Shadowrun

Eine Geschichte von Andreas "AAS" Schroth
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Fletscher

[Berlin-Spandau, 03.11.2082, 21:12:33 Uhr]

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“

Nachdem sie die Datei, die er ihr geschickt hatte, mit offenkundig wachsendem Missfallen in einem viel zu kleinen Display gelesen hatte, warf sie ihr Kommlink wütend auf den Tisch.

„Fletsch, das kannst du nicht machen.“

Die schlanke, weißhaarige Trollin vor ihm blickte ihn mit funkelnden Augen an. Jurek hatte keine Ahnung, ob sie wirklich eine zu klein geratene Riesin war, wie manche meinten, oder eine auffallend normalmenschlich proportionierte Trollin okayer Größe, die irgendwie nicht altern wollte – im Moment war sie wütend, und frustriert, und enttäuscht, und … müde, wie er halt auch.

„Ich kann das nicht nur machen, ich muss das machen“, stellte Fletscher düster fest.

Nur noch sehr entfernt konnte er sich an jene Tage erinnern, in denen er ein heißsporniger Widerstandskämpfer in Polen gewesen war – und auch die Zeit, als er Chef der autonomen Inselfestung Eiswerder war, im ewigen Balancieren zwischen anarchistischen Extremisten und Interessenvertretern der normalen Spandauer Bevölkerung, kam ihm immer ferner vor.

2077 hatten ihn die Spandauer zum neuen Abgeordneten ihres Bezirks gewählt. Anfang 2078 hatte er – immer ein überzeugter Verfechter direkter Bürgerbeteiligung – per Volksentscheid „seinen“ Bezirk in den Status einer Alternativen Bezirks geführt. Als Politiker im Berliner System hatte er von der ohnehin schwierigen Führung der Anarcho-Insel Eiswerder zurücktreten müssen. Dass sich die dortigen Autonomen gegen seinen Wunschnachfolger Dr. Rosinski von der Schwarzer-Stern-Klinik Eiswerder und für die weit radikalere Anarchistin und Anführerin der Eisheiligen-Gang ausgesprochen hatten, war seine erste schwere Niederlage. Die Erste von vielen, die danach folgen sollten.

„Das wird Chaos in Spandau geben. Völlige Eskalation. Hast du mit Pflügler darüber gesprochen? Mit Safiya?“ Fienchen griff nach ihrem Bier – einer Trollsize-Literdose „Schwarzer Stern“, von der sie immer einige Exemplare dabeizuhaben schien – und hielt sie an ihre Lippen („kirschrot und schön“, dachte Fletscher), ohne zu trinken. Sie wartete auf seine Antwort.

„Ooh ja. Pflügler, Özgün, Talabani, sogar Zöller, Jandorf, Wojenko und ihre heilige Kladower Hoheit Fatima Al Hashimi – mit Ausnahme der Scheiß-CVP-Schlampe Wegener habe ich mit allen gesprochen, und alle spammen mich mit weisen Worten, Warnungen, süßen Worten und frommen Wünschen zu. Aber es ändert nichts: Zur nächsten Spandauer Bezirkswahl 2083 nicht mehr anzutreten ist der einzig sinnvolle Move.“

Ein Tippen auf den mit Videofolie bezogenen Arbeitstisch seines Büros im Rathaus Spandau rief eine Reihe von Einblendungen auf. Er blinzelte, dachte an einen technischen Fehler, aber sie wurden sofort wieder scharf, zusammen mit dem Rest des Zimmers. Chatverläufe, Artikel, kalt grinsende Fressen geschminkter DeMeKo-Moderatoren, das wütende Gesicht von Leila Talabani, wie sie in die Kamera schrie, die Ergebnisse der just vergangenen Berlin-Wahl im Oktober 2082 – Jurek hätte das Ganze im dreidimensionalen AR-Raum noch wesentlich effektvoller ausbreiten können, wusste aber, dass die dem Äußeren nach junge Trollin im Inneren ein noch größeres Fossil war als er selbst.

