Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Susanne Lamprecht
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Entscheidungen

Erlangen, 24.12.2082, Appartement von Fledermäuschen

Fledermäuschen wischte mit einem leisen Seufzen die AR-Überlagerung beiseite. Die Diskussionen über das NeoNet-Gelände wollten kein Ende nehmen, ebenso wie die Spekulationen, was mit den unheimlichen Ruinen passieren sollte. Jetzt hatte die Stadt es endlich hinbekommen, die Vorschläge anzunehmen. Hatte ja nur ein paar Jahre gedauert. Vermutlich war es Saeder-Krupp zu verdanken, dass man jetzt doch endlich aus dem Quark kam. Der Drache mochte es mit Sicherheit nicht, dass in direkter Nachbarschaft des Klinikums etwas blieb, das nur als ein Schandfleck bezeichnet werden konnte. Sie mochte die Schlussfolgerung nicht, aber sie konnte es verstehen.

Nachdenklich lehnte sie sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah aus dem Fenster. Das Skelett eines niemals fertiggestellten Riesenrads hob sich kaum vom Nachthimmel ab, aber für ihre empfindlichen Augen war es immer noch klar auszumachen. Die Lichter, die vom Klinikum und dem Reaktorgelände abstrahlten, tauchten die Silhouette in ein unheimliches, geisterhaftes Licht. Auf ihren Kontaktlinsen sah sie die AR-Werbung, an die sie sich lange gewöhnt hatte. Siemens MedTech, RuhrNuklear. Weiter entfernt die Logos der Franken KulTour, die die Werbung für ihre Weihnachtsreisen noch immer nicht abgeschaltet hatte. Bloßes Hintergrundrauschen in einer Welt, in der alles nach ihrer Aufmerksamkeit schrie. Dann flackerte etwas auf, das sie tatsächlich weckte. Vor allem, weil es dort keine AR-Werbung mehr geben sollte.

Über dem Gelände von NeoNet City erstrahlte für einen Moment das sich drehende Riesenrad, das als Logo für den Vergnügungspark entworfen worden war. Rote, goldene und blaue Lichter blinkten, wie in den alten Horrorfilmen über verlassene Jahrmärkte. Sie runzelte die Stirn und fokussierte ihre Aufmerksamkeit darauf. Sobald sie das tat, verschwand das Overlay wieder. Fledermäuschen schüttelte belustigt den Kopf. Die ganzen Nachrichten über die Zukunft des Geländes hatten sie scheinbar eindösen lassen und sie hatte geträumt. Trotzdem hatte sie kurz das Gefühl, als würde etwas mit eiskalten Fingern ihre Wirbelsäule herunter streichen.

Energisch wandte sie sich vom Fenster ab. Sie würde sich davon nicht verrückt machen lassen. Eine Nachricht vibrierte dezent am Rande ihres Sichtfelds. Sie rief sie auf und fühlte sich, als würde sie gleich nach hinten umfallen.

> Hast du es auch gesehen?
> Damon

Sie schluckte, bevor sie zögernd damit begann, die Nachricht zu beantworten.

> Ja. Fehlfunktion? Oder Aktivisten?
> Fledermäuschen

Sie mochte Willens sein ihre eigene Wahrnehmung zu hinterfragen, aber sie glaubte nicht an so etwas wie geteilte Halluzinationen. Als sie erneut das Diskussionsforum aufrief, korrigierte sie ihre Bezeichnung. Sie glaubte nicht an Massenhalluzinationen. Die halbe Gruppe hatte genau das Gleiche gesehen wie sie auch. Also musste irgendetwas dieses Overlay aktiviert haben. Oder irgendjemand. Aber warum? Wo lag der Sinn darin?

Minuten später brachte der lokale Nachrichtensender die Erscheinungen. Irgendjemand war dumm genug gewesen, die Bavaria zu informieren. Spekulationen machten die Runde, bis der Sender es tatsächlich schaffte, eine Stellungnahme der Stadt zu bekommen.

"Für die Bürgerinnen und Bürger von Erlangen besteht kein Grund zur Unruhe", begann der feiste Mensch auf dem Tridschirm zu sprechen. Fledermäuschen schnaubte. Das sagten sie immer dann, wenn es jede Menge Grund für Unruhe gab.

Der Sprecher fuhr fort: "Heute Abend hat der Stadtrat entschieden, das Gelände von NeoNet City an die Zenith AG zu verkaufen. Die Pläne das Gelände in ein Städtisches Erholungsgebiet mit Kulturzentrum und Vergnügungspark umzuwandeln haben den Stadtrat völlig überzeugt." Die Stimme des Sprechers war schleppend und einschläfernd. Warum hatten eigentlich immer nur die Großkonzerne charismatische Sprecher, denen man gern zuhörte?

Im Trideo folgte eine lange Lobeshymne auf die Zenith und ihre Tochter, die Franken KulTour, die so viel für die Stadt und den Tourismus der Region getan hatte. Aber nichts von dem, was bisher gesagt wurde erklärte die AR-Overlays. Das schien dem Sprecher nach etwa zehn Minuten Lobeshymne auch klar zu werden und er erklärte: "Die Erscheinungen in der Erweiterten Realität, die heute Abend in Erlangen zu sehen waren, sind auf eine Prüfung der bereits vorhandenen Matrixsysteme zurückzuführen. Im Verlauf der nächsten Monate ist häufiger mit solchen Erscheinungen zu rechnen, während die Umbaumaßnahmen fortschreiten. Das ist kein Grund zur Unruhe."

Fledermäuschen schaltete das Trid aus und lehnte sich wieder zurück. Eine einfache Erklärung. Eine logische Erklärung. Zumindest auf den ersten Blick. Trotzdem konnte sie das ungute Gefühl nicht abschütteln. Wer führte solche Tests am Heiligabend durch? Und wozu? Wenn das Gelände ohnehin umgebaut wurde, dann waren diese Tests völlig überflüssig. Die Infrastruktur würde komplett überholt werden. Trotzdem hatte die Stellungnahme zumindest einen gewissen Abschluss mit sich gebracht. Die Zeit der Ungewissheit war vorbei, und bald würde die Zeit der neuen Aufträge beginnen. Aber nicht heute.

Aus der Nachbarwohnung konnte sie gedämpft die Klänge des diesjährigen Weihnachtshits hören. Sie stand mit einem weiteren leisen seufzen auf und machte sich zurecht. Nicht heute. Heute war Heiligabend, und sie würde noch ins Schlangennest gehen und mit all den anderen feiern, die keine Familie hatten oder wollten. NeoNet City und seine Zukunft waren ein Problem, mit dem sich Zukunfts-Fledermäuschen befassen würde.