Eine Kurzgeschichte von Daniel Jennewein
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024
Geschichten aus dem Hasenbergl: Niko – Teil 1
Die Gefängnistore schließen sich krachend hinter mir und ich stehe auf der Stadelheimer Straße. Über der Schulter hängt ein Sack mit einigen Habseligkeiten und der Kleidung, die ich vor einem knappen Jahr bei meiner Festnahme trug. Verona hat mir vorgestern ein paar Klamotten geschickt, und so bin ich nun zwar pleite aber zumindest modisch wieder up to date.
Mein Kommlink meldet mir, dass der interne Speicher überfüllt sei und ein Dutzend interner Fehler den Betrieb einschränken. Updates überfällig, Abos gekündigt und überhaupt die alten Netzanmeldungsdaten werden nicht mehr akzeptiert und daher würde sich das Gerät momentan in einem öffentlichen Gitter befinden. Die künstliche Stimme des Agenten klingt regelrecht angeekelt. Er wird sich wohl oder übel daran gewöhnen müssen. Nach dem die gepimpte Löschroutine mein Postfach von Spam und Altlasten befreit hat, trudeln neue Nachrichten ein. Zethos lädt mich ein, ihn zu besuchen. Verdammter Wichser! Ich schiebe die Nachricht außer Sicht, lösche sie aber nicht sofort. Man kann nie wissen.
Weihnachten steht vor der Tür und ich frage mich nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen ob ich Adam wirklich unter die Augen treten will. Mein Vater hat seit meiner Festnahme keinen Kontakt mit mir gesucht und ich habe mich ebenfalls davor gehütet, mich bei ihm auszuheulen. Von meiner frühzeitigen Entlassung kann er also gar nichts wissen. Wenn es ihn überhaupt interessiert. Wohin allerdings soll ich sonst? Es gibt die Freunde mit Familien, denen ich in dieser Zeit des Jahres nicht zur Last fallen kann und da sind Bekannte wie Zethos, von denen ich überhaupt nicht weiß ob ich jemals wieder Kontakt zu ihnen haben will. Ich bin nicht allein aber es fühlt sich verdammt noch mal so an.
Kein Selbstmitleid jetzt, Niko!
Ich setze mich in Bewegung und steuere die U1 am St.-Quirin-Platz an. In einer halben Stunde werde ich am OEZ sein und von dort ist es nur noch ein kurzer Fußmarsch ins Hasenbergl.
Als ich in der Untergrundbahn sitze, fällt mir auf, dass die beiden Sonderverwaltungszonen Münchens direkt durch diese Linie verbunden sind. Gerade einmal 25 Minuten von einem Ende des Elends zum anderen. Offiziell ist Großried auch eine SVZ aber seien wir ehrlich, wer einmal in Bunny Hill oder Perlach war, weiß dass der Südwesten des Münchner Metroplexes dagegen das Schlaraffenland ist.
Die Ubahn ist voll und auch wenn ich nur ein paar Monate hinter Gittern verbracht habe, so sind die vielen Metamenschen um mich herum doch ungewohnt und beunruhigen mich. Obwohl ich es hätte besser wissen müssen, hatte sogar ich ein völlig falsches Bild vom Knastalltag. Keine Vorstellung von der Langeweile, der Isolation und der ständigen Anspannung.
Nun bin ich wieder frei aber ich bin auch gebrandmarkt. Meine SIN ist nicht mehr sauber. Ein vorbestrafter Krimineller. Ich kann es Adam wirklich nicht verübeln, dass er enttäusch von seinem Sohn ist. Aber hatten wir wirklich geglaubt, dass ich es außerhalb der Zone schaffen würde?
Schon mein erstes Weihnachtsfest stand unter keinem guten Stern.
Aus den Holografien meines Vaters und unseren Gesprächen weiß ich, dass wir Heiligabend zwischen Umzugskartons und gepackten Koffern feierten. Mein Vater hatte sich wirklich bemüht und war mit uns gleich nach dem Frühstück in das katholische Gemeindezentrum gegangen. Nach dem Gottesdienst hatte er meine Schwester und mich in die Obhut der Sozialarbeiter gegeben und war selbst nach Hause um alles für den Nachmittag vorzubereiten.
Vater erzählte später immer wieder, dass Marina schon halb fünf auf dem Rückweg nach Hause angeblich den Abendstern sah, obwohl es in Laim, wie überall in München, natürlich viel zu hell war um Sterne zu sehen.
Daheim hatte Vater versucht für meine Schwester und sich eine ganze Wigilia zu kochen und wäre damit natürlich allein gescheitert. Doch zu dieser Zeit gab es in der Straße eine gut funktionierende polnische Nachbarschaft und angeblich warteten nach einigen Tauschgeschäften und Geschenken unserer Nachbarn auf die beiden alle zwölf traditionellen Gänge und die Holos zeigen einen reich gedeckten Tisch. Ich habe ihn vor einigen Jahren gefragt, warum er nicht mit uns bei einer der benachbarten Familien feierte, wir wurden doch sicher von vielen eingeladen den heiligen Abend mit ihnen zu verbringen. Ich erntete nur wie so oft Schweigen und glaube, er wollte zu diesem Zeitpunkt nicht wahrhaben, dass mit Mutters Verschwinden auch unsere kleine Familie keine mehr war.
