Shadowrun

Eine Geschichte von Jeannie Heinzmann
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Jablonsky

[Marienbad, Trivezi, 04.11.2082, 22:38:56 Uhr]

Die Sirenen sind verstummt, aber das Blaulicht scheint hell durch die halb geschlossenen Jalousien. Wir sind nicht die Ersten am Tatort. Die Streife hat die Wohnungstür aufgebrochen, den Tatort gesichert und alle Lichter eingeschaltet. Die Beweissicherung kümmert sich schon um alles, auch wenn den meisten noch gar nicht klar ist, was hier welche Relevanz für den Fall hat. Was wir schon wissen: Jablonsky ist tot. Mausetot. Nachdem ich bei meiner Ankunft eine junge Kollegin gesehen habe, wie sie in die Büsche kotzt, bin ich ganz froh, dass die Leiche schon auf dem Weg in die Gerichtsmedizin ist. Muss übel ausgesehen haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal in den Privaträumen des Taliskrämers stehe, bei dem meine Mutter und ich, als ich klein war, jede Menge magischen Schnickschnack gekauft haben. Aber egal, wie sehr sie versucht hat, eine magische Begabung aus mir herauszukitzeln, dafür war ich nicht bestimmt.

Ich streife die Handschuhe über. „Was wissen wir schon?“

„Nicht viel, Frau Kommissar. War übel zugerichtet, als wir hier ankamen, nahezu zerfetzt. Dafür sieht das Haus echt okay aus, na ja, abgesehen von dem Blut hier überall. Meine Vermutung ist, er konnte, was auch immer das getan hat, abschütteln und ist dann hier seinen Wunden erlegen. Wie es dazu kommen konnte? Keinen blassen Schimmer.“

„Was suchen wir eigentlich, Kommissarin Fišer?“, wendet sich einer aus der Beweissicherung an mich.

„Das weiß ich noch nicht, Mensen.“ Er muss neu sein, er scheint noch nicht gewöhnt daran, dass er mit dem Namen auf seinem Namensschild angesprochen wird. „Tüten Sie alles ein, was auf die kürzlichen Aktivitäten von Jablonsky schließen lässt. Aber seien Sie vorsichtig, sprechen Sie sich mit der Magiesicherungseinheit ab, der Kerl war ein renommierter Taliskrämer unserer Stadt. Wir wollen ihm zwar Respekt erweisen, aber wir wissen nicht, worin er alles verwickelt war und vor allem, welche seiner Spielzeuge hier auf magische Weise manipuliert wurden.“

In der Hoffnung auf etwas Ruhe schalte ich die Hintergrundmusik meines Kommlinks ein und beginne, mich umzusehen. Das Licht erhellt kaum den ganzen Raum, was ich in diesen Zeiten immer ungewöhnlich finde. Aber als Zwerg, klar, braucht man es nicht heller.

Im Wohnzimmer steht ein großes Terrarium, aus dem mich mehrere Marienbader Starrkröten mit großen Augen anschauen. Einige kleben an der Scheibe, andere sitzen unter den großen Blättern der Pflanzen. Immer wieder quaken sie arhythmisch. Ich zeichne die Laute kurz auf und lasse sie dann von meinem Audiofilter ausblenden. Solange das Aquarium zu und richtig gesichert ist, interessieren mich diese Frösche nicht.

Das Arbeitszimmer ist eine Mischung aus Bibliothek und mineralischer Sammlung. Über die eine Wand ziehen sich Bücherregale mit wissenschaftlichen Werken, über die andere Vitrinen voller Steine verschiedenster Art. Eine doppelflüglige Glastür führt von hier aus in den Garten. Dieser ist sehr gepflegt. Überall sind Beete angelegt und fein säuberlich mit Bezeichnungen beschriftet, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört habe. „Passt auf, fasst nichts an, von dem ihr nicht wisst, was es ist!“, weise ich die Spurensicherung an. „Vermutlich ist das meiste hier draußen uninteressant.“ Mit dem großen Gewächshaus werde ich mich später befassen. Am besten lasse ich mir eine Führung geben, wenn die Parabotaniker eintreffen. Das ist wirklich nicht mein Fachgebiet. Ich gehe rüber zu der kleinen Hütte, die im Schatten eines großen Baumes steht und großteils überwuchert zu sein scheint. Die Tür ist verschlossen, noch hat sich keiner getraut, sie aufzubrechen. Ich schaue durchs Fenster und erblicke etwas, was das Kind in mir vor Freude zum Lachen bringt. Natürlich nur innerlich. Durchs Fenster schaue ich in das schönste kleine Refugium, das ich je gesehen habe. Das ist wirklich kein Vergleich mit den Büchern und dem, was meine Mutter immer mal wieder zu Hause aufgebaut hat. Es ist so fein eingerichtet und dekoriert, es gibt nichts, was hier nicht seinen Platz hat. Auch innen schlängeln sich Pflanzen über alle Wände, Bücher stehen in Stapeln auf dem Boden, angebrannte Kerzen in verschiedensten Kerzenhaltern …

„Frau Kommissarin?“

„Ja?“. Ich schrecke aus meinen Gedanken und drehe mich um.

