Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Martin Schmidt
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Einladungen

24.12.2073

Sanft fielen die Schneeflocken vom Himmel. Alles war ruhig und stockdunkel, nur das leise Plätschern kleiner Wellen am Ufer war im fahlen Mondschein zu hören. Das Wasser des Chiemsees glänzte schwarz, während es die Schneeflocken, die auf ihm landeten, zu verschlucken schien.

Nebelherr stand alleine in seiner bevorzugten Menschengestalt am Ufer von Herrenchiemsee und ließ die Szenerie auf sich wirken, die er während seiner Abwesenheit vermisst hatte. Sicher, Venedig, Paris und Wien hatten ihren ganz eigenen Charme, doch dies hier war sein Zuhause – sein Hort. Zumindest noch für einige Zeit, denn schon bald würde ein Spiel starten, für das er eine eigene Domäne brauchen würde.

Leise, kaum hörbare Schritte näherten sich ihm. Doch Nebelherr hatte seine Getreuen schon bemerkt, bevor diese ihn auch nur sehen konnten. Auf dieser Insel konnte nichts geschehen, was seine scharfen Drachensinne nicht wahrnahmen. Doch der Drache wusste zu schätzen, dass sein engster Kreis ihm seine Ruhe ließ.

"Herr, es ist Zeit", sprach Amélia Bezerra, Nebelherrs Sprecherin. "Eure Gäste warten auf Euch."

Nebelherr nickte. Nach seiner Rückkehr hatte er Bezerra und Ursula Mosel, die Geschäftsführerin des traditionsreichen Feinkosthändlers und Kaffeerösters Dallmayr, damit beauftragt, ein Weihnachtsfest für Nebelherrs engsten Kreis zu organisieren. Seine Gäste warteten sicherlich schon auf sein Erscheinen im Festsaal des Neuen Schlosses Herrenchiemsee.

"Eine Angelegenheit ist allerdings vorher noch zu besprechen." Nebelherr drehte sich um. Kurz musterte er getreusten Gefolgsleute, die während ihm seiner Abwesenheit allen Widrigkeiten zum Trotz die Treue gehalten hatten: Neben Amélia Bezerra, einer attraktiven Normfrau südländischer Herkunft, stand Ursula Mosel, eine nicht minder anziehende Mitteleuropäerin. Bezerras maßgeschneiderter Anzug aus dem Hause Joop entsprach der jüngsten Konzernmode, Mosel trug über ihren traditionellen Maßanzug ein grau-grünes Loden-Cape.

Ein hochgewachsener Elf mit schneeweißen Haaren vollendete das Trio: Wolffsohn, sein ältester Vertrauter und Leiter seiner persönlichen Sicherheit. Wenn Nebelherr jemanden blind sein Leben anvertrauen müsste, dann wäre es zweifelsfrei dieser eine Elf. Der charakterstarke Elf trug einen dreiteiligen Anzug aus grünem Lodenstoff.

"Das Jahr nähert sich dem Ende und es ist Zeit, ein Zeichen für die Gegenwart und die Zukunft zu setzen." Nebelherr blies sanft gegen einige Schneeflocken, die daraufhin wild durcheinanderflogen, eher sie in der Luft die Gestalt eines Drachen formten.

"Ich denke, die Silvesternacht zum neuen Jahr ist der perfekte Augenblick, um mich wieder gezielt ins Rampenlicht zu rücken", erklärte Nebelherr. "Wir werden hier auf Herrenchiemsee feiern und der Sechsten Welt zeigen, dass wieder mit mir zu rechnen ist."

Nebelherr brauchte nicht mittels Magie die Gedanken der drei Anwesenden zu lesen, denn ihre Gesichter sagten ihm alles. Bezerra und Mosel gingen bereits in Gedanken durch, was sie alles organisieren mussten. Wie immer war es Wolffsohn, der aus seiner Haltung keinen Hehl machte – eine mitunter etwas anstrengende, aber erfrischend ehrliche Haltung, die Nebelherr schätzte.

"Das ist mehr als eine Herausforderung." Wolffsohn sah dem Drachen direkt in die Augen. "So viele Gäste hier auf der Insel… Mit solch kurzer Planung. Das ist ein sicherheitstechnischer Albtraum!"

"Dann sorge dafür, dass aus dem Albtraum ein angenehmer Traum wird", sagte Nebelherr ruhig. "Wenn es jemand schaffen kann, dann du. Besorge dir die Unterstützung, die du brauchst. Frage unsere Freunde bei den Schwarzen Sheriffs. Geld spielt keine Rolle."

Auf den fragenden Blick von Mosel ergänzte Nebelherr: "Seht es als eine lohnende Investition in die Zukunft, die sich auszahlen wird!"

Mosel nickte. Sie hatte schon einige andere Drachen getroffen und sie wusste, dass Drachen lange im Voraus planten – und Nebelherr konnte sich auf diesem Feld fast schon mit Großen Drachen messen.

"Wen wollt Ihr einladen?", fragte Bezerra, halb aus beruflichem Interesse, halb aus persönlicher Neugierde.

"Natürlich den ehrenwerten Erzbischof unseres römisch-katholischen Erzbistums", antwortete Nebelherr mit einem schelmischen Grinsen. "Ich freue mich doch immer so auf seine Absagen. Wo wir schon dabei sind: Schickt auch eine Einladung an den hiesigen Vorsteher der Deutsch-Katholischen Kirche. Mal sehen, ob sich einer von beiden traut und den anderen damit unter Zugzwang setzt. Wäre doch zu schön, wenn die beiden mal aufeinandertreffen würden."

Mosel grinste. "Wen noch?"

