht das Problem, aber die Nordsee ist so giftig, dass sie in Flaschen abgefüllt als Kampfstoff gilt. Manche Tropfen davon ätzen einem die Jacke in Minuten weg.
Aber die Umwelt hat es geschafft, sich zu wehren. Dank Genversuchen und dem Erwachen ist Mutter Natur mutiert. Die Tiere sind inzwischen so verändert, dass man zum Angeln ein Jagdgewehr braucht.
Ach, und falls ihr denkt, wenigstens das Problem der Armut hätten wir lösen können, wenn‘s mit der Umwelt schon nicht geklappt hat: Vor 65 und 53 Jahren gab es eine Epidemie, weltweit! Insgesamt 2,35 Milliarden Opfer, und selbst heute, 53 Jahre nach der letzten Seuche, haben wir in Europa noch 2 Millionen Einwohner weniger als 2010.
Ach ja, so was wie Öl oder andere Rohstoffe sind so teuer, dass sie niemand mehr kauft. Es gibt nur noch wenige Ölfelder auf der ganzen Welt. Autos fahren mit Elektrizität oder Methan, und fast alles andere funktioniert auch mit Strom. Der Strom kommt übrigens immer noch aus Atomkraftwerken, obwohl seit Tschernobyl weltweit unzählige weitere Atomkraftwerke in die Luft geflogen sind. Gut, jetzt könnte man denken, die Politik ist dann eben der grüne Zweig. Am Beispiel der ADL zeige ich euch, wie vergebens eure Hoffnungen sind. Die meisten Länder der ADL werden von Liberalen regiert (die den Konzernen in den Arsch kriechen!). Nur Westphalen und das Königreich Bayern sind konservativ-christlich bis rechts dominiert. Die Hauptstadt ist übrigens Hannover, wo eine Bundeskanzlerin den Konzernen die Steuergelder schenkt, während die Armen verhungern (ja, Geschichte wiederholt sich). Was mit Berlin ist? Da gab‘s vor Jahrzehnten einen Aufstand, und da der sich nicht niederschlagen ließ, verzog sich die Regierung nach Hannover und überließ die Stadt erst mal den Anarchos, bis vor 20 Jahren oder so die Konzerne dem Land die Stadt abkaufen wollten und nach dem Deal dort (blutig) einmarschiert sind. Heute versuchen die „Alternativen“ auf der einen und die Konzerne auf der anderen Seite, heile Welt zu spielen und so zu tun, als wäre das Projekt Berlin eine Vorzeigestadt. Sieht die Politik für euch gut aus?
Die einzelnen Länder haben mehr Macht als die Regierung in Hannover, die einstige Hauptstadt wurde verkauft, während sich eine Kirche ein ganzes Land geschnappt hat und es nun wie im Mittelalter mit eiserner Hand regiert. Es gab sogar schon wieder Fälle von Hexenverfolgung. Weihnachten an sich ist ein totales Konsumspektakel der Konzerne, so was wie Hilfsaktionen oder Spendenaufrufe gibt es seit Jahren kaum noch, und der Umsatz steigt von Jahr zu Jahr, obwohl inzwischen 66 % der Leute allein und so abgekapselt leben, dass sie nur sich selbst was schenken.
Gut, nun fragt ihr euch sicher, wieso ich euch all die Zahlen und das Ganze um die Ohren haue. Denkt doch mal nach. Ihr haltet eure Welt für herzlos schlimm oder nur gut zur Weihnachtszeit? Na, dann freut euch was die Zukunft noch alles bringen wird.
Frohe Adventzeit und bald ein schönes neues Jahr 2076!
Ausgeliefert
Selbstfahrende Koffer und Kofferkuli-Drohnen gehören schon lange zum alltäglichen Anblick, und selbstfahrende Shoppingcarts und Tragehelfer aller Art haben sich längst zum unersetzlichen Accessoire der krankhaft Kaufsüchtigen entwickelt.
Besonderes Augenmerk verdienen diese Helferlein in der Weihnachtszeit, wenn Otto Normalshoppingjunkie mehr als das ansonsten Übliche zu kaufen und von A nach B zu transportieren hat. Spätestens in der Woche vor Weihnachten sind die Lufträume der großen Plexe förmlich überfüllt mit den Lieferdrohnen der großen Versandhäuser und globalen Paketlieferdienste: Es blinkt und funkelt, rattert und flitzt, und all das ist die perfekte „Drohnenmenge“, in der sich eine Team-Drohne mit eher sinistren Absichten leicht verbergen kann.
Noch besser ist es natürlich, eine echte Paketdrohne zu kapern oder sich das am häufigsten verwendete Modell liefern zu lassen und mit den Farben eines örtlichen Logistikunternehmens, Warenhauses oder Paketdienstes zu bepinseln.
Der einzige Haken an der Sache ist, dass diese elenden Lieferdrohnen eben nonstop unterwegs sind: Gammelt eine davon sinnlos am Himmel herum, fällt sie eben doch aus dem Muster und damit in das Raster der Sicherheitsalgorithmen. Wer seine Paketdrohne also nicht zur Lieferung explosiver Weihnachtsüberraschungen nutzen will – ein Bedrohungsszenario, das durch die schlechte Rückverfolgbarkeit einer zerstörten Drohne immer wieder als Horrorvorstellung durch die Medien geistert –, der kann auf eine der bodengestützten Shoppingdrohnen ausweichen.
Diese sind das perfekte Werkzeug zur Verfolgung von Personen, denn nichts ist unauffälliger als eine mit Tüten beladene Cart-Drohne, die hinter einem Bürger durch die Gegend surrt. Und dreht dieser sich um, nun, dann war die Drohne halt nur zufällig in derselben Richtung unterwegs, überholt und schnürt später wieder in den Verkehr der Fußgänger ein.
Wer gelenkig ist oder klein (oder beides), der kann freilich auch direkt in einer Koffer-, Liefer- oder Shoppingcart-Drohne Platz nehmen. Dass eine solche Drohne ohne weitere Kontrolle durch den Zugangspunkt einer abgeschotteten Wohnanlage kommt, sollte zwar nicht vorkommen, aber wenn die Drohne dank des freundlichen Hackers von nebenan auf das Kommlink bzw. die SIN des unbescholtenen und bestens zahlenden Mieters oder Eigentümers des Hauses registriert ist, findet meist keine weitere Kontrolle statt – nicht zu Weihnachten, und auch dann nicht, wenn die Drohne mehrere Dutzend Meter nach dem Nutzer durch die Kontrolle fährt.
