Eine Geschichte von Andreas "AAS" Schroth
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Assel
[Berlin-Reinickendorf, 08.11.2082, 10:20:23 Uhr]
Zu seinem Erstaunen existierte der Asselkeller noch, als er den abgeschotteten, gepanzerten, klimakontrollierten Schlafsarg mit eigener Lebenserhaltung im Keller seiner Runnerkneipe in Reinickendorf verließ.
Wie so oft stand er verloren zwischen den Spuren der vergangenen Nacht, die Luft schwer von kaltem Rauch, der Boden klebrig unter seinen Füßen, all die schönen AR-Feeds, Videofolien und Leuchtelemente ausgeschaltet bis auf eine trübe Bodenleiste, die gerade genug Licht erzeugte, dass seine Cyberaugen die Gesamtszenerie in sich aufnehmen konnten.
Er wollte nicht gehen.
Es hatte im Laufe der Jahre mehr als genug Anlässe gegeben, einfach zu verschwinden: Der Status F selbst, der Sturm der Konzerne auf Berlin, Operation Just Cause, die von den meisten unbeachteten Massaker in Reinickendorf nach Errichtung des „Friedens“ in Berlin, der allzu vorhersehbare „Verrat“ der Reinickendorfer Abgeordneten Sofia Nordin, dazwischen der Krieg der Vory gegen sich selbst und jeden, den sie verdächtigten, sich die Gargari-Millionen geschnappt zu haben oder sich jetzt einen Teil ihres Biz aneignen zu wollen … was war jetzt also schon groß anders als früher?
Asseln waren hart zu killen.
Er schlich durch das Chaos einer ganz normalen Nacht im Asselkeller. Griff sich den Stummel einer Hasch-Zigarette, in der noch gut drei Züge drin sein mochten – zu heiß, nicht schmackhaft, vermutlich ohne Kick, denn das gute Zeug wird weiter vorne verbaut –, und begann, Dosen und Flaschen einzusammeln, die Nase rümpfend, wenn er eine allzu volle fand – Verschwendung! –, deren Inhalt er dann in sich selbst entsorgte.
Am Tresen angekommen, wo er zwei Arme voll Leergut abstellte und auf einen Barhocker kletterte, um Pause zu machen, fiel sein Blick auf sein Antlitz im Spiegel hinter der Bar.
Müde sah er aus. Das war nichts Neues. Aber er sah auch gehetzt aus, ausgezehrt – jemand, der, obwohl er kaum körperlich herausragend aktiv war, einfach „durch“ war.
Vor fünf (sechs?) Tagen trafen ihn die Nachrichten von den ersten Opfern, den ersten Primärzielen der Disianer-Verschwörung – und egal, wie froh und erleichtert Assel war, noch immer zu leben: In einer sehr, sehr düsteren Ecke seines Selbst war er persönlich beleidigt, dass ihm selbst kein Killer-Kommando oder einer dieser lebendigen Albträume namens „Chimären“ auf die Pelle gehetzt worden war.
Bisher.
Einer spontanen Eingebung folgend, ging er hinter die Theke, bückte sich zum Kühlschrank mit den „besonderen Flaschen“ – teilweise seine privaten, teilweise die Flaschen guter Kunden, deren Lieblingsgift in keiner normalen Bar zu kriegen war – und fingerte von ganz hinten eine unscheinbare Schnapsflasche ohne Label hervor.
Mit der Routine vieler Kneipenjahrzehnte zog er mit den Zähnen den Stopfen aus dem Flaschenhals, spuckte ein paar Brösel Wachs und Kunstkorken aus und sog den scharfen Geruch der klaren Flüssigkeit ein.
2032. Fünfzig Jahre her.
Er hatte sich nie dazu aufraffen können, die Flasche zu trinken – nicht einmal in seinen schwärzesten Stunden, nicht auf den Tod eines der viel zu vielen Weggefährten, die er verloren hatte, nicht im Überschwang eines knapp überlebten Runs oder zur Feier eines legendären Datenklaus.
Heute. Es würde heute sein.
Einen letzten Blick durch den Asselkeller werfend, goss er den Inhalt der Flasche auf dem Tresen aus. Einige weitere Flaschen Alkohol achtlos zerschlagend, ging er zügig Richtung Ausgang, zündete sich eine Kippe an und schleuderte das Benzinfeuerzeug achtlos hinter sich.
Er hörte das charakteristische „Wooosch“ von Feuer plus Brandbeschleuniger, ehe die zuschlagende Metalltür hinter ihm alle Geräusche abrupt abriss.
Glassplitter knirschten unter seinen Kampfstiefeln, als er den müllbedeckten Hof überquerte, an seinem Auto vorbei, das er nicht mehr brauchen würde.
Per Gedankenkommando rief er das Menü seines Cyberdecks auf, das noch immer im Asselkeller lag, und aktivierte eine vor vielen Jahren programmierte Routine.
16,79 Sekunden später verschwand der Nutzer .asl für immer aus der Matrix.
Vielleicht würde er sich „Schabe“ nennen, dachte er lächelnd, während er sein Kommlink zerbrach und ein frisches aus seiner Manteltasche nahm.