Shadowrun

Eine Geschichte von Daniel Jennewein
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

A-Hörnchen

[München-Altstadt, 05.11.2082, 07:58:25 Uhr]

„Nach der wilden Schießerei im Perlacher Einkaufsparadies PEP (lies hier den Bericht!) kommt Neuperlach einfach nicht zur Ruhe: Einer der Überlebenden, der beliebte Reisebuchautor Heribert Moosleitner, wurde heute Opfer einer Gasexplosion. Am Hans-Seidel-Platz im Herzen der Sonderverwaltungszone kam es im Sozialbau, in dem auch der Autor wohnte, zu einer Verpuffung in der Gastherme seiner Wohnung. Moosleitner starb infolge der Explosion, drei weitere Anwohner wurden leicht verletzt. Laut Einsatzleiter der Freiwilligen Zonenfeuerwehr, Orhan Miller, dürfte das Mehrfamilienhaus für die übrigen Bewohner noch heute wieder freigegeben werden. Ursache des Unglücks dürften die schlechte Wartung und der generell dürftige Zustand der veralteten Installationen sein. Dutzende Blumen und AR-Beileidsbekundungen zieren den Eingang des Gewofag-Baus. Wie sich bei der Begehung der Wohnung herausstellte, handelt es sich bei Moosleitner um den in den Schatten bekannten Kommentator „A-Hörnchen“. Sandra Kilic, Pressesprecherin der Polizei, meldete, dass gegen den Toten keine Verfahren anhängig seien und es sich daher lediglich um eine traurige Anekdote handele. Der beliebte Autor war offenbar auch in halbseidenen Kreisen ein umtriebiger und geschätzter Szenekenner. Über den weiteren Verbleib der sterblichen Überreste Moosleitners konnte die Polizei noch keine Angaben machen.

Sehen Sie jetzt …“

Euphemia Leon, die SchickieQueen, schaltete die Live-Übertragung ab und blickte zu ihrem Gast: „Ich habe mich umgehört. Den Verletzten im Perlacher Krankenhaus geht es gut: Prellungen, Schürfwunden und eine kleinflächige Verbrennung. Die werden wieder. Das macht es nur noch ein wenig glaubwürdiger.“

Der Troll nickte, während er aus dem verspiegelten Fenster auf den Viktualienmarkt blickte: „Ich werde München vermissen: Die Schickeriaschnösel auf der Leopold. Den Leberkäse unten beim Willi. Ein erstes Augustiner im Biergarten, wenn die Frühlingssonne erwacht …“ Ein Seufzen ertönte und der riesige Körper des Mannes erbebte. Er ließ den Kopf hängen und seine Hörner stießen dumpf gegen die gepanzerte Scheibe.

Leon stand auf und legte dem Troll die Hand auf den Unterarm: „Nimm’s nicht so schwer. Sie haben eine Schlacht gewonnen, aber noch lange nicht den Krieg! So ist es sicherer für dich. Und wenn wir ihnen den Arsch aufgerissen haben, kommst du zurück.“ Ihre Stimme war sicher und ohne Zweifel, auch wenn es in ihrem Inneren nicht ganz so rosig aussah. Die letzten Tage hatten nicht nur die Stadt und den Freistaat erschüttert. Die gesamte Welt blutete, denn die Disianer kamen aus der Deckung und schlugen wild um sich. Optimisten hielten es für eine Verzweiflungstat, die Pessimisten jedoch vermuteten, dass die Außerweltlichen schlicht ihre Tarnung aufgaben, weil sie sie nicht mehr brauchten. Euphemia war noch nie optimistisch gewesen.

Langsam schüttelte der Troll den Kopf: „Nein. Meine Zeit in den Schatten ist vorbei. Heribert Moosleitner ist tot und A-Hörnchen hat seinen letzten Kommentar gepostet. Ich bin alt. Ich mag nicht mehr diese ständige Angst. Gestern waren es die Djorovics, heute diese Sphärenpisser. Und morgen? Ich kann einfach nicht mehr. Ich habe immer versucht, mich aus euren Geschäften rauszuhalten. War nur ein interessierter Beobachter. Ich fand die Schatten … wildromantisch. Aber das sind sie nicht. Sie sind einfach nur dunkel und kalt und dreckig. Ich hatte eine SIN, einen Job, ein Einkommen. Sechs Monate im Jahr auf Reisen. Ich hab’ so viel gesehen. Und doch bin ich immer wieder heim nach München. Zurück zu den Asphaltcowboys, der Wiesn und dem Alpenblick. Ich wurde hier geboren und dachte, ich sterbe hier …“

Er seufzte erneut und straffte sich dann doch. Drehte sich um und blickte in Euphemia Leons Augen: „Die Welt ist so groß und ich hab’ dank dir noch ein bisschen was auf der hohen Kante. Auf meine alten Tage fahr ich ans Mittelmeer. Vielleicht eine griechische Insel?“ Er grinste breit. „Grüß Verona von mir und erklär es ihr. Sie wird es verstehen. Die anderen werden eh nicht lange trauern. Dazu sterben momentan einfach zu viele …“

Sein Lächeln wurde traurig, als er einladend die Arme ausbreitete. Euphemia ließ sich nicht dazu hinreißen, die Umarmung anzunehmen, und beließ es bei einem Nicken und einem Lächeln. „Du hattest ein wenig Bakschisch zur Seite gelegt für einen Stein auf dem Südfriedhof. Bleibt es dabei?“

Nun wurde aus dem Lächeln ein Grinsen, als A-Hörnchen nickte: „Jawoll, dabei bleibt’s! Mach’s gut, Kleine. Pass’ auf dich auf!“

Der Troll packte einen großen Seesack und verließ das Penthouse. Euphemia stand noch lange am Fenster, sah, wie er auf dem Markt in die Schmankerlgasse einbog und sich vom Willi noch eine Semmel holte. Dann verschwand er in Richtung Marienplatz. Die gefälschte SIN war brandneu und hatte sie einige Gefallen gekostet, aber damit hatte er gute Chancen, lebend hier rauszukommen.