„Wir haben die Waffenkammer gefunden.“ Schweigend begleite ich den Polizeibeamten zurück ins Haus. Ich hatte so gehofft, dass Jablonsky jemand war, der in nichts Illegales verwickelt war. Aber wie groß war die Chance? Wir gehen in den Keller hinunter und durch eine Tür, die offenbar gut in der Wand verborgen war. Als ich mich umsehe, bin ich fast ein bisschen erleichtert. Keine Granaten, keine Raketenwerfer. Nicht das ganz illegale Zeug, für das die Medien seine Reputation auch nach seinem Ableben noch zerstören würden. Hauptsächlich Pistolen, ein paar Automatische und eine gute Sammlung an Jagdgewehren. Nichts allzu Verwerfliches. „Alles sichern, katalogisieren und ab damit zu den Beweisen. Gibt’s schon was Neues aus der Gerichtsmedizin?“ Allgemeines Kopfschütteln. Na gut, weitersuchen.

Ich durchstreife noch mal gründlich jeden Raum des kleinen Hauses. Das aufgeräumte Schlafzimmer, in dem für meinen Geschmack alles etwas zu ordentlich ist (und zu klein, wegen der Zwergengröße). Das Bad, zwar nicht frisch geputzt, aber auch nicht eklig, mit Topfpflanzen, die in verschiedenen Farben leuchten. Eine Küche, die dem alchemistischen Labor eines Hexenzirkels gleicht, mit Gewürzen, die ich noch nie im Leben gesehen habe. Die Wände hängen voller Regale mit unbeschrifteten Tontöpfen voller Kräuter, Pulver und Flüssigkeiten. Ein Wohnzimmer, etwas altmodisch eingerichtet, aber gemütlich. Und Blut, eine ganze Menge, auf dem Teppich im Hausflur, von der Haustür bis ins Wohnzimmer, wo er mitten im Raum verendet ist.

Mein Kommlink meldet sich. Die Gerichtsmedizin hat erste Fotos der Obduktion geschickt. Ich öffne sie kurz in der AR und – fuck. So was habe selbst ich noch nie gesehen. Der Körper des Zwerges ist kaum wiederzuerkennen. Sein Brustkorb ist übersät von Fleischwunden und blauen Flecken. Sein rechter Arm steht unnatürlich zur Seite und bei genauem Hinschauen kann ich sehen, dass sich sein Unterarmknochen durch die Haut nach außen gebohrt hat. An seiner Schulter fehlt ein größeres Stück Fleisch und im Gesicht hat er unzählige Kratzer. Doktor Svoboda hat auch wenig dazu geschrieben: Das war kein Mensch.

Ich gehe nach draußen. „Habt ihr was im Wagen gefunden?“ Der Kollege nickt und führt mich zu einem unserer Dienstwagen.

„Jagdgewehr mit Zielfernrohr. Hat auch etwas Blut abbekommen, ich vermute, es ist sein eigenes. Einige Kisten Munition. Aber alles legal. Ich weiß wirklich nicht, was er gejagt hat, dass ihn so zurichten würde.“

„Können wir nachvollziehen, wo er sich aufgehalten hat?“

„Wir werden’s versuchen, Frau Kommissar. Aber je enger seine Verbindung in die Schatten war – und ich will ja nicht mutmaßen, aber seien wir ehrlich, es ist realistisch –, desto schwerer wird es uns fallen. Ich glaube kaum, dass er einfach das GPS in seinem Kommlink an hatte.“

„In Ordnung. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich fahre nach Hause.“

[Marienbad, Polizeidirektion, 05.11.2082, 07:12:31 Uhr]

Ich stelle meinen Kaffee auf meinem Schreibtisch ab, an dem Dr. Svoboda aus der Gerichtsmedizin schon auf mich wartet. „Wie war die Nachtschicht?“ Sie lacht trocken.

