Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Susanne Lamprecht
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Der erste Drache

Japan, 24.12.2011

Erleichtert ließ sich Akira in den Sitz des Zuges fallen und ignorierte, so wie immer, die indignierten Blicke der japanischen Pendler um sie herum. Als Halb-Japanerin mit deutschen Wurzeln war sie daran gewöhnt. Sie kramte die Kopfhörer aus ihrer Handtasche und steckte sie in die Ohren, um das laute Geschnatter um sich herum ausblenden zu können. Mädchen, die von der Universität nach Hause fuhren. Konzernsekretärinnen, die ihren Feierabend mit dem neuesten Klatsch über einen jungen Manager verbrachten. Gediegene Geschäftsleute, die betont höflich nicht direkt starrten.

Sie schaltete den kleinen MP3-Player ein und regelte die Lautstärke hoch, bis sie die japanischen Stimmen nicht länger wahrnehmen konnte. Die deutsche Stimme des Hörbuchs, das sie derzeit anhörte, übertönte die Geräusche um sie herum. Ein Urban-Fantasy Roman, in dem die reale Welt nur durch einen dünnen Schleier von der Magie und dem Übernatürlichen getrennt war. Sie hatte schon das Buch verschlungen, und als das Hörbuch erschien, hatte sie alles daran gesetzt es zu bekommen.

Akira lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und betrachtete für einen Moment ihr verräterisches Spiegelbild. Die grün-goldenen Augen waren größer und runder, die Haut blass. Das Haar war es allerdings, was sie wirklich verriet. Von Natur aus war es braun, mit einem deutlich sichtbaren Rotstich und kringelte sich widerspenstig, wenn sie es nicht täglich mit dem Glätteisen malträtierte.

Energisch schloss sie die Augen und entspannte sich, um ein weiteres Mal der Reise ihrer Lieblingscharaktere zu folgen. Sie mussten sich mit Drachen, Feen und bösen Magiern in den Straßen von London herumschlagen. Die Geschichte zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Wie schade, dass so etwas nicht real war. Sie ließ sich von der Stimme aus den Kopfhörern einlullen und versuchte sich vorzustellen, wie Feen und Drachen wohl aussehen würden, wenn sie sich in der echten Welt verbergen mussten. Würden sie freundlich und weise sein, oder eher böse, wie in den alten Geschichten?

Der Zug fraß die Kilometer, während sie sich ein Leben vorstellte, das magischer wäre als ihr eigenes. Ihr Leben spielte sich zwischen der Universität und dem Konzern ab, in dem sie praktische Einheiten für ihr Studium absolvierte. Ihre Abende verbrachte sie mit Büchern, Filmen und ihrem Computer. Sie war eine Fremde in dem Land, in dem sie geboren worden war. Ihr blieb kaum etwas anderes übrig.

Wie würde sie sein, wenn dieses magischere Leben real wäre? Würde sie immer noch so fremd hier sein? Vermutlich. Die japanische Kultur änderte sich nicht, und sie blieb nun einmal ein Mischling.

Als sie die Augen wieder aufmachte, war noch alles normal. Sie beobachtete die Landschaft, die an den Fenstern vorbeiflog. In ihrem Roman erzählte der Vorleser gerade, wie die Heldengruppe den Drachenförmigen Schatten auf dem Boden wahrnahm. Akira musste müder sein als sie gedacht hatte, denn sie nahm ebenfalls einen Schatten wahr. Nicht in der Form der Drachen, die in der Geschichte beschrieben wurden. Ein Schatten in der Form der hiesigen Drachen aus den Legenden. Sie lächelte. Ihre Fantasie war immer noch lebendig. Die Menschen um sie herum begannen sich panisch umzusehen, ohne dass sie einen Grund dafür ausmachen konnte. Aber auch sie fühlte sich, als würde etwas sich im hinteren Bereich ihres Verstands regen. Angst machte ihr das aber nicht. Es war der Ort, der kribbelte, wenn sie zeichnete oder sich Geschichten ausdachte.

Der Schatten kam näher, und weiter hinten im Zug machte sich Aufregung breit. Panische Schreie, verwunderte Rufe. Die Geräusche von Menschen und Gepäck, das auf den Boden fiel. Sie sah sich um, um die Quelle für die Unruhe auszumachen, konnte aber auf Anhieb nichts entdecken. Als sie den Blick wieder aus dem Fenster richtete, schob sich eine silberne, schuppenbedeckte Nase in ihr Blickfeld. Akira starrte es an. Selbst ihr Verstand, der ansonsten bereit war, alle Seltsamkeiten zu akzeptieren, brauchte eine Weile, um zu verarbeiten, was sie sah. Der riesige Kopf schob sich weiter vor. Obwohl es vermutlich blitzschnell ging, zog sich der Moment für sie ewig hin. Stück für Stück konnte sie mehr von dem Kopf sehen, bis er das gesamte Fenster ausfüllte. Sein goldenes Auge hatte eine geschlitzte Pupille und dunklere Linien, die sich von der Pupille zu einem dunklen Ring um die Iris ausbreiteten.

Jedes Detail des Auges und der umgebenden Schuppen brannte sich in ihre Erinnerung ein. Sie streckte die Hand aus und legte die Fingerspitzen an die Fensterscheibe. Sie brannte darauf, den Kopf zu berühren, die Konsistenz der Schuppen zu spüren und zu erfahren, ob er warm oder kalt war. Waren die Schuppen rau, oder so glatt wie das schillernde Silber vermuten ließ? Die Nickhaut – eine typische Erscheinung bei Echsen – schloss sich kurz über seinem Auge und sie konnte etwas belustigtes fühlen. Die Belustigung brachte sie wieder zum Lächeln. Sie konnte die Panik und Unruhe nicht verstehen. Wenn der Drache sie hätte fressen wollen, dann hätte er es schon längst getan. So groß wie sein Auge war, musste er riesig sein. Viel größer als der Zug, den er vermutlich für eine Konservendose hielt. Die Belustigung verstärkte sich.

Seine Nase schob sich weiter vor, Der Kopf verschwand aus ihrem Sichtfeld und sie konnte den sich windenden, riesigen Körper bewundern. Licht spielte auf seinen Schuppen, als er Geschwindigkeit aufnahm und abdrehte, um davon zu fliegen. Die Regung in ihrem Hinterkopf verschwand und ließ sie mit einer unglaublichen Leere zurück. Es war, als hätte er etwas mit sich genommen. Diese Präsenz im Hintergrund ihres Verstands war fort – und sie war traurig darüber. Sehnsüchtig sah sie ihm hinterher, und während sie noch trauerte, hörte sie die umgebenden Menschen reden. Sie berichteten ihren Freunden und ihrer Familie am Handy über das, was gerade geschehen war. Aufgeregt und verängstigt.

Als der Zug in ihren Bahnhof einfuhr, war Akira merkwürdig ruhig. Sie wusste nicht, was hier passiert war, aber sie wusste, dass die Welt, in der sie aus dem Zug ausstieg, nicht länger die war, in der sie den Zug betreten hatte. Sie verließ den Bahnhof und richtete den Blick gen Himmel. Alles würde sich verändern. Hoffentlich zum Besseren.