X-MAS-MODDING
>>>BLOG-AUSZUG, RUHR-NET, 17-12-75
Tags: WEIHNACHTSEINTRAG, WAFFENMODDING, SCHNAUZE VOLL
Weihnachten, die Zeit der Freude und Besinnlichkeit. Dass ich nicht lache. Ich als professioneller Waffenschmied in den Schatten des Ruhrplexes sage es euch da draußen jetzt mal ganz deutlich: Weihnachten kann mich mal. Ich steige aus. Vor zwei Jahren hab ich noch geschmunzelt, als mir eine Freundin bei einem Kaffee ihr Leid klagte. Sie hat sich darauf spezialisiert, Matrix Personas zu programmieren, und kurz vor dem Dezember ging bei ihr immer der Wahnsinn los. Alle wollen dann auf einmal rote Mützen mit weißen Puscheln oder knappe weiße Kleidchen mit Engelsflügeln. Manche hüpfen auch gleich ganz als Wichtel durch die Gitter, und Rudi das Rentier sei auch sehr beliebt, meinte sie. Der genaue Wortlaut war: „Ich kotze, wenn ich noch eine rot blinkende Nase programmieren muss.“
Ich konnte damals noch lächeln und ein paar herablassende Worte zum Trost aussprechen, in der wohligen Gewissheit, dass mir das nie passieren würde. Runner haben für solchen Kram nichts übrig. Der Lauf in den Schatten ist ein hartes Geschäft, und Waffendesign setzt auf Effektivität, nicht auf den Kitschfaktor. Tja, falsch gedacht. Alles fing an mit dieser merkwürdigen Samurai, die den Griff ihres Katanas in grünem und rotem Leder gewickelt haben wollte. Als kurz darauf eine Gruppe nach einem Spezialgeschoss fragte, das beim Abschuss einen Kometenschweif hinter sich herzieht, dachte ich noch, es ginge um einen Anschlag bei einem Krippenspiel. Und auch die Drohnen in Form von kleinen Weihnachtsmännern und passend dazu als Esel hab ich anfangs noch für eine saisonal bedingte Tarnung gehalten.
Doch ehrlich, wem nutzt es, Zimt- und Gewürznelkenduft in Rauchgranaten zu haben? Und die Konkurrenz macht angeblich Schrotladungen aus winzig kleinen Eiskristallen und Metallglöckchen. Und als dann gestern noch dieser Typ bei mir auftauchte und wollte, dass ich seine Munition rot und grün lackiere, da war das Fass voll. Macht euren Feiertagsscheiß doch alleine! Wo führt das denn bitte hin? Sprengeier zu Ostern platziert von kleinen Hasendrohnen und Herzchen-Schrapnell zum Valentinstag? Ganz ehrlich, ohne mich. Moddet euren Scheiß woanders.
Advent, Advent, eifrig gescannt
Von Berlinherzen bis Drachenclub, von Shiawases hAPPy-App bis zum Paladine Online Orden von Ares gibt es keinen Mangel an Denunziations-Apps jedweder Couleur. Ob eher spielerisch für Kinder oder als knallhartes Konkurrenten-Wegbeiß-Tool, genannt „Karriere Coach“: Alle diese Apps basieren darauf, bestimmte Akte vorbildlichen Verhaltens zu belohnen, wozu in den meisten Fällen das Melden von Fehlern, Verdächtigem oder sonst wie Unerwünschtem gehört.
Der neueste Zugang bei der gamifizierten Bespitzelung ist die weihnachtliche DeMeKo-App „Kleine Engel“, mit der gezielt brave Kinder und Jugendliche zur fröhöhöhölichen Hatz gerufen werden. Und das – da der App-Urheber der König der Medienverwertung ist – natürlich unter besonderer Berücksichtigung von skandalösen Fotos, Videos und anderen belastbaren Beobachtungen.
Ziel des „Spiels“ ist es, bis zum 24.12. jeden Jahres durch Einschicken von selbstgemachten Aufnahmen möglichst viele Heiligenscheine zu sammeln. Jede Einsendung erhält mindestens einen Heiligenschein, aber je nach Skandalträchtigkeit und Beweisbarkeit der gefilmten, fotografierten oder als Dateikopie gesendeten Inhalte gibt es ordentlich Bonus-Heiligenscheine. Speziell dann, wenn die Inhalte von der DeMeKo – natürlich ohne weitere Bezahlung – weiterverwertet werden.
Die eifrigsten kleinen Engel bekommen schon während der Spielzeit Hochstufungen von Rang und Aussehen ihres Engels-Avatars. Man verdient sich Silberschwingen, Glitzerpunkte, goldene Lockenpracht oder seltene Items wie das Gewand der Immerwehenden Winterwinde.
Am Ende des Spiels schließlich winkt die große Bescherung, bei der die top-platzierten Spieler der einzelnen Kategorien Geschenke vom DeMeKo-Weihnachtsmann erhalten, darunter Konsolen, neue Kommlinks, Praktika und Weiterbildungszertifikate zum hauptberuflichen Schmierlappen, Rennfahrräder, Elektro-Blades, Verzehrgutscheine für dubiose Abschleppdiskos (ab 16) und jede Menge sich selbst kostenpflichtig verlängernder Medien-Abos.
Frohe Weihnachten!
Wohlriechende Brandbombe aus der Hölle
Magic Glitter Scent ist sprühbarer, klebriger, hochentzündlicher Glitter. Wow. Ich habe keine Idee, was da schiefgehen könnte. Ob als weihnachtstauglicher Handflammenwerfer zur Nahverteidigung oder als Brandgranate mit Röstapfelaroma – wo Magic Glitter Scent in Verbindung mit Feuer gelangt, wächst kein Gras mehr. Und auch keine Haare und keine Haut.
