Eine Geschichte von Frank Plenert
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Kurt
[Oberhausen, 03.11.2082]
Es war einer dieser Tage, die man besser im Bett verbringen sollte. Der Alarm des Weckers schrillte in seinem Kopf. Kurt erwachte aus tiefem Schlaf und fragte sich in Panik, was der Grund für den Weckruf war. Seine alten Zeiss-Augen aktivierten sich und auf der Bildverbindung stand „Montag, 02.11.2082 – Treffen mit Schraube, dienstlich“. „Shit“, dachte Kurt, das war gestern, vergessen, den Wecker zurückzusetzen. Nun, wo er schon mal wach war, beschloss er, aufzustehen. Im selben Moment, als er das Gefühl hatte, barfuß in etwas Ekelhaftem zu stehen, roch er es auch schon. Sein Blick fiel auf die große Lache erbrochenes Katzenfutter mit Thunfischgeschmack. Kater Maestro hatte die neue Sorte wohl nicht vertragen und sich formlos direkt vor Kurts Bett beschwert. Er hinkte ins Bad, bemüht, keine Spur durch die Wohnung zu ziehen. Zum Dank schlug er sich den unverschmutzten Fuß am Türrahmen, ruderte um Halt und fand ihn. Nun musste er nicht nur den Boden putzen, sondern auch noch den Thunfischabdruck von der Wand bekommen.
Missmutig biss er in einen Proteinriegel, Geschmacksrichtung abgelaufen und Sonderangebot. Der Grund für das Unwohlsein des Katers war wohl derselbe, weshalb alle Lebensmittel im Kühlschrank abgelaufen waren. Das Ding hatte den Geist aufgegeben. Und da er, genervt von der ständigen Werbung, die Nachrichten des Geräts auf seine Blacklist gesetzt hatte, hatte er die Warnung wohl nicht erhalten. Dass ihm an der Tasse mit dem letzten Soykaff im Haus beim Einschenken der Henkel abgebrochen war, war schon fast nicht mehr erwähnenswert. Kurt seufzte. Putzen, dann einkaufen und dann mit Fish treffen. Die Deckerin wollte ein paar Dinge wissen und ein paar Fotos machen, um seine SIN etwas aufzumöbeln. Die Identität hielt nun schon seit gut fünf Jahren, aber sie brauchte etwas Tuning. Familienbilder, ein paar Arztbesuche und Käufe von Dingen, die normale Leute eben so kaufen und machen. Und was ein Kurt Wegmann wohl auch machen würde, würde es ihn denn geben.
Er verließ die Wohnung. Irgendjemand hatte wohl mal wieder eine Stange Wasser, oder mehrere, ins Treppenhaus gestellt. Egal. Die Randalekids, die heute Nacht hier durchgekommen waren, hatten mehr Schaden angerichtet. Hausmeisterin Anne empfing ihn schon mit einem Kopfschütteln, als er auf die Tiefgarage zuhielt. „Vergiss es, Kurt. Die sind mit einer gestohlenen Karre in das Tor der Garage geknallt. Ich muss erst schweres Werkzeug besorgen, damit das wieder aufgeht“. Kurt nickte. Und dachte darüber nach, dass eine Rückkehr ins Bett eine Option wäre. Dann dachte er an den leeren Kühlschrank und verwarf die Idee wieder. „Is gut, Anne, ich fahr mit der U-Bahn nach Oberhausen rein“, antworte er. „Na, schon Weihnachtsgeschenke kaufen? Im Stern?“, fragte Anne. „Genau!“, gab Kurt zurück, der keinen Bock auf ein weiteres Gespräch hatte. Sonst fragte sie noch, wie es ihm gehe, und er war in der Stimmung für eine ehrliche Antwort.
„Aufgrund eines Personenschadens fallen bis auf weiteres alle Züge in Richtung Oberhausen aus.“ Kurt registrierte die synthetische Stimme in seinem Ohr und orderte beim Kioskbesitzer direkt zwei kleine Schnapsflaschen nach. „Na, Frust?“, fragte dieser. „Ne, Weihnachtsgeschenk!“, erwiderte Kurt. Dann knurrte er: „Heute läuft’s einfach.“ „Ja, heute sind wieder alle verrückt geworden. In Duisburg soll ein Hubschrauber abgeschossen worden sein. In Dortmund soll einer ’ne Giftgasbombe ins Feenviertel geworfen haben. Und in Neu-Essen ist Alarmbereitschaft, meint, da kommt gerade keiner rein noch raus. Und es ist Verkehrschaos auf dem Ruhr-Schnellweg.“ Der Kioskbesitzer lachte über seinen eigenen Scherz. „Ja, machste nix dran“, erwiderte Kurt. Irgendetwas in ihm fand Genugtuung daran, dass andere heute auch kein Glück hatten. Giftgas? Und wer holte am helllichten Tag einen Hubschrauber vom Himmel? Er verdiente zwar auch mit illegalen Dingen sein Geld, aber was waren ein paar Spitzeleien und der Verkauf von Infos im Vergleich zu dem, was die harten Leute in dem Geschäft veranstalteten?
