Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von David Grade
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Mama Bakkes Wahrheit

24.12.2068, Rhein Ruhr Megaplex

Baby Elewa schrie in seinem Bettchen. Ikoni hörte sich das eine Weile an, dann stand sie auf. Im Wohnzimmer stand Mamas leeres Bett und Elewas Wiege. Mondlicht viel durch die verschneiten Fenster auf die Fotos über dem Sofa. Da waren Mama in ihrer Wächteruniform, Ikoni wie sie eingeschult wurde, und Elewa, immer wieder Elewa. Auf den Fotos lächelte er, das Weiß in seinen Augen glänzte hell in seinem schwarzen Gesicht.

Ikoni war schmal für ihre acht Jahre, aber stark. Sie trug Mama die Einkäufe, wenn der Fahrstuhl kaputt war, und sie schleppte die leeren Getränkekisten der alten Ma´Oṣó den Gang runter und die Treppen hinab. Ma´Oṣó bedankte sich mit Bonbons und klebrigem Kanya, dass sie blecheweise buk. Obwohl sie kaum noch sehen konnte, zumindest nicht in der mundanen Welt, malte sie. Ma´Oṣó konnte in die Gedanken von Metamenschen sehen und an deren Aura ihre Gefühle erkennen.

Jetzt hätte sie gesehen, dass Ikoni müde war, und dass sie Elewa am liebsten den Mund zugehalten hätte.

Ikoni hob ihren kleinen Bruder aus dem Bettchen. Sie trug ihn herum, prüfte seine Windel. Die war trocken. Elewa hörte nicht auf zu schreien. Ikoni legte ihn auf das Sofa und zwei Kissen zwischen ihn und den Abgrund zum Wohnzimmerteppich. Die Gesichter auf den Fotos sahen auf beide herab, beschienen vom Mondschein, winzige Schatten tanzten auf ihnen. Spuren der Schneeflocken die draußen stoben.

In der schmalen Küchenzeile bereitete Ikoni eine Flasche Milch für ihren Bruder zu. Dafür musste sie auf einen Stuhl klettern.

Elewa wollte nicht trinken und greinte.

"Komm schon, du Blödmann." Ikoni sog selbst einen Schluck aus dem Saugnippel. Die Milch lief.

Dann kam Mama nach Hause.

Schneeflocken schmolzen auf ihrer Uniform, die noch dunkler war als ihre Haut. Sie zog die schwere Jacke aus und hängte sie an die Garderobe, richtete ihre Haare.

"Hat er wieder geschrien?"

"Ja."

"Bald wird alles besser Schatz. Vielleicht heuer ich bei Saeder-Krupp an oder Evo und dann kann uns Henry Tossip an unseren süßen schwarzen Hintern lecken, was Ikoni?"

"An unseren süßen, schwarzen Hintern." Ikoni setzte sich ganz eng an Mama auf das Sofa. Die legte sich Elewa in den Schoß, gab ihm mit einer Hand die Flasche und mit der anderen schirmte sie sein Köpfchen ab. Er trank, der miese Verräter.

"Das hast du gut gemacht mit der Flasche, danke Spatz." Mama beugte sich zu ihr herab und küsste sie auf die Haare.

"Er ist dein Liebling, oder?" Die Frage war einfach so herausgekommen.

"Ja." Mama schwieg und nur die Sauggeräusche von Elewa waren zu hören. "Aber du bist meine Beste. Ohne dich würde ich das alles nicht schaffen hörst du?"

"Mhhmhhh", Ikoni kuschelte sich an Mama. Ihre Bluse roch nach Rauch und Straße.

Als Elewa satt und eingeschlafen war legte Mama ihn in die Wiege zurück. "Das war ein bisschen unfair was ich gesagt hab Ikoni." Mama ging in den Flur zurück und zog sich die Schuhe aus. "Aber so ist es nun mal. Elewa war mein Hoffnungslicht, schon in meinem Bauch, schon im Boot. Er ist hier geboren, und er wird es mal besser haben als wir."

Mama setzte sich wieder aufs Sofa. Ikoni schob ihr das kleine Tischchen zurecht damit Mama die Füße hochlegen konnte. Schwupps, saß Ikono wieder auf dem Sofa und kuschelte sich an ihre Mama.

"Du sollst es auch mal besser haben." Mama zupfte Ikoni am Ohr, kraulte ihre Halsbeuge. "Aber du warst … bist meine wichtigste Helferin."

"Und Papa?" Ikoni drehte den Kopf nach oben, um sich die Fotos anzusehen. Mama, Elewa und sie selbst.

"Ja, du warst Papas Liebling." Mama legte ihre Hand auf Ikonis Hals. "Was hat er dich geliebt, mehr als sein Leben. Wir hatten nur eine Schwimmweste. Eine einzige. Als wir gekentert sind, hat er losgelassen. Sonst wären wir alle untergegangen."