Das Fiese an diesem hochtoxischen Meisterwerk der legendären „Ich-scheiß-auf-die-Umwelt“-Firma United Chemicals ist in der Tat die Verbindung von Brennbarkeit und Klebrigkeit: Das feine Spray dringt überall ein und vermag schon im nichtentzündeten Zustand großen Schaden anzurichten, etwa indem es Ventilationsöffnungen von Feinelektronik verklebt, Sensoren zukleistert oder – besonders gemein – ein Karten- oder Touchpad-Magschloss mit wenigen Sprühtastendrücken komplett außer Gefecht setzt.
Ins Gesicht des Gegners gesprüht, wirkt es wie Tränen- und Brechgas: Es verklebt die Augen und verätzt die Lungen. Und wenn man es schließlich sogar anzündet, verbrennt das Spray nicht nur zuverlässig jeden Gegner wie jedes brave Sprayprodukt, nein: Der Sprühglitzer klebt auf der Haut fest, schmilzt bei hohen Temperaturen minutenlang vor sich hin und frisst sich dabei immer tiefer in Kleidung und Haut.
Ho-ho-ho!
Erste Weihnacht
Das ist es also. Flackernd flimmert das Licht in einer zu engen Diele an. Statisches Summen und das Schnarren der Lüftung aus dem gedrängten Chaos am Ende des Durchgangs, das so etwas Ähnliches wie ein Wohnzimmer sein könnte. Oder eher ein Wohnschlafwichsundverreckezimmer. Links eine verseucht grüne Plastiktür zu einer Nasszelle, die sich kein Nazi hätte schöner ausdenken können. Rechts im Wohnzimmer eine voll ausgestattete Sozialküche, bestehend aus Kühlschrank, Mikrowelle und Waschbecken, das eine Doppelfunktion als Sockendeponie zu haben scheint.
„Ist nur vorübergehend“, brummt ihr Begleiter entschuldigend, sein massiger Körper unangenehm nah hinter ihr, der typisch ranzige Geruch von Ork. Grimm zupft seinen Atemfilter runter – halb lebenserhaltende Maßnahme, halb Gesichtserkennungsschutz – und ebenso das daran befestigte Dreiecktuch in Digital-City-Camouflage – also Bauklotzpopelexplosionslook. Indem er sich an Karla vorbeidrängt, zieht er zischend den Ring aus einer Bierdose und zündet sich – wie, weiß Gott alleine – gleichzeitig einen Glimmstängel an.
Karla verharrt in der Tür, unsicher, während ihr Begleiter zwei tiefe Züge nimmt – einer Rauch, einer Bier –, etwas unschlüssig durch sein verzecktes Reich blickt und endlich sowohl die Kapuze abstreift als auch sein speckiges Cybears-Basecap ablegt.
„Steh da nicht so rum und spiel das Ziel für die Ratten im Block“, sagt er, was wohl eine Art Einladung sein soll. Karla blickt kurz nach links und rechts den vollgesprühten, vollgemüllten und sehr offensiv vollgepissten Gang des sechsten Stocks von Wohnblock 84 in Berlin-Gropiusstadt hinunter, kann aber außer einem schlafenden oder toten Junkie vor der zugeketteten Fluchtwegetür weder eine metamenschliche noch eine wortwörtliche Ratte ausmachen.
Sorgsam schließt Karla die Tür hinter sich, während im Wohnzimmer das Trid zu plärren anfängt. Grimm hat sich auf seine Bettcouch gepflanzt und wurschtelt an seinen Stiefeln rum. Im vom sauren Regen fast völlig verätzten Plastefenster hinter ihm sind gerade mal trübe Flecken der eigentlich recht nahen Fenster benachbarter Wohnblöcke auszumachen.
Sie hängt ihre Jacke auf – oder doch die Jacke, die man ihr in der Klinik gegeben hat; ihre eigene war wohl nach der Randale am Lausitzer, nach Abtransport und Not-OP nicht mehr zu gebrachen – und setzt sich auf eine Art Barhocker an der Küchenzeile. Versucht, so viel wie möglich von der Wohnung und so wenig wie möglich von ihrem Geruch aufzusaugen.
„Tut mir leid, das mit dem Mief hier. Die Lüftung ist total im Arsch, und die Fenster lassen sich nicht öffnen.“ Er rülpst. „Und das Wasser hier … sagen wir, man fährt mit Chemo besser. Killt die Seuche, aber verstärkt den Siff.“ Er kramt zwischen leeren Mikrowellenpackungen („Instant-Lyoner mit BBQ-Senf- und Soykäse-Füllung, Original Kebap-Art, jetzt mit extra viel Zwiebeln“), findet eine Dose „Combat Axe“ Neil the Ork Barbarian Deospray und gibt dem Raum einen deftigen Zisch.
Bei der Gelegenheit öffnet er auch gleich die Couchtischschublade, nimmt ein schäbiges VolksKommlink raus, setzt dessen Akkus ein und aktiviert es. Karla ist derzeit unbelinkt, kann aber auch so sehen, dass die erste Meldung nach dem Systemstart die Anzeige einer kriminellen SIN plus Warnung vor gefährlichen Implantaten ist. Wahrscheinlich wird dieser dezente Hinweis auf die Misstrauenswürdigkeit des Trägers in der AR noch wesentlich deutlicher ausfallen.
Grimm schafft in Menüs herum, die Karla mangels Bildverbindung nicht sehen kann, scheint verärgert über einige Meldungen, blickt nur kurz und abgelenkt auf: „Wenn du Durst oder Hunger hast, bedien dich. Viel ist nicht da, aber für heute sollte es reichen. Morgen können wir uns ja noch was besorgen, für den speziellen Anlass.“
Morgen ist Weihnachten.
Ihr erstes Weihnachten außerhalb der Konzernwelt.
Dabei scheint es ihr schon Jahre her zu sein, dass sie eine brave Drohne im System war, ein emsiges Bürobienchen, das sich zur Entspannung nach Feierabend und am vertraglich garantierten Wochenend-Ausgleichshalbtag etwas Nervenkitzel in der „Zone“ besorgte, als Möchtegern-„Runner“, der einfache Kleinstjobs für Barkeeper und Infodealer erledigte. Kurierjobs. Schmierestehjobs. RufmichanwenndudiesenTypenhiersiehstjobs. Molle-und-Korn-Jobs halt.