„Viel zu tun. Nicht viel zu finden. Alles, was ich sagen kann, ist, dass das ein extrem großes, grausames Tier gewesen sein muss. Scharfe Klauen, Fangzähne, höllische Kraft. Es hat Jablonsky brutal zugerichtet und ihn ja schließlich auch das Leben gekostet. Was wollte er bloß da draußen?“

„Wissen wir inzwischen, wo er war?“

„Noch nichts Genaues. Ich habe einige Tannennadeln und Dreck an seinen Schuhen und seiner Kleidung gefunden. Wir gleichen es mit den Daten der lokalen Förster und Jagdpächter ab, vielleicht finden wir da irgendwas.“

„Hoffentlich. Ich muss heute Abend ganz Auerbach erzählen, dass ihr liebster stadtbekannter Taliskrämer trotz Ruhestand brutal zerfetzt wurde. Da brauch ich eine gescheite Erklärung.“

[Marienbad, Okres Fojtsko, 05.11.2082, 11:47:10 Uhr]

Wir sind direkt mit zwei Wagen rausgefahren, nur zur Sicherheit. Die Tannennadeln von Jablonskys Kleidung konnten zu einem bestimmten Wald hier in der Nähe zurückverfolgt werden und der zuständige Jäger hat uns verraten, dass die Psohlavci auf seinem Stück in letzter Zeit besonders aktiv sind. Die Wolfsgestaltwandler fallen in dieser Gegend immer wieder über den (Para-)Wildbestand her. Jablonsky wollte das im Auge behalten und hat den Jäger gebeten, seinen Hochsitz nutzen zu dürfen. Zuerst sieht alles recht friedlich aus. Aber sobald wir von dem kleinen Waldweg abgehen, bietet sich uns ein anderes Bild: Jede Menge umgetretene Büsche und Sträucher, kleine Bäume sind abgeknickt, es sind richtige Schneisen im Dickicht. Am Hochsitz angekommen, lasse ich einen der Beamten hinaufklettern. „Was sehen Sie, Malý?“

„Sieht aus, als hätte es jemand eilig gehabt. Eine Flasche Wasser, eine Tasche, ein Fernglas und Nachtsichtgerät. Oh, und …“, er hebt etwas mit einer Pinzette auf und tütet es ein, „eine Patronenhülse.“

„Können wir nachvollziehen, in welche Richtung geschossen wurde?“ Malý schaut sich um.

„Norden oder Westen. Die anderen Richtungen kann man von hier aus nicht einsehen. Also entweder Richtung Feld, wo wir herkamen, oder weiter nördlich in den Wald hinein.“

Es dauert nicht lange, bis wir finden, wonach wir gesucht haben. Ich setze einen Funkspruch ab: „Schicken Sie die Spurensicherung und Gerichtsmedizin zu meiner letzten Position, wir haben den Tatort gefunden.“

Das Gras ist rot vom Blut.

Ich zähle ein, zwei, drei (oder sind es vier?) tote Psohlavci. Alle noch schlimmer zugerichtet, als Jablonsky es war. Dazwischen ein Damhirschkadaver, der brutal ausgeweidet wurde. Und ein … ich weiß nicht genau, was das ist. Ein Monster. Es ist größer als die meisten Trolle, die ich kenne, und die Haut… ist fast schon ein Panzer wie der eines Hummers. Arme und Beine sind übersät von Haaren und die Hände enden in scharfen Krallen. Aus dem großen Maul hängt eine schlangenartige Zunge und gibt den Blick auf mehrere Reihen scharfer Zähne frei. Der Kopf sieht einem Wolf noch am ähnlichsten. So was Abartiges habe ich noch nie gesehen.

[Marienbad, Rathaus Trivezi, 05.11.2082, 19:00:01 Uhr]

„Liebe Gemeinde. Mit Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass wir einen unserer geschätzten Bürger verloren haben. Tomáš Jablonsky war zu seinen Lebzeiten eine Bereicherung für die Stadt. Ich selbst habe viele Stunden in seinem Laden verbracht, als ich klein war. Umso mehr schmerzt es mich, zu verkünden, dass er einem Wildunfall zum Opfer fiel. Er geriet bei der Jagd in eine gefährliche Nahkampfsituation und erlag später seinen Wunden. Mein Beileid geht an seine Familie und alle, die ihn kannten. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an unsere Pressesprecherin Zoe Tichá.“

Ich steige wieder ins Auto und mein Partner startet den Motor. „Wildunfall? Dein Ernst?“, sagt Sebastian kurz angebunden.

„Das ist Bürokratie. Ich kann ganz Auerbach wohl kaum erzählen, dass Monster in ihren Wäldern leben und ihren Lieblingszwerg komplett auseinandergenommen haben. Lass uns jetzt nach Hause fahren. Ich brauch echt ’ne Mütze Schlaf.“

[Marienbad, Polizeidirektion, 11.11.2082, 04:03:42 Uhr]

Wenn ich nur letzte Woche schon gewusst hätte, was noch auf uns zukommen würde …