Mamas Hand krampfte sich um Ikonis Hals. Für einen furchtbaren Moment dachte sie, Mama würde sie erwürgen. Erschrocken sah sie in Mama Augen, die glänzten und starrten in die Ferne. Die Hand wurde lockerer und der Daumen strich unter Ikonis Kinn entlang.

"Er hat dich sehr liebgehabt."

Ikoni sah wieder zu den Bildern hinauf. "Haben wir keine Fotos von Papa?"

"Ich hatte welche auf meinem Kommlink." Mama nahm die Füße vom Tischen griff Ikoni unter die Arme und stellte sie vor sich. "Ab ins Bett, junge Dame."

Als Ikoni im Bett lag kam Mama, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben.

"Mama?"

"Ja?"

"Wo sind die Fotos von Papa?"

"Ich habe sie gelöscht."

"Warum?"

"Weil ich so wütend auf ihn war, und weil ich ihn so vermisst habe. Weil es so weh tat, sie anzusehen." Mama setzte sich aufs Bett. "Tut mir leid Ikoni, ich habe da wenig an dich gedacht."

"Warum warst du wütend auf ihn?"

"Weil er gestorben ist, denke ich." Mama legte ihre Hand auf die Decke, da wo Ikonis Schulter drunter war. "Warum willst du so viel wissen?"

"Tschuldigung."

"Schon gut." Mama bewegte ihren Hintern, um bequemer zu sitzen. "Weißt du, wir hatten uns versprochen, dass wir es gemeinsam schaffen. Wir wussten, wie gefährlich es würde. Aber … irgendwie glauben alle, sie gehören zu den Glücklichen, die es schaffen. Dableiben, wäre schlimmer gewesen. Es war Krieg und die Ghulhäscher aus Asamando waren unterwegs. Er wollte für mich ein besseres Leben und für dich eine bessere Zukunft. Deswegen sind wir damals losgegangen."

"Und Elewa?"

"Von Elewa wussten wir damals noch nicht. Papa ist für dich losgegangen."

"Okay."

"Ja, okay." Mama beugte sich zu ihr herab, drückte ihr Gesicht an Ikonis, die spürte, dass Mamas Wangen feucht waren, vielleicht von geschmolzenem Schnee.

Heiligabend sah Ikoni mit Elewa Trideo, drei der Weihnachtsfolgen mit der Vampirfledermaus Mizaza und dem kleinen Critterdrachen Tatzel. Sie sang Elewa ein paar Weihnachtslieder vor, gab ihm die Flasche, als das Trideo sie mit Mamas Stimme daran erinnerte, und legte ihn in die Wiege. Sie wollte diese Nacht nicht allein in ihrem Zimmer sein, deswegen holte sie ihre Bettdecke und quartierte sich auf dem Sofa ein.

Sie wurde wach, als Mama nach Hause kam. Sie trug eine elektrische Babywippe vor sich her, die sie zwischen Wiege und ihrem Bett im Wohnzimmer abstellte.

"Ist die für Elewa?"

"Ja." Mama ging in den Flur zurück und zog sich Jacke und Schuhe aus. "Für dich habe ich auch was."

Sie setzte sich aufs Sofa und schüttelte den Kopf als Ikoni aufstehen wollte, um ihr den Tisch zurechtzurücken.

"Ma´Oṣó hat es gemalt." Mama reichte Ikoni etwas das wie ein kleines Heft aussah, ungefähr so groß wie Ikonis Hand aber viel flacher. "Sie hat in meine Erinnerungen geguckt und …" Mamas Stimme machte einen Sprung, sie räusperte sich. "Es ist sehr gut geworden."

Ikoni nahm das Heft und drehte es in ihrer Hand. Es war aus Kunstleder und metamensch konnte es aufklappen.

"Warte." Mama berührte sie an der Wange. "Mach es in deinem Zimmer auf, okay?"

"Ja."

Mama trug ihr die Bettdecke hinterher und breitete sie auf ihrem Bett aus.

"Und, Ikoni?"

"Ja?"

"Häng es bitte nirgends, hin. Ich bin noch nicht so weit."

"Okay"

Mama ging aus dem Zimmer und schloss die Tür.

Ikoni setzte sich auf das Bett und starrte auf das Touchpad. Sie klappte es auf. Gerahmt von einem Leuchtband, war da ein Porträt eines schwarzen Mannes. Er lächelte Ikoni an.


Ikoni und Elewa Bakkes sind Nebencharaktere aus dem Shadowrunroman "Wendigos Wahrheit" von David Grade, der 2082 im Rhein-Ruhr-Megaplex spielt.