Natürlich fanden SIE es raus. Natürlich boten SIE ihr großzügig an, über ihre vertraglich nicht genehmigten Taten hinwegzusehen. Natürlich aber verbunden mit Gehaltskürzung, Arbeitszeitverlängerung, Streichung von Privilegien und einem fetten Warnschild an ihrer Konzern-ID. Gar nicht so natürlich lehnte sie ab.
Grimm räumt das Bett etwas frei. Verstaut Brauchbares in Schränken und Schubladen, schafft leere Packungen und Dosen zum Abfallschacht, dessen Klappe sich aber – weil verstopft – nur noch wenige Zentimeter aufzerren lässt, geht zur Tür und wirft den Müll in den Gang.
Karla blickt skeptisch auf die so entstandene Kuschelzone, denn schlafen ohne Körperkontakt ist hier definitiv ausgeschlossen. Vermutlich sollte sie trotzdem dankbar sein, kann sich aber nicht dazu aufraffen und macht sich stattdessen die unter den frittierten Ersatzfleischvorräten im Kühlschrank gefundene Alibi-Packung Grillgemüse heiß.
„Was macht der Arm? Hast du noch Feedbacksticheln?“ Grimm schnappt ihren Arm und schiebt unsanft den Ärmel hoch, sodass Karla beinahe über den noch immer unerwarteten Anblick ihres fehlenden Körperteils und die Anwesenheit DES DINGS erschrickt. DAS DING ist ein einfaches Modell, haben sie gesagt, und damit noch immer schicker als Grimms Ersatzarm, den sie ihm im Knast anstelle seines Deluxe-Chrom-Killerarms mit Nagelmessern, Smartlink und Gyrostabilisator verpasst haben. DAS DING sieht wenigstens nicht aus wie etwas, das der Klempner hat liegen lassen. Oder das gleich die vollbusige Manga-Mannschaft der Raumstation Sputnik rektentakeln wird.
Eine medizinische Prothese ist DAS DING trotzdem. Da ist kein Glamour, kein Strahlen, kein verruchtes Schattenfeeling, wie man es erwartet hätte, so als Shadowrun-Girlie, das in ihrem Teenagerzimmer jede Menge Displaywandfläche mit in ewigen Loops animierten Shots der Street Samurais aus Trid und VR-Games beladen hatte.
Grimm öffnet ein Panel an ihrer Handwurzel, zieht wie vom Arzt verordnet die Gelenkverbindung nach und grunzt zufrieden. Schwer vorstellbar, dass dieser versiffte Penner mal ganz passabel ausgesehen haben soll, damals, in seinen Kunstraub-, Autoknack- und Fischzug-Tagen, ehe er in der Plötze einsaß. Bevor er durch einen Deal rauskam, der ihn in der Berliner Crime-Szene genauso unerwünscht macht wie seine kriminelle SIN bei Geschäftsinhabern oder potenziellen Arbeitgebern.
„Wenn das Leben dich fickt, dann bitte richtig“, hatte er bei ihrer ersten Begegnung gesagt. Vor etwa drei Stunden.
Sie nickt auf einige seiner Fragen und schüttelt den Kopf auf einige andere. Das Gefühl für ihre Hand ist noch nicht voll da. Das Bild ihres Cyberersatzauges brennt noch in lötheißem Kopfschmerz, während ihr armes Steinzeitmenschenhirn versucht, die digitalen Signale aus der fernen Zukunft des späten 21. Jahrhunderts zu verarbeiten. Außerdem jucken die Verbände noch.
Verdammt, sie gehört in die Klinik zurück, nach Eiswerder. Aber die haben keinen Platz. Halten alles frei für Weihnachten, wenn zwischen Lynarstraße und Spandauer Altstadt so richtig urtümlich gefeiert wird, mit Molle in der einen und Molli in der anderen Hand.
Also haben sie Grimm gerufen. Weil der bei Piet noch was offen hatte. Und dringend die Streetcred brauchen kann, dass er KEIN vollkommen korruptes Verräterschwein ist. Oder dass er eine angeschossene Unbekannte, auf die er einige Tage aufpassen soll, umgehend schändet, ermordet, ausweidet und an die Ghule verkauft. Wenn sie Glück hat, in dieser Reihenfolge. Sie zieht die Beine an, versucht die Tränen niederzukämpfen, und versagt.
„Oh, Mann, Fuck, was soll denn die Scheiße“, keift Grimm und reißt ihren Kopf an den Haaren nach hinten, blickt kritisch in ihr Cyberauge und auf die spastisch zuckenden Areale drum herum. Sie wehrt sich, reflexartig, panikhaft, da reißt er sie vom Hocker (ha ha) und wirft sie zwischen Krümel und Kippen auf den klebrigen Boden, fixiert ihren Kopf so fest und eng, dass sie das Surren seines klobigen Cyberunterarms direkt am Ohr hört.
Zur Panik kommt der Ekel, kommt ein fieser Schmerz irgendwo in der Gesichtsgegend, schwer zu verorten, juckend, schreiend, hysterisch, und natürlich flammt er ihr eine, zwei, fixiert wieder den Kopf – und sprüht ihr irgendwas ins Gesicht, ins Auge, in ihr fehlendes Auge.
Minuten vergehen. Ihr Körper gibt den Widerstand auf. Der Ork auf ihr scheint eine Tonne zu wiegen, sein Geruch ist um sie, in ihr, sie möchte kotzen und schämt sich zugleich dafür, so vorhersehbar rassistisch, so Norm-al zu sein, aber ihr auf die Instinkte reduzierter Körper hat wenig Sinn für Political Correctness, also würgt sie, erst trocken, dann sehr feucht.
Minuten vergehen. Im Trideo läuft eine Wiederholung ihrer Lieblingsfolge von Wunderkrieg, diese drollige Alpen-Show mit den witzigen Meta-Freaks. Sein Druck auf ihr lässt nach. Er gibt ihren Kopf frei, nimmt die Ellbogen von ihren Unterarmen, wartet ab, ob sie noch mal ausflippt. Tut sie nicht. Karla Schnikov ist ein Profi. Karla Schnikov liegt auf dem abgerissenen Kopf eines Wackeldackels. Surreales Empfinden am Rande des Nervenzusammenbruchs. Auch ein hübscher Buchtitel.