"Die hiesigen Vertreter des FBV und der DeMeKo, natürlich unsere Freunde in der Paulaner-Geschäftsführung und die Leitung der Schwarzen Sheriffs. Sie sollen ruhig in ihren Uniformen erscheinen. Vor allem möchte ich Personal aus dem operativen Geschäft, nicht nur die geschäftsführende Etage. Wolffsohn wird Ausschau nach Sheriffs halten, die uns auf Dauer nutzen können."

Der angesprochene Elf nickte.

"Dann noch den Oberbürgermeister, jemanden vom Münchener Flughafen sowie das Oktoberfest-Organisationskomitee. Bitte vergesst nicht die Herren Stark, Theissen und van de Meer. Natürlich werden sie nicht alle kommen, aber es gilt die Form zu wahren. Teilt ihnen mit, dass sie einige aussichtsreiche und hungrige Juniorpartner mitbringen sollen. Ich brauche bald fähiges Personal, vor allem in Österreich.

Von Saeder-Krupp sollten wir auch jemanden einladen, sicherlich jemanden aus dem Vorstand von BMW. Nehmt jemanden, der unterhaltsam ist und nicht nur über das Geschäft zu reden weiß. Dann noch eine bunte Mischung von Siemens und Messerschmitt-Kawasaki. Dann ist Lofwyr zufrieden und fühlt sich nicht übergangen. Ich brauche bald sein Wohlwollen und es wäre töricht, ihn jetzt unnötig zu düpieren – auch wenn seine Agenten Euch nicht gut behandelt haben!"

Bezerra presste die Lippen aufeinander und nickte stumm. Die Methoden von Lofwyrs Agenten hatten ihr fast den Verstand geraubt. Selbst jetzt, nachdem Nebelherr seine Magie gewirkt hatte, waren noch nicht alle Spuren der Befragungen verheilt und sie war längst nichtmehr die Person, die sie vorher einmal war.

"Laden wir doch noch die Leitungen der beiden Universitäten ein, ein paar Galeriebesitzer und die Leitungen der Kunsthalle, der Staatsoper und des Völkerkundemuseums. Neben den ganzen Konzern-Drohnen brauchen wir auch etwas Farbe und Geist. Außerdem muss ich mit der Direktion der Staatsoper über ein paar Inszenierungen der jüngeren Vergangenheit sprechen. Die Interpretationen einiger Stücke waren doch etwas zu… wagemutig.

Sucht noch jemanden aus dem Vorstand des FC Bayern München aus. Achtet auch hier darauf, dass es jemand ist, der nicht nur das Geschäft und Fußball im Kopf hat. Die Metamenschen mögen Fußball mögen, doch ich bevorzuge andere Sportarten. Rundet das Ensemble mit einigen der Schönen und Reichen aus der Münchener Gesellschaft ab: Ein paar Schauspieler und sonstige Berühmtheiten, die uns nützlich sein können. Ich werde an diesem Abend eine Menge Gespräche führen. Die weniger wichtigen Tête-à-Têtes kann Milan gerne übernehmen. So fühlt sich wenigstens jeder irgendwie beachtet. Wo wir schon dabei sind: Schickt auch Einladungen zur Nymphenburg. Ich bin gespannt, wen die Draco Foundation schicken wird."

Nebelherr machte eine Pause, ehe er fortfuhr: "Teilt Karl Stadt bitte mit, dass er nicht zu meinem Empfang erscheinen muss. Er hat sicherlich andere Verpflichtungen."

Der Drache in Menschengestalt konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sich vorstellte, wie der Renraku-Exec reagieren würde. Es war das klassische Zuckerbrot-und-Peitsche-Spiel, das nun starten und auf das Stadt trotz seiner Cleverness mit Sicherheit hereinfallen würde.

"Überhaupt muss sich niemand von Renraku verpflichtet fühlen zu kommen. Dasselbe gilt Natascha Kleinschmidt von der Bavaria. Ich habe mir die neuen Staffeln von Karl Kombatmage angesehen, die während meiner Abwesenheit auf Sendung gingen. Grässlich! Jemanden, der so etwas zu verantworten hat, möchte ich um keinen Preis um mich haben. Außerdem haben wir die DeMeKo, die uns treu dient. Da brauche ich keine unnötigen Scharmützel."

Nebelherr beendete seine Aufzählung und zückte einen mit Siegelwachs verschlossenen Briefumschlag. Seine Getreuen kannte diese Umschläge und Briefe, die aus einer kleinen, aber sündhaft teuren Papiermanufaktur kamen. Auf dem Umschlag standen in schwungvoller Schrift die Großbuchstaben ZAHL. Er reichte den Umschlag Wolffsohn.

"Es tut mir leid, dass ich dich damit heute noch behellige und dir unseren Weihnachtsabend raube", erklärte Nebelherr, "aber seine Empfängerin in Wien muss noch heute Nacht diesen Brief bekommen. Persönlich!"

Wolffsohn winkte ab. "Solche Abende sind ohnehin nichts für mich. Aber heute Abend dürfte kaum zu schaffen sein. Selbst bei meiner Fahrweise."

"Das ist nicht weiter tragisch", Nebelherr schaut wieder in die Ferne. "Seine Empfängerin ist ohnehin niemand, der früh zu Bett geht."

Der Elf nicke und machte sich auf den Weg. Zurück blieben die beiden Frauen. Nebelherr schenkte beiden ein Lächeln und hakte sich bei beiden unter.

"Wollen wir?", fragte der Drache, nur um als nächstes Victor Hugo zu zitieren: "Die Zukunft hat viele Namen: Für Schwache ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte, für die Mutigen die Chance!"