Vor dem Stern-Kaufhaus in Oberhausen war der Vorplatz schon gesperrt. Ein paar Arbeitende mühten sich, einen gewaltigen, künstlichen Tannenbaum in den Farben von Ruhrmetall aufzurichten. „Klar, mit Weihnachtsmarkt kann man gar nicht früh genug anfangen. Warum nicht schon in der ersten Novemberwoche?!“, dachte Kurt bei sich, als ihn etwas mitten ins Gesicht traf. Alte Kampfreflexe erwachten und er warf sich rückwärts und rollte dann hinter einige Paletten. „Respekt, alter Mann, Respekt! Und sorry.“ Eine junge Zwergin in Arbeitskleidung kam zu ihm rüber, lässig einen Kaugummi kauend. Sie sammelte die Schneeballdrohne ein, die dort lag, wo Kurt gerade noch gestanden hatte. Kurt erhob sich auch. Er wischte sich den AR-Schnee von der virtuellen Oberfläche seiner Jacke und aus dem Gesicht. Die Riggerin zwinkerte ihm noch einmal entschuldigend zu und ging über den Platz. Ein Dutzend der runden, weißen Drohnen folgten ihr.
Im Stern wurden bereits Vorkehrungen getroffen, die Fläche in der Mittelachse des Gebäudes in eine Eisfläche zu verwandeln. Noch konnte man aber durch das Glas nach unten in die U-Bahnstation schauen. Kurt sah aber lieber nach oben, entlang der gläsernen Fahrstühle das Atrium hinaus. Licht flutete durch die Fenster und Lichtleitsystem hinein. Er verharrte einen Moment und wartete, dass irgendetwas passierte. Nichts. Leute strömten an ihm vorbei. Die Sicherheit zog ihre Bahnen, ohne ihn zu behelligen. Und keiner der künstlichen Eiszapfen fiel auf ihn herab. Kurt seufzte und machte sich auf den Weg in den dritten Stock.
Im Café „Aquarium“ kochten sie einen guten Kaffee. Sogar echten, wenn man das Kleingeld aufbringen wollte. Aber auch der Soykaff hatte ein tolles Aroma. Dazu ein Stück Apfel-Zimt-Rolle. Langsam besserte sich seine Laune. Im Restaurant auf der anderen Seite sah er einige Leute in MET-Uniformen sitzen, andere in Trikon-Konzernanzügen. Er zuckte mit den Schultern. Unvermeidlich in Oberhausen. Dann schaute er sich im Café um. Das Publikum war deutlich ziviler und jünger. Jedenfalls jünger als er. Auch einige sehr attraktive Menschen waren darunter. Dann verstellte Fish ihm die Sicht. „Tagträume?“, fragte sie und setzte sich ihm gegenüber. „Das Leben schuldet mir heute noch einiges und der Anblick ist schon mal ein Anfang“, erwiderte Kurt.
Alsbald waren sie in ein Gespräch vertieft. Der kleine White-Noise-Generator sorgte für eine gewisse Privatsphäre. Immerhin ging es um die Kunst des Fälschens. Man besprach sind, wie die Vita des nicht existenten Kurt Wegmann wohl weiter verlaufen könnte. Routinebusiness, aber sehr angenehm. Nicht nur, dass er sich so etwas gerne ausdachte. Auch die Anwesenheit von Fish war eindeutig auf der Habenseite an diesem Tag. Er mochte sie. Und sie mochte ihn. Das war auch schon ausgesprochen worden. Und auch wenn es nie zu einer Beziehung geführt hatte, konnte er der gemeinsamen Zeit mehr abgewinnen als nur eine gute Unterhaltung. Und heute Morgen hatte er noch im Bett bleiben wollen! Versonnen bestellte er noch zwei Kaffee. Echte.
Aus dem Augenwinkel sah er eine Kreatur mit zwei Köpfen aus der Tür des Restaurants gegenüber schlurfen.
Dann explodierten die Scheiben des Cafés und etwas Schweres traf ihn am Kopf. Blackout.
„Wie die Ruhrmetall-Konzernsicherheit am Mittag mitteilte, reiht sich ein Bombenanschlag im Stern-Kaufhaus nahtlos in die jüngste Serie von Anschlägen ein, die im gesamten Ruhrgebiet um sich greift. Nach Angaben des Konzerns kamen dabei ein nicht näher genanntes Exekutivmitglied der Trikon Holding AG und mehrere Mitglieder der MET2000 ums Leben, dazu Dutzende Zivilisten. Man geht davon aus, dass kriminelle Terroristen aus der sogenannten Schattenszene hinter dem Anschlag stecken. Die Leichen zweier Terroristen wurden am Tatort gefunden. Die weibliche Terroristin soll Verbindungen zu linken Terroristennetzwerken unterhalten. Der zweite Tote stellte sich als bekannter Privatermittler heraus, der sich bisher unter der Tarnidentität Kurt Wegmann verbarg. Hinweise zu weiteren Tätern nimmt jede Polizeidienststelle oder die Konzernsicherheitszentrale entgegen.
Ob ein Zusammenhang zu den anderen Anschlägen besteht, konnte noch nicht mit Sicherheit gesagt werden. Der Sprecher der Polizei, Tobias Korn, bestätigte jedoch, dass alle Untersuchungen in Richtung der Schattenszene laufen würden und sich alle Hinweise in diese Richtung verdichten.“