„Scheiße“, sagt Grimm und erhebt sich, nimmt ein neues Bier, leert es. Nimmt noch eins. Leert auch das. Übrigens weit langsamer, als es hier klingt. Aber Karla liegt nur da, erschöpft weit jenseits des Körperlichen, und starrt.
„Scheiße“, sagt Grimm noch mal. Dann legt er sich ins Bett und löscht das Licht. Nur das Trideo quasselt weiter.
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Am Morgen liegt Karla noch immer, wo sie am Abend lag, um sich ein Kokon diverser Kleidung und Decken, neben sich ein feines Pulver von unter der Spüle, das organische Verbindungen – wie Kotze oder Ausscheidungen im spülungsunfähigen Klo – rasch und restlos auflöst.
Grimm kippt an Trockenfutter erinnerndes Frühstückszeug in zwei Schalen, kippt Wasser aus einem Kanister drüber, weckt Karla und erläutert den Plan. Kein Wort zu gestern. Nur Leute aus Konzernzonen beschäftigen sich mit gestern. Gestern ist ein Luxus, den man nicht hat, wenn man heute etwas essen und morgen noch leben will.
„Wir besorgen dir ein Weihnachtsgeschenk“, stellt Grimm fest. „Hätte Piet so gewollt“, schiebt er lahm nach, um etwaigen Protest zu ersticken. „Außerdem brauchst du Übung mit deinen Implantaten. Und was zu fressen für die kommenden Tage brauchen wir außerdem.“
Piet. Ihr Shadowdaddy. Der sie aufnahm, als der Konzern sie kantete. Der sie mit ner verdammten Schrotpistole gegen einen vollgerüsteten Soldaten der SonderSchutzTruppe schickte, um „den Anarchos“ zu zeigen, dass sie jetzt eine von ihnen war. Der dabei draufging, als „die Anarchos“ ihre von der Praetor-MP des Soldaten mit zwei wohlplatzierten Schüssen gefällte Leiche bargen. Während der Soldat wohl ohne Kratzer blieb, mit dem Ergebnis zufrieden, desinteressiert an dem dummen Mädchen im Shirt, das aus kürzester Distanz auf ihn ballerte, um wenigstens IRGENDEINE Chance auf einen Hit zu haben.
Draußen steigen Karla und Grimm in seinen Mercury Comet. Zufall oder arschgefickte Ironie – Piet fuhr auch einen Kometen, seiner von Izhmash. Grimms Comet ist eindeutig die bessere Karre, und eindeutig sauberer als seine Bude. Sie hätte nie aussteigen sollen. Also, aus dem Auto, jetze. Und aus dem Kon eh nicht.
Ihr Ziel sind die Kurfürstendamm-Arkaden – die Q-Mall, die längste Mall der Milchstraße plus Nachbardimensionen, nimmt man alle Superlative der Betreibergenossenschaft zusammen. Dabei ist die Mega-Mall eher das Abfallprodukt einer völlig irrsinnigen Verkehrsplanung, durch die der Kurfürstendamm per Entlastungsstraße auf Stelzen überbaut, der alte Damm darunter verkehrsberuhigt und der Abstand zwischen Hochtrasse und sechstem Stock der Ku’Damm-Gebäude durch eine „lichte“ (heute zerätzte und vollgerußte) Glaskonstruktion verbunden wurde.
Was der heute auf schäbige Mittelschicht zurechtgemachte Grimm genau vorhat, weiß Karla immer noch nicht. Und auch nicht, als sie den Comet in der Tiefgarage unter der Mall abstellen und durch ein bunkermäßiges Treppenhaus hoch in die „Mall“ gehen.
„Okay, Küken“ – so hat Piet auch immer zu ihr gesagt, und kurz ziehen sich verödete Gefäße und tote Tränenkanäle in sehr realem Phantomschmerz zusammen – „der ‚Job’ ist ziemlich einfach.“ Oh, Frek. Drag. Ach, Fuck.
„Wir setzen uns da auf die Bank.“ Sie setzen sich da auf eine Bank.
Sie sitzen.
„Was genau tun wir hier?“, fragt Karla nach ein paar Minuten.
„Auffällig sein“, kommt Grimms Antwort.
„Auffällig, indem wir auf einer Bank sitzen?“
„Auffällig, indem wir nichts kaufen und uns nichts ansehen. Auffällig, indem du als Norm-Girl mit einem stinkigem Hauer abhängst. Auffällig, indem du nen Verband im Gesicht und wir beide offene Cyberware haben, auch wenn ich nicht annehme, dass sie unsere Armprothesen sehen. Auffällig, indem … ach Scheiße, deren Mustererkennung müsste schon total grenzdebil UND deren Spinne total blind sein, um uns nicht mit ‚verdächtig’ zu markern, zumal ich außerdem ein verdammtes ‚EY LEUTE, HIER SITZT EIN VERURTEILTER VERBRECHER’ broadcaste.“
Karla checkt Grimms AROs, nachdem er ihr am Morgen ein „cleanes“ MetaLink mit WiFi an ihre Bildverbindung im Auge angebunden hat – oder bizarrerweise korrekter: indem er ihr verdammtes Auge als Peripheriegerät bei ihrem Kommlink angemeldet hat. In der Logik des WiFi ist das Wegwerfkommlink wichtiger als das persönliche Implantat, das nur ein Slave des Links ist.
Unschwer ist in der AR Grimms spezielle Identität zu erkennen – immerhin der Zweck der gerichtlichen Verpflichtung, die kriminelle SIN immer und zu jeder Zeit offen anzuzeigen. Erneut pulst ihr der Hinweis auf „gefährliche Implantate“ entgegen.
„Was sind das eigentlich für saugefährliche Implantate, die du da hast?“, fragt sie, um die Zeit bis zu ihrer wohl erwarteten Verhaftung zu überbrücken.