Man war auch in der Sechsten Welt tatsächlich so alt, wie man sich fühlte („Fühlen Sie sich zehn Jahre jünger. Mit D-Agophin von Z-IC. Jetzt auch als Zäpfchen!“).

„Noch mal, Fiene: Tatsache ist, dass wir Kladow verlieren werden. Das haben mir Hashimi und Wegener neben ein paar anderen Leuten, die hier die Trümpfe in der Hand haben, mehr als klargemacht. Und ja, hätten sie Nordin gestifft, sähe das anders aus – aber seit der Wahl vor ein paar Tagen ist sie Bezirksabgeordnete in Tegel, was das Thema vom Gebietsabritt-Verrat auf Jahre heiß in der Hassliste der Fundis oben halten wird.“

Fienchen wollte etwas sagen, aber Fletscher hielt ihr die Stopp-Hand hin.

„Und ja, ich weiß, ich könnte das stoppen, indem ich dies betreffende Abstimmungen blocke und die Kampagne der Kladower und Potsdamer abwürge. Aber das geht gegen alles, woran ich glaube.“

Fletscher

Er seufzte und nahm einen weiteren Schluck Wein, ehe er fortfuhr (Tír Lacrima Pinot Noir Reserva 2041, vermutlich das Geschenk irgendeines Arschlochs, dessen abscheuliches Bauprojekt im Kolk oder sonst wo eh nicht aufzuhalten war und an dessen Geschmack er gerade echten Gefallen fand). Er lachte freudlos.

„Schon lustig. Ausgerechnet die Jandorf war von all diesen Geldpissern die Erste, die vorschlug, das vielseitig geforderte Volksbegehren von Kladow-Potsdam abzuwürgen.“

Fienchen zog eine Augenbraue hoch und nahm endlich selbst einen tiefen Zug aus ihrer überdimensionierten Bierbüchse. Da Fletscher offenbar in Gedanken war, sagte sie leise: „Na ja, Jandorf war die ADL-Diplomatin, mit der Pflügler und Özgün zusammen den Waffenstillstand und die folgende Berliner Einheit verhandelten. Schätze, nicht mal die hat ein Interesse daran, dass Berlin zur Hölle geht.“

Fletscher lachte. Ein grelles, kurzes, schnaubendes, bereits beim Ansatz von Frustration abgewürgtes Lachen. Er hustete und erschrak so sehr vor sich selbst, dass er nachgoss und das nächste Glas direkt exte.

„Die Sache ist ganz einfach. Unschön, aber einfach: Solange ich hier im Rathaus sitze, driftet Eiswerder immer mehr in die Radikalität ab. Zu Beginn gab es auch dank meiner Fürsprache viele, die bereit waren, Leila eine Chance zu geben. Aber du kennst sie ja – sie hat jede Hand ausgeschlagen, jedem, der auch nur geringste Konzernverbindungen hat, in die Fresse gerotzt – bei Gott, ich hab sie oft beneidet – und es wird immer unwahrscheinlicher, dass Eiswerder auch in Zukunft ignoriert wird.“

Ein weiteres Glas füllte sich und wurde geleert, während Fletscher versuchte, das latente Lallen in seiner Stimme in den Griff zu kriegen. Vermutlich hatte die süße Fiene es eh nicht gehört.

„Drek. Leilana hat immer wieder Geschütze offen gezeigt, die nach offiziellen Abkommen längsdns demontiert und abgeliefert wurden. Selbst das verfiggde PsiAid und Wojenko warn breid, das zu ignorieren, aber nach den Tridbildern zum letzten Tag der Offenen Insl im Somma war jeder Goodwill absolut aufgeraucht. Und wenn ich dazu was sagen wollde – mit Ängelszungn, verdammd –, wah ich der dreggskorrupte Politigga und Anarchoverrädah, als der ich im Grunde seit meiner Wahl zum Spandauer BA diffamiert werde.“

Fletschers Gesicht verdüsterte sich.