So aßen Marina und Adam ihre letzte Wigilia ohne es zu wissen, denn in den nächsten Jahren würde es für uns keine Einladungen mehr geben.
Vater spricht nur selten von unserer Zeit in Laim. Es muss schön gewesen sein: wir hatten nicht viel aber wir lebten in Sicherheit. Marina ging auf eine öffentliche Schule und meine Eltern hatten Arbeit. Verdienten einen Lohn und erhielten Anerkennung und Bedeutung. Mein Vater war bei einem alten Spengler in die Lehre gegangen und hatte vor einigen Jahren seine Werkstatt geerbt. Er war nach vielen Jahren der Flucht und der Suche hier in München angekommen. Auch Mutter verdiente Geld auch wenn Adam mir nie erzählte, was genau ihre Arbeit gewesen war. Ich selbst hatte sie nie wirklich kennengelernt, da sie uns verließ als ich gerade sechs Monate alt war.
Kurz vor Weihnachten am 29. November hatten meine Eltern den Räumungsbefehl für ihre Wohnung und die Werkstatt erhalten. Zusammen mit einem Scheck über 200.000 Euro. Adam meinte einmal, dass es zu viel war. Hätte er nicht von seinem alten Meister die Werkstatt geerbt, wären wir wie viele andere mit wenigen hundert Euro „Umzugshilfe“ abgespeist worden. Fuchis Neue Bavaria hatte im Hasenbergl im Eiltempo große Blöcke errichten lassen um den Bürgern eine neue Heimat zu bieten. Mehr als 50.000 Bürger wurden zwangsumgesiedelt. Mitten in München. Weil sich ein paar Execs dachten, dass das Laimer Viertel ein prächtiges Stadtkriegsgebiet abgeben würde für die jüngst gegründeten Asphaltcowboys.
So vieles hat sich seit damals geändert. Die Bavaria wanderte nach Fuchis Ende in die Schmuckschatulle von NeoNET und konnte sich nach deren Zusammenbruch sogar als eigenständiger Konzern emanzipieren. Und die Cowboys gehören nun auch nicht mehr Renraku, die sie Ende der 50er aufkauften, sondern den Schwarzen Sheriffs, die nunmehr auch keine Tochter des Japanokons mehr sind. Vielleicht ist das der Grund warum ich dem Urban Brawl Verein gegenüber keinen Groll hege und ihre Spiele stattdessen wie sie viele andere Münchner begeistert feiere. Die Cowboys können nun wirklich nichts dafür, dass die Bavaria damals unsere Familie zerstörte.
Denn die größte Veränderung für unsere Familie brachte der Scheck des Konzerns. Meine Mutter entschloss, dass dies ihre große Chance war ein neues Leben anzufangen. Ohne Armut. Und ohne uns. Ich habe sie nie wieder gesehen und ich glaube auch Vater hatte nie wieder Kontakt zu ihr. Manchmal verdächtigte ich meine Schwester, dass sie heimlich mit Mutter schrieb aber wahrscheinlich tat ich Marina damit Unrecht.
Es war also mein erstes Weihnachten und gleichzeitig auch für meinen Vater und meine Schwester das erste Weihnachten mit mir und ohne meine Mutter.
Und gleichzeitig das letzte Weihnachten in Laim. Das letzte Mal in einer sicheren Umgebung, einer funktionierenden Nachbarschaft und zumindest dem Anschein von Normalität.
Auf den Holografien wirkt Marina glücklich. Sie hatte von Vater E-Skates bekommen, die sie sofort umschnallte und damit durch die Wohnung düste. Wäre der Christbaum keine AR-Illusion gewesen, hätte sie ihn sicherlich bei einem ihrer Stürze unter sich begraben.
Auf einem anderen Bild sieht man Adam wie er eine Holografie betrachtet, die Marina für ihn in der Schule gezeichnet hatte. Es war eine krude Collage aus anderen Holos, eine unbeholfene Verschmelzung alter Erinnerungen mit schlecht programmierter Weihnachtsverkleidung. Eine vierköpfige Familie mit grünen Weihnachtspullovern mit Rentieren mit roten Nasen. Mein Vater bedankt sich lächelnd und meine Schwester wirkt glücklich. Doch so echt wie Marinas Freude, so unecht ist Adams Lächeln. Heute erkenne ich den Schmerz in seinen Augen und sogar die Wut und die Furcht. Heute weiß ich, wie schwer mein Vater es in den nächsten Jahren mit uns und mit unserem Leben haben sollte.
Damals war ich ein Baby und schlief in meiner Wiege und wusste nicht, welche Prüfungen das Hasenbergl und das Schicksal für mich in den nächsten Jahren bereithalten sollte.
Die Ubahn hält an der Endstation und an der Oberfläche empfängt mich kalter Regen. Mit Wehmut denke ich an meine alte Loftwohnung in der Schwanthaler Höhe und frage mich wer nun wohl darin wohnt. Für meinesgleichen sind die normalen Viertel des Megaplexes nun unerschwinglich: arbeitslos und vorbestraft gibt es nur noch einen Ort an dem man mich nicht wie einen Aussätzigen behandelt. Also zurück ins Hasenbergl. Ich ziehe meine Kapuze tief in die Stirn und die Schultern hoch als mich der kalte Regen trifft.
Na frohe Weihnachten!