„Reflexbooster und Dermalpanzerung. Wäre zu teuer geworden, sie zu entfernen, also haben sie’s gelassen. Nicht illegal genug für Berliner Verhältnisse, um deswegen nen Aufriss zu machen. So was in der Art. Außerdem werdense gedacht haben, wo sie mich ja eh bei die Eier haben, dass jemand mit so Implantaten nen wertvolleren Asset darstellt als wer Halbtotes, den wo se beim Aufschlitzen und Ausräumen verpfuscht haben.“
„Was redest du plötzlich so?“
„Sorry. Meine Rolle. Sehe nämlich schon unser Publikum. Du bleib hier sitzen, aktivier deine Kamera und halt schön auf mich, also guck in meine Richtung und nicht auf deine Möpse.“
Karla will etwas extrem Unflätiges entgegnen, aber Grimm steht schon auf und winkt ab: „Halt deine Augen einfach stur auf mir. Wirste verstehen, wenn du mal Eyecam-Vids von nem Vollnoob gesehen hast der wo nich weiß wo er so am Tag alles hingafft.“
Grimm entfernt sich, doch nicht allzu weit. Er geht zu einer Billigtextilien-Ladenfront, schaut sich die Auslagen an und wirkt nun von außen betrachtet in hohem Maße normal; zückt sogar sein Komm und spricht hinein, während er interessiert den Laden entlangbummelt.
Die Security rückt in gerader Linie auf ihn an. Sechs Mann in dunkelblau, doch nicht im adretten Uniform-Look der immer hilfsbereiten Mall-Guides, sondern mit erkennbarer Panzerung und Helm. Zwei Mann spalten sich ab, halten auf Karla zu, doch deutlich weniger aggressiv als jenes Quartett, das nun fast bei Grimm angekommen ist.
Karla hält drauf. Der Wortwechsel zwischen Sicherheit und Orkshopper ist fast nicht vorhanden. Es wird direkt zugegriffen. Zwei mit Schlagstöcken, zwei sichern ab, Hände an der Schusswaffe. Der Orkshopper hebt abwehrend die Hände, blickt verständnislos. Vermutlich fragt er, warum sie ihm das antun. Vermutlich bittet er darum, aufzuhören. Zumindest sieht sein Gesicht so aus. Umso krasser die Reaktion der Wachleute: Schlag auf Schlag. Wütend jetzt. Karla hält drauf.
Die beiden Wachleute auf Kurs zu ihr sind angekommen, fordern sie – durchaus freundlich – auf, zu gehen. Karla hält weiter drauf, erhebt sich aber irritiert, zu einem Drittel schlau geschauspielert, einem Drittel in der Hoffnung, dass man irritierte Norm-Frauen nicht zusammenschlägt (sehr im Gegensatz zu leidend blickenden Orks, die sich jetzt sehr ehrlich verdrücken möchten) und einem Drittel, weil es sehr schwer ist, eine ungewohnte Cyberaugenkamera zu bedienen und dabei Konversation zu betreiben.
Sie muss sich etwas entfernen, sieht aber genug. Grimm der freundliche Orkshopper geht zu Boden, fängt sich noch zwei Tritte und zwei Taserschüsse zur Sicherheit, wird dann weggeschafft Richtung nächstgelegenem Ausgang. Vermutlich nicht der Mühe einer Befragung oder Verhaftung wert – warum auch? „Ey, warum haben Sie hier herumflaniert?“ Obwohl das aus Karlas Sicht eine ziemlich gute Frage ist.
Sie geht zu einem unweit gelegenen anderen Ausgang, umrundet draußen den Block und findet Grimms übel zugerichteten Körper zwischen zwei Müllcontainern, wie er gerade von ein paar Straßentypen ausgenommen wird. Da sie keine Waffe hat, ruft sie stattdessen die erste und einzige Nummer an, die Grimm in ihr Link eingespeichert hat.
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Karla steht vor Grimms Krankenbett in der Schwarzer-Stern-Klinik Eiswerder. Gottseidank war noch eines frei. Ihres, um's genau zu sagen.
Er hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Es schaut nicht so irre gut aus. Er ist alt. Alte Orks sterben leicht. Gell, Piet?
Der Mann im schäbigen Anzug steht auf, klopft sich den Hut ab und wendet sich zum Gehen. „Wenn ich was habe, melde ich mich. Das war sehr gute Arbeit, ähm …?“
„Karla. Mit K.“
„Okay, Karla mit K. Danke für den Chip. Aus dem Material sollte sich ein recht überzeugender Spot bauen lassen. Wird mir, denke ich, einige Kunden aus Orkkreisen bringen, die sich gegen Diskriminierung und Körperverletzung zur Wehr setzen wollen.“ Er lacht. „Irre, wie unschuldig und normal Grimm gucken kann. Hat ihm schon damals die Tür für den Deal geöffnet. Na ja, der wird schon wieder. Ist er bisher noch immer. Unverwüstlich, diese Hauer.“
Ferretti das Frettchen. Der Name passt. Ein schäbiger Anwalt mit schäbiger Masche, in einem schäbigen Geschäft in einer schäbigen Stadt. Er tippt sich an den Hut und geht. Er ist Norm, und irgendwie fühlt sich das eklig an.
Karla steht bei Grimms Bett und ist unschlüssig, was zu tun ist. Der Credstick ist in ihrer Hand warm geworden und hat genug Knete drauf, um ein ganz passables Weihnachtsfest zu feiern.
Es ist Heiligabend. Von draußen dringt das Johlen der Feiernden. Und irgendwo ist das siffige Sozialapartment eines Ork-Knackis, wo sie sich das Hirn vorm Trideo angenehm normal eintrocknen lassen könnte.
Aber irgendwie scheint es richtiger, hier zu stehen und am Bier zu nippen, das irgendein Pfleger ihr eben in die Hand gedrückt hat.
Frohe Weihnacht.
