Eine Geschichte von Bastian Kosfeld
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Sid7.6
[Bad Neuenahr, Gimmigen, 05.11.2082, 09:30:05 Uhr]
Ein gewöhnlicher Tag, so hat es angefangen. Sid erhebt sich aus seinem Bett, unternimmt einen kurzen Ausflug ins Bad und setzt sich anschließend mit einem leckeren Soykaff in die Matrix, um sich über die neuesten Entwicklungen zu informieren, Aufbausimulationen abzuarbeiten und sich danach an die Bestellungen seiner Klienten zu setzen. Einer seiner Kontakte meldet ihm, dass ein paar interessante Waren „vom Laster“ gefallen seien, und lädt ihn ein, sich die Sachen anzuschauen. Vielleicht ist ja etwas Brauchbares für ihn dabei.
Es winkt ein lukratives Geschäft, daher ist die in der Nähe von Kaiserslautern genannte Adresse schnell ins Navi eingetragen und Sid macht sich mit dem Auto auf den Weg. Nach einer Weile muss Sid den Soykaff wegbringen und fährt die nächste Raststätte mit einem McDöner an. Die Herrentoiletten sind besetzt, sodass Sid sich an eines der Pissoirs stellt. Ein weiterer Metamensch betritt die Örtlichkeiten, bleibt hinter Sid stehen. Kurz darauf verspürt Sid einen kleinen Piks am Hals und wenige Momente später dreht sich ihm alles und ihm wird schwarz vor Augen.
[unbekannt, 05.11.2082, Zeit unbekannt]
Ein kontinuierliches Tropfgeräusch. Langsam kommt Sid wieder zu Bewusstsein. Es ist dunkel, feucht und kalt. Er verspürt rauen Stoff auf seinem Gesicht, spürt Druck an Handgelenken und Knöcheln, der Versuch der Bewegung erhöht nur das Druckempfinden. Noch benommen und zu keinem klaren Gedanken fähig, driftet er wieder in einen Schlaf.
Eine Veränderung der Geräuschkulisse. Sind da Stimmen? Hier ist doch jemand, fährt es Sid durch den Kopf, als er langsam zu sich kommt. Die Dunkelheit ist einer spärlichen Beleuchtung gewichen und vereinzelt dringen Lichtstrahlen durch die Fasern des Jutebeutels, der über seinen Kopf gestülpt ist. Ihm wird klar, dass er an einen Stuhl gefesselt ist. Seine leichten Bewegungsversuche bleiben nicht unbemerkt, denn es richtet sich eine weibliche Stimme an ihn. Eine Stimme, zum einen angenehm, zum anderen wie tausend Nadelstiche ins Herz.
„Es scheint, unser Gast weilt wieder unter uns. Ich bin mir sicher, wir werden uns in nächster Zeit sehr gut kennenlernen und sein wahres Ich offenlegen. Fangt an!“
Auf diese Worte hin kommt mehr Bewegung in den Raum. Sid wird von links und rechts gepackt. Es sind kräftige Griffe, die ihn und den Stuhl mit Leichtigkeit anheben und bewegen. Platsch. Sid trifft es wie ein Schlag, eiskalte Flüssigkeit durchtränkt schnell den Beutel und die Kälte schmerzt bereits nach wenigen Augenblicken auf der Haut. Kopfüber wird er in ein Becken voll kalten Wassers gehalten. Kann sich nicht wehren, ist ihnen ausgeliefert. Kann nicht atmen! Nach etwa einer Minute wird er endlich wieder angehoben. Hastig und dankbar für neuen Sauerstoff atmet Sid schnell aus und wieder ein. Doch lange währt dieser Moment nicht und schon wird er wieder ins Wasser getaucht. Die Prozedur wiederholt sich, wieder und wieder. Wie oft, kann Sid nicht zählen, aber die Tortur findet ein Ende.
Er wird wieder abgestellt, die Hände an seinen Seiten lassen ihn los. Mit schwacher Stimme fragt Sid: „Was wollt ihr von mir?“
„Die Fragen stelle ich. Und noch ist es nicht so weit“, entgegnet die weibliche Stimme, die vielleicht drei Meter von ihm entfernt zu sein scheint. Er hört Schritte, die den Raum verlassen. Bald darauf ist es wieder dunkel und er ist allein. Seine Gedanken kreisen. Drek! In welche Scheiße bin ich geraten? Ist mir der graue Ford Americar ab Waldorf doch gefolgt? Kam der Pisser vom Klo aus der Karre? Was wollen die von mir? Bleib stark … bleib stark … Langsam fällt er, von den Strapazen erschöpft, trotz des kalten nassen Sacks in einen tiefen Schlaf.
Durch einen plötzlichen Schmerz wird er aus dem Schlaf gerissen. Sein ganzer Körper zittert und schmerzt. An seinen Brustwarzen spürt er den starken Druck von kalten Metallklemmen. Brrzzzt. Erneut geht ein Stromstoß durch seinen Körper. Er hört Schmerzensschreie, die Stimme ist seine. Er reißt die Augen auf, sieht durch die kleinen Maschen der feuchten Jutefasern die Umrisse von drei Personen, zwei davon kräftig, die in der Mitte von eher zierlicher Statur, im mittlerweile wieder beleuchteten Raum. Brrzzzt. Wieder durchfährt ein stechender Schmerz Sids Körper. Noch sieben weitere Male wird er geschockt, dann richtet sich wieder die weibliche Stimme an ihn. „Wie ist dein Name?“
„FICK DICH!“, schreit Sid in ihre Richtung. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Wieder wird er mit Stromstößen bearbeitet. „Wie ist dein Name?“ – „FICK DICH!“ So geht es weitere Male, wobei Sids „Fick dich“ immer schwerer und gebrochener über seine Lippen kommt. „Ich frage dich noch einmal, wie ist dein Name?“ Sid schweigt. „Oh, hat es dir etwa die Stimme verschlagen? Wie außerordentlich bedauerlich. Nun, wir haben viele Tage Zeit, nicht wahr?“, entgegnet die weibliche Stimme. Die Klemmen werden von seinen Brustwarzen abgenommen. Doch der Schmerz bleibt bestehen, ein intensiver Schmerz von versengter Haut. Es wird dunkel im Raum und Sid verliert das Bewusstsein.
In den kommenden Tagen wiederholt sich Sids Spezialbehandlung auf unterschiedliche Arten. Mal ist es wieder das Wasserbecken, dann wieder die Stromschläge, auch Schläge und Schlafentzug kommen zum Einsatz. Zuletzt wird ein Bolzenschneider verwendet. Auf keine der Fragen hat er je eine echte Antwort gegeben. Den Raum hat Sid in einem Sack verlassen, und dieser Sack fand im Verbrennungsofen eines Krematoriums seinen letzten Ruheplatz …