„Nein. Leila muss…ss wegg. Ich muss wieder nach Eiswerder. Ich gann in diesem verdammten Radhaus nichts für unsere Sache erreichen, und hinter mir wird alles abgerissen, was ich in zwanzig Jahren in der Stadt aufgebaut habe.“

Fienchen beobachtete ihn sehr aufmerksam, das Gesicht nun nicht mehr wütend, sondern von einer tiefen Trauer und Frustration erfüllt, die er nur zu gut kannte.

„Ich bin hier feddich, Fianna.“

Der Satz war schrecklich in seiner Endgültigkeit.

„Und ich hier auch, Jurek.“

Sie stand auf. Wirkte plötzlich um so viel größer als er, obwohl er sie um gut zwei Köpfe überragte.

„Ich versteh dich ja sogar, irgendwie“, sagte sie. So viel Trauer in ihrem Blick. „Schätze ich.“ Sie nahm ihre Jacke. „Und ja, mag sein, dass du die nächste Wahl nicht gewinnen kannst, wenn du sie nach den bestehenden BERVAG-Betrugsregeln durchziehst. Aber ich verstehe nicht, warum du das tust … führen wir diesen Bullshit in Lichtenberg ja nicht durch … nie verstanden, was deine Aufgabe als BA eines Alternativen Bezirks … sein, dass eine Kampfklärung mit den Eiswerder- und Lynar-Leuten … hörst mir ja eh nicht zu …“

Fletscher nahm noch wahr, dass sein Gegenüber ging. Der Knall der Tür zu seinem Büro ließ ihn noch mal aus der warmen Umarmung des Rausches auftauchen, die viel zu schnell, viel zu heftig gekommen war, als ein paar kleine Gläschen Wein verursachen konnten, selbst wenn man den Cognac und die paar Biere des Tages dazuzählte – und die paar Joints, die er gehabt hatte, nachdem er die blöden Bürokraten und die unnötigen Termine am Nachmittag ertragen hatte …

Alles war warm. Und freundlich.

Es würde alles okay sein.

Irgendwann.

Und im rechten Licht betrachtet kam Spandau prima ohne ihn zurecht.

„Wer hat mir diese Flasche hervorragenden Weins geschenkt?“, war der letzte Gedanke, den Jurek „Fletscher“ Kowalczyk in dieser Welt hatte.

B1LIVE 04.11.2082
Spandauer Bürgermeister Fletscher
TOT MIT 64

Am gestrigen Abend verstarb der Spandauer Bürgermeister Jurek „Fletscher“ Kowalczyk durch Herzinfarkt. Mitarbeiter seines Büros fanden den betagten Troll in seinem Büro im Rathaus Spandau zwischen mehreren Flaschen alkoholischer Getränke und anderer Drogen. Auf seinem Schreibtisch befand sich die geöffnete Datei eines Entwurfs zu einem offenbar von ihm geplanten Schreiben, in dem er ankündigen wollte, zur nächsten Wahl im Herbst 2083 nicht erneut als Spandauer Bürgermeister antreten zu wollen. Fletscher wurde umgehend ins Krankenhaus Havelhöhe in Neu-Kladow verbracht, das im Bezirk über die besten technischen Möglichkeiten zur Reanimation verfügt. Nach 22 Minuten intensiver Versuche der Wiederbelebung wurde er durch die Ärzte für tot erklärt. Seine Beisetzung wird den Wünschen des Verstorbenen entsprechend auf dem Friedhof „In den Kisseln“ im früheren Spandau – nun Aztech-Schönwalde – stattfinden. Das genaue Datum wird noch bekannt gegeben. Bis zur Bestimmung eines offiziellen Nachfolgers per vorgezogener Neuwahl wird mangels einer Nachfolgebestimmung seitens des Verstorbenen (eine zwar ungewöhnliche, in alternativen Bezirken aber übliche Praxis) Dr. Katrin Lara Wegener (CVP) als Zweitplatzierte der Bezirkswahl 2080 die Geschäfte im Bezirk übernehmen. [MEHR]