Ein anderes Leben
Eisige Vorzeichen
Westphalen, irgendwo an der Grenze zum Rhein-Ruhr-Megaplex, 23.12.2075, früher Abend
Polizeiobermeister Günther und Polizeimeister Wolpert waren nicht unbedingt in festlicher Stimmung. Eigentlich wollten beide bei ihren Familien sein, und etwas Schlaf vor der Weihnachtsmesse wäre auch angenehm gewesen. Immerhin hatten sie nicht direkt an Weihnachten Dienst. Es hätte also schlimmer sein können, auch wenn es eiskalt war und wie verrückt schneite. Womit ihr Auftrag eher unnötig wurde, schließlich war bei diesem Wetter niemand unterwegs. Jedenfalls war absolut nichts von der Invasion von Terroristen, Kindermördern, Sexualstraftätern, mutierten Metarassen, magischen Gefahren und sonstigen Katastrophen zu sehen, die Westphalen überrennen würden, wenn man nicht strikt Acht gab. Andererseits saß die Bischofsgarde in ihren Kasernen und Drohnen, und zahlreiche andere technische Optionen waren bei diesem Wetter von geringem Nutzen, man konnte also nie wissen. „Eigentlich können wir auch zur Wache zurück. Wir stehen hier schließlich seit vier Stunden rum, und uns sind keine gefährlichen Terroristen aus dem Teufelsloch RRP entgegengekommen, oder?“, sagte Wolpert und schnippte gegen den Plastikweihnachtsbaum, der am Rückspiegel hing. Womit er nicht ganz unrecht hatte – und Günther sah auch keinen wirklichen Grund, dazubleiben. „Lass uns noch ein paar Minuten warten, dann fahren wir zurück!“ Wie aufs Stichwort bog ein weißer Kleintransporter einer Lieferfirma aus einem Waldweg auf die Landstraße und fuhr an ihnen vorbei. „Automatische Identifikation fehlgeschlagen“, meldete das Bordsystem ihres Wagens ohne Rücksicht auf die Pläne der beiden. Polizeiobermeister Günther startete fluchend den Wagen, wendete ihn und schaltete das Blaulicht an. Bei minus 5 °C und dichtem Schneetreiben kam es leicht zu einem Versagen der mobilen Technik, und wahrscheinlich handelte es sich nur um ein paar arme Schweine, die noch auf den letzten Drücker Pakete und Bestellungen ausliefern mussten. Der Kleintransporter hielt bei der nächsten Möglichkeit am Straßenrand, und Gunther und Wolpert stiegen aus, um die lästige Kontrolle hinter sich zu bringen. Die beiden Mitarbeiter von InterWestphalia Transport hielten ihre Ausweise schon bereit. Ausgerechnet Wolpert kam auf die Idee, noch einen Blick in den Laderaum zu werfen. Gunther warf ihm einen genervten Blick zu. Erst vorzeitig den Posten verlassen wollen und dann auf den Vorschriften rumhacken. Der Fahrer und die beiden Polizisten gingen zitternd durch das Schneetreiben zur Ladetür. Während der Fahrer sich an der Tür zu schaffen machte, nahm sich Gunther Wolpert zur Brust. „Über das Thema Auslegung von Vorschriften reden wir bei Gelegenheit noch mal, Andi!“ Aus dem Laderaum riss sie eine Stimme herum. „Ich denke eher nicht, Herr Polizeiobermeister!“ Ein halbes Dutzend Maschinenpistolen und Sturmgewehre schossen die beiden Polizisten über den Haufen. Günther wusste nicht genau, was ihm passiert war. Eben stand er noch im Schneetreiben, und nun lag er bewegungsunfähig im Schnee und war zu schwach, um wieder aufzustehen. Eine Gestalt schob sich in sein Blickfeld. Irgendwoher kannte er das Gesicht und die Tattoos an den Handflächen. Gerhard Holt, Stellvertreter von Markus Stein, dem ehemaligen Theurgen und Anführer der Satanisten des Mitternachtszirkels, schoss dem Sterbenden zweimal ins Gesicht. „Okay Leute, wir haben nicht viel Zeit. Tony, Hans, schafft die beiden und ihren Wagen in den Wald. Man darf die beiden nur nicht zu schnell finden. Wir haben schließlich noch was vor! Unser geliebter Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und geistiger wie weltlicher Führer der DKK, Bischof Markus Domenikus von Rethagen, tötet sich schließlich nicht von alleine! Los, los, los!“ Holt umschloss fest sein altes Goldkreuz. Es war nur gerecht, dass Rethagen an dem Ort sterben würde, den Holt einst hätte leiten sollen, bevor er die Wahrheit erkannte und sich den Sehenden anschloss. Nur das Kreuz erinnerte noch an sein altes Leben. Er würde es zusammen mit Rethagen vernichten …
Heimkehr
Westphalen, Kloster Neu-Martini, Naturschutzgebiet Davert, 24.12.2075, vormittags
Solling hatte den unauffälligen Opel Luna einen Kilometer vor dem Kloster abgestellt. Wobei abgestellt nur halbwegs zutraf. Die Kälte war Gift für den Akku der europäischen Version des Jackrabbits, und er hatte sich dann doch wieder verschätzt, was die Reichweite anging. Er würde also nicht darum herumkommen, sich ein Akku-Pack zu borgen oder sich von jemandem zur nächsten Tankstelle bringen zu lassen. Das, der eisige Wind und das Schneetreiben hinderten Solling allerdings nicht daran, zufrieden durch den winterlichen Wald zu stapfen. Er war dick eingekleidet, und besonders weit war es ja auch nicht. Wie jedes Jahr suchte er nach Veränderungen und fand zu seiner Freude keine. Nach seinem zweiten Einsatz mit der MET2000 war er durchgedreht. Jedes Geräusch hatte ihn aufgeschreckt, und eine hastige Bewegung wurde umgehend zu einem Angriff. Er erzählte es zwar nicht jedem, aber als Landei aus Westphalen war ihm die große weite Welt da draußen schon immer etwas hektisch vorgekommen. Und als es zu viel geworden war, ging er zum einzigen Ort, von dem er annahm, dort Ruhe zu finden. Die Monate im Kloster bei den Mönchen von Neu-Martini hatten ihn gerettet. Und so kam er einmal im Jahr vorbei und gab zumindest ein wenig zurück. Das Kloster Neu-Martini lag friedlich wie immer vor ihm, nur eines störte ihn dann doch. Vor dem Torbogen stand ein verlassener Einsatztransporter der Bischofsgarde. Was gleich mehrfach merkwürdig war: Es gehörte nicht zu seiner jährlichen Routine, und warum sollte der Wagen hier überhaupt stehen, und wo waren die Insassen?
