Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Franziska Jessen
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Von drauß' vom Walde komm ich her

Ein Wald im Harz, 24.12.2036

Seit einer guten Stunde war Eluane bereits in der Dunkelheit unterwegs und ebenso lange hatte sie den kleinen Bahnhof hinter sich gelassen hatte und war keiner Metamenschen-Seele mehr begegnet. Sanft und schwer fiel der Schnee und überzog den Harz mit all seinen Tannen und Bergen in einer glitzernden Schicht. Der Pfad knackte gleichmäßig unter Eluanes rhythmischen Schritt. Sie ging schnell, denn ihre Lederstiefel im 50er-Look waren auch trotz der drei Paar Socken, die sie trug nicht besonders warm. Ihr doppelreihig geknöpfter Mantel war tiefgrün wie die Tannen um sie herum, die im eisigen Wind wehten, auch wenn sie derzeit unter Schnee bedeckt waren, ebenso wie der Rand ihres breitkrempigen Hutes. Sie zog den Wollschal enger um ihren Hals. In dem abgewetztes Köfferchen, das sie in ihrer linken Hand trug, klirrten leise die Fläschchen und Utensilien ihres tragbaren Refugiums. Mit der rechten Hand zeichnete sich der flackernden Lichtkreis einer Laterne vor ihr auf den Boden. Endlich tauchten die Umrisse der kleinen Hütte vor ihr auf. Ihre Großmutter hatte das Haus nach einem Cottage in heute Tir na nÓg errichten lassen, fern ab von all dem Lärm. Sie hatte sich damals nicht mehr in ihre Heimat getraut. Wenn sie wüsste, dass es heute ein eigener Staat war – zumindest seit einem Jahr, dank Seamus O´Kennedy. Gerade deshalb war es auch so ein wichtiges Jahr für das Julfest! Deswegen hatte sie die Stadt hinter sich gelassen. Sie hatte Umwege auf sich genommen, um niemanden in Gefahr zu bringen und war fast am Ende ihrer Reise ohne, dass jemand sie verfolgt hatte. Der Wald um sie war still und einsam.

Ihre Familie lebte schon lange um Hamburg und Berlin herum. Es waren schwere Jahre für Hexen. Eines Tages wollten sie zurückkehren nach Irland – seit einem Jahr Tir na nÓg. Auch wenn alles mit einem Hauch von Misstrauen, was die menschliche Welt und ihre Angelegenheiten betraf, überschattet war. Dafür musste sie nur erst genug Geld verdient haben und am schnellsten ging das in den Schatten, nur durfte ihre Familie davon nichts wissen, um sie nicht in Gefahr zu bringen.

Genau deswegen war sie hier, um die Sonnenwende und das Julfest im vertrauten Kreise ihrer Familie zu feiern. Ein Stück Normalität in einer Zeit, in der sie für gewöhnlich kaum stillsitzen konnte.

Eluane erreichte die kleine Hütte. Die Fenster waren dunkel, was seltsam war. Ihre Tante mit den Zwillingen, ihre Mutter und ihre Großmutter wollten bereits eine Nacht hier verbracht haben. Eluane hielt vor der Tür inne und lauschte. Es war still, bis auf den Wind, der um die schneebedeckten Ecken des Hauses pfiff. Es würde bald einen Sturm geben, da war sich Eluane sicher. Die Hütte selbst aber wirkte… verlassen.

Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie legte ihre Hand auf den kalten Türknauf und stellte überrascht fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Langsam schob sie sie auf und trat in das halbdunkle Innere. Sie stellte ihren Koffer behutsam auf den Boden und trat sich die Stiefel ab.

"Hallo?" Ihre Stimme hallte durch die Stille des Hauses. Keine Antwort.

Ein mulmiges Gefühl stieg in ihr auf, als sie sich im Raum umsah. Wo waren alle? Sie hatten versprochen, sie hier zu erwarten, die letzten Vorbereitungen für das Julfest gemeinsam zu treffen.

Im Flur bemerkte sie kleine Fußspuren im Staub. Die Zwillinge. Sie hatte sich auf das leise Kichern der beiden gefreut, auf das unschuldige Staunen in ihren Augen, wenn die Familie zusammen die Festtage zelebrierte. Doch jetzt… nichts. Vorsichtig suchte sie sich einen Weg ins Innere, die Sinne geschärft und die Nerven bis zum Bersten gespannt. Sie kannte sich mit einer Schleichmission aus. Aber sie war auf keinem Run. Das war ihr Zuhause.

Du bist paranoid, Ela! Reiß dich zusammen! Niemand, weiß, dass du hier bist!, tadelte sich Eluane selbst. Sie schluckte schwer, bevor sie sich dazu zwang ruhig weiter vorzudringen. Nach rechts ging der Flur in die Stube über. Im Kamin glommen die letzten Reste eines Feuers, und der Raum roch nach angebrannten Keksen. Das Licht ihrer Laterne traf auf die halb aufgehangen Weihnachtsdekoration. Auf dem Tisch lagen bunte Bänder, zerknülltes Geschenkpapier und eine kleine, verlassene Schere.