Solling atmete tief durch und unterdrückte die aufkommende Paranoia. Es würde dafür sicherlich eine Erklärung geben. Außerdem merkte er nun doch langsam die Kälte, weswegen er zügig durch den Torbogen zum Haupteingang ging und läutete. Die Tür öffnete sich, und Solling schaute in die Mündung einer Uzi IV. „Schau mal einer an, noch ein Weihnachtsmann! Das wird ja eine schöne Bescherung!“ Solling hob die Hände und wurde rüde abgeführt und zu einer Gruppe aus Mönchen gebracht, wo sich schon ein anderer Weihnachtsmann befand, wahrscheinlich Wittgers aus dem Ort knapp außerhalb des Naturschutzgebietes. Ein elegant gekleideter Norm mit Tattoos, der Solling irgendwoher bekannt vorkam, knöpfte sich den Klostervorsteher vor. „Wie viele Weihnachtsmänner haben wir denn noch zu erwarten? Ist aber eigentlich auch egal. Sperrt sie weg, ich will freie Schussbahn, wenn unser Ziel in einer halben Stunde hier eintrifft.“ Solling fiel wieder ein, wer der gut gekleidete Anführer der Bande war. Gerhard Holt war früher selbst im Dienst der katholischen Kirche gewesen, sogar hier in Neu-Martini, bis sein Drogenmissbrauch, die Veruntreuungen und andere kriminelle Aktivitäten aufgeflogen waren. Sogar da noch wollte die Kirche ihm Hilfe anbieten, aber Holt war untergetaucht und hatte sich dem Mitternachtszirkel angeschlossen. Einer von Holts Männern stupste ihn grinsend mit dem Lauf einer Waffe an. „Sollten wir uns nicht gleich um sie … kümmern?“ Holt schüttelte den Kopf. „Nein, vielleicht brauchen wir sie noch. Aber bewacht sie mit mindestens zwei Mann und checkt vorher noch mal den Keller, wir müssen Probleme ja nicht auch noch provozieren, Tony.“ Tony nickte und fing an, die Herde in Richtung der Kellergewölbe zu treiben. „Los, ihr Katholenbande, dann wollen wir euch mal verstauen! Hans, schau dich noch mal gründlich im Keller um.“ Solling zog sich seinen weißen Rauschebart herunter, der ihn langsam doch störte, und sprach im Kreis der Gefangenen einen der Ordensbrüder an, um herauszufinden, was hier eigentlich genau los war, denn dieser Überfall ergab so gar keinen Sinn. „Bischof Rethagen kommt vor der großen Messe hierher, um etwas Ruhe zu finden. Er müsste bald hier sein, und weil er dem Trubel entfliehen wollte, sind nur wenige Wachen eingeplant. Schließlich war sein Terminplan geheim!“ Solling nickte. Was bedeutete, dass hier keiner lebend rauskommen würde. Er schaute Wittger an, der sich noch mal umschaute und gedanklich die Optionen durchging. „Rock 'n' Roll, anderen Ausweg seh ich nicht, Solling. Ich hoffe, du hast dich so fit gehalten, wie ich das mit meinem Traumkörper getan habe.“ Er wusste, dass Wittger im Gegensatz zu ihm kein Kissen unter seinem Mantel trug, um der Figur des Weihnachtsmannes genug Schwere zu geben. Aber Wittger konnte schon auf sich selbst aufpassen. Bischofsgardisten verlernten auch im Ruhestand nichts. Der Kampf durfte bloß nicht zu lange dauern. „Hey, ihr Idioten, hört auf zu labern!“, schnauzte Tony sie an, woraufhin Wittger anfing, schallend zu lachen, was Tony gar nicht witzig zu finden schien. Er stampfte wütend auf Wittger zu und schlug ihn mit der Schulterstütze seines Sturmgewehrs. Darauf hatte Solling gewartet. Er ließ seine Cyberklingen herausschnappen und rammte sie Tony in den Hals, der daraufhin gurgelnd zu Boden ging. „Was zur Hölle …“ Hans war aus dem Keller zurückgekommen und sah einen blutbesudelten Weihnachtsmann mit ausgefahrenen Cyberklingen und Tony, der zuckend am Boden liegend vor sich hin suppte. Hans lud durch und legte an. Eine Salve hallte durch die sakralen Hallen. Hans schaute vollkommen entgeistert an sich herunter, sah die Einschusslöcher und sackte zusammen. Solling schaute zu Wittger, der kniend immer noch das AK-97 im Anschlag hielt. „Ich dachte, du schießt gar nicht mehr, Wittger.“ Wittger schnaubte Solling an, behielt aber weiter die Umgebung im Auge. Solling nahm sich Tonys Uzi und überprüfte sie. „Bruder Michael, bringen Sie die Herde bitte in den Keller und verschließen Sie die Tür, das hier wird gleich ziemlich unschön werden!“ Als die Mönche sich in den Keller begaben, hörte Solling laute Schritte näherkommen. Wittger stieß einen freudigen Laut aus. Er hatte in Tonys Rucksack Handgranaten gefunden. „Ich sagte doch Rock 'n' Roll, Solling!“
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Der Helikopter vom Typ Hughes Aerospace Emblem wühlte sich durch die Schneemassen über Neu-Martini, während Bischof Rethagen sich letzte Notizen machte, bevor er endlich etwas abschalten konnte. Eine aufgeregte Diskussion zwischen den Piloten und seinen Sicherheitsleuten ließ Rethagen hellhörig werden, und er begab sich zum Cockpit. Der Grund der Diskussion war unübersehbar. Das Kloster rauchte an einigen Stellen, an denen es nicht rauchen sollte, und im Innenhof standen zwei blutverschmierte Weihnachtsmänner mit automatischen Waffen in der Hand, die drei gefesselte Männer in Schach hielten. Einer davon war der grimmig dreinblickende Gerhard Holt, einer der meistgesuchten Männer in Westphalen. Rethagen wandte sich trotz der Proteste seiner Sicherheitsleute an den Piloten. „Landen Sie. Diese Bescherung will ich mir wirklich nicht entgehen lassen!“