Niemals würde ihre Mutter, das Haus so hinterlassen. Es muss etwas passiert sein. Angst breitete sich in ihr aus.

"Ihr habt alles vermasselt, ihr Arschlöcher! Das werdet ihr noch bereuen. Keiner ist vor uns sicher.!" , die Drohungen des letzten Schmidt schossen ihr in den Kopf, vielleicht hätten sie doch besser seinen Auftrag ausgeführt, anstelle ihn auszuliefern.

Ein dumpfes Geräusch ließ sie erstarren. Es kam aus der Küche, hinter ihr. Eluane griff in die Innentasche ihres Mantels und zog einen kleinen, verzierten Zauberstab hervor – nicht, dass sie ihn zum Zaubern brauchte, aber es hatte mehr Stil, als nur das Mana zu formen. Die Luft schien zu flirren, als hätte die Hütte beschlossen, seinen Atem anzuhalten.

Langsam, fast lautlos, bewegte sie sich zur Küche und spähte um die Ecke. Auf dem Herd stand ein Topf, der gerade noch vor sich hin brodelte. Große Blasen schlug daraus hervor und dann quoll die Zuckermasse über, sodass sie sich in einer klebrigen Spur über den Rand des Herdes zog. Die Kekse auf dem Blech waren unberührt, aufgereiht wie eine Prozession verlassener Weihnachtsfreuden, bereit um verziert zu werden.

Suchend fiel ihr Blick auf eine Silhouette, die in einem Schaukelstuhl am Ende der Küche saß. Die aufrechte Haltung und das silberne Haar ließen keinen Zweifel daran, dass es ihre Großmutter war. Doch etwas stimmte nicht. Die Luft um die Gestalt herum schien zu flimmern, als ob sie halb in dieser Welt, halb in einer anderen gefangen wäre. Eluane hielt ihre Laterne noch etwas höher, um besser sehen zu können. Der große dunkelbraune Fleck, der sich durch die Strickjage an ihrem Rücken abdrückte erinnerte sie eindeutig an getrocknetes Blut …

"Großmutter?" Eluanes Stimme zitterte leicht, aber die Gestalt bewegte sich nicht.

Vorsichtig trat sie näher, spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sie war nur noch wenige Schritte entfernt, als plötzlich das Licht in der Küche zu flackern begann, und eine unnatürliche Kälte breitete sich aus. Eluane hielt die Luft an. Das konnte nicht sein. Nicht ihre geliebte Omi. Dabei hatte ihre Großmutter, doch mit ihr nach Tir na nÒg reisen wollen. Sie wollten feiern, Einhörner, Munchkins, Leshys und all die erwachten Wälder sehen, die für die meisten Norms so unerträglich auszuhalten waren. Aber Eluane hatte sie vertrösten müssen – es war nicht die richtige Zeit – und nun war zu spät zum Feiern.

"Großmutter…?" flüsterte sie erneut, die Hand schon auf der Schulter der alten Dame.

Da, ein Windstoß begleitet von leichten Stimmen und Kinderlachen, durchbrach die unheimliche Stille in der Hütte. Mit einem Ruck drehte sich die Gestalt um – es war tatsächlich ihre Großmutter, und die strahlenden Augen und das verschmitzte Lächeln auf ihrem Gesicht lösten die Spannung in Eluanes Körper auf einen Schlag.

"Oh, da hast du mich aber erschreckt, Liebes. Ich muss eingedöst sein. Schaut mal, wen ich gefunden habe!" rief ihre Großmutter fröhlich und drehte sich zur Tür, die sich jetzt öffnete. Ihre Mutter, ihre Tante und die Zwillinge kamen herein, einen frisch geschlagenen Tannenbaum tragend, die Gesichter gerötet von der Kälte und die Stimmen fröhlich.

"Eluane! Da bist du ja!", ihre Mutter umarmte sie und wischte ein paar Schneeflocken von ihrer Schulter.

"Aber das Blut an deinem Rücken, Omilein?"

"Blut, iwo, nur getrockneter Keksteig", antwortete ihre Großmutter lächelnd. "Ach Kindchen, du bist doch sonst nicht so schreckhaft."

Eluane atmete tief durch und ließ das bedrückende Gefühl von sich abfallen. Die Zwillinge sprangen fröhlich um sie herum, aufgeweckt und voller Freude, sodass ihre Zöpfe um sie herum nur so wehten.

"Tut mir leid, dass keiner dich empfangen konnte" sagte ihre Mutter. "Die Mädchen wollten noch den perfekten Baum finden, bevor es heute Abend einen schönen Sturm geben soll. Deswegen mussten wir uns beeilen. Ich hatte gehofft, rechtzeitig wieder da zu sein, um dich zu empfangen."

Eluane lächelte, doch der Schatten einer Warnung blieb in ihrem Hinterkopf. Vielleicht würde sie ein wenig Schutzmagie weben müssen, nur um sicherzugehen. Aber heute Abend… heute Abend war sie endlich wieder zu Hause.