Eine Geschichte von Susanne Lamprecht
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Imperativ
[Nürnberg-Fürth, 05.11.2082, 10:15:00 Uhr]
Dissonanz rieb gedankenverloren über die leicht entzündete Haut um ihre Datenbuchse, während sie die viel zu große Lederjacke enger um ihren schmächtigen Körper zog. Wie an jedem Tag ging der Blick der Elfe zum Himmel. Er war grau verhangen, wie immer in den letzten Wochen. Der Blick wanderte weiter, zum Boden. Nass und ölig schimmernd, ebenfalls wie immer in den letzten Wochen. Zumindest stieg vom Fluss kein Nebel auf, was bedeutete, dass sie zumindest nicht vollkommen durchgefroren im Maze ankommen würde.
Heute würde sie den Hobgoblin, dem der Club gehörte, fragen. Das hatte sie sich auch in den letzten Monaten jeden Tag vorgenommen, aber heute würde sie es wirklich tun. Alle Recherchen waren abgeschlossen, und jede Spur, die sie gefunden hatte, führte ins Maze und zu den Schockwellenreitern. Zeit, sich die Antworten zu holen, nach denen sie seit zehn Jahren suchte. Vielleicht hatte sie danach genug innere Ruhe, um sich mit der Gegenwart zu befassen. Sie sah auf die Uhr am Rand ihres Blickfelds. 10:25 Uhr.
Sie stieg in den Stadtbus. Linie 77, die Touri-Linie. Bei dem Wetter war nicht viel los. Das würde sich ändern, falls der Wetterbericht, der dezent in der AR des Busses übertragen wurde, recht hatte. Der Nachmittag würde kalt, aber trocken sein. Sie lauschte der übertrieben fröhlichen Stimme des Tourguides, der die Sehenswürdigkeiten und Haltepunkte des Busses in einem lupenreinen Hochdeutsch erklärte. Mittelalterliche Punkte. Nazi-Vergangenheit. Alles inklusive und für nur 3 Euro. Der Bus näherte sich der ehemaligen Stadtgrenze, unter der fröhlichen Erläuterung des „regionstypischen Städtekonfliktes“, der hier „in der Vergangenheit wütete“. Vergangenheit am Arsch. Die Fürther und die Nürnberger waren sich auch heute nicht grün.
Der Bus hielt an, und Dissonanz stieg aus. Lieber lief sie zehn Minuten länger, als sich weiterhin anzuhören, wie die Franken KulTour sich die Region malen wollte. Die Wahrheit sah anders aus. Sie schlug den Weg in eine Nebenstraße ein, abseits der großen Touren. Die Häuser wirkten alt, und außer der Fassade war hier nichts auf dem aktuellen Stand der Technik. Eine ausgefeilte Überlagerung in der AR versuchte, das Bild aufrechtzuerhalten, aber abseits der großen Hauptstraßen waren die Kosten dafür höher als der Nutzen. Hin und wieder flackerte die Realität einfach durch. An einer Straßenecke sah sie eine Gruppe Jugendlicher, die nicht mehr mit sich anzufangen wusste, als dort zu sitzen und Touristen oder andere Passanten anzubetteln. Viel hätte nicht gefehlt und sie wäre eine von ihnen gewesen. Das Kribbeln um die Datenbuchse wurde stärker. Die Uhr zeigte 10:47 Uhr an.
[Nürnberg – Fürther Seite der Stadtgrenze, 05.11.2082, 10:55:00 Uhr]
In der AR war das Falcons Maze ein reines Leuchtfeuer. Ein neongrünes Labyrinth überzog die komplette Fassade des Klubs, dann folgte der rote Datenstrang, der durch das Labyrinth wanderte und sich schließlich in einen Falken verwandelte. Soweit sie wusste, sollte das ein Turmfalke sein. Nicht, dass sie außerhalb der Matrix jemals einen gesehen hätte. Als sie näherkam, flammten die Halluzinationen wieder auf. Hunderte von Stimmen, die sich zu einem einzigen Rauschen vereinten und ihr Kopfschmerzen bereiteten. Sie schüttelte sie ab und rieb erneut gedankenverloren über die juckende Datenbuchse. Eigentlich hätte sie all das beseitigen sollen. Stattdessen gesellte sie sich zu dem Rauschen, Flüstern, Schreien der Halluzinationen. 10:55 Uhr.
Dissonanz betrat den Matrixclub, der in der Realität aussah wie ein Retro-Matrixcafé aus den Zeiten, bevor es wirklich eine Matrix gab. Sie war sich nicht sicher, was das bedeutete. Ihr Blick glitt über die Anwesenden, von denen sie viele inzwischen kannte. Dann blieb er an demjenigen hängen, dessentwegen sie hier war. Der Einzige, der die Antworten hatte, die sie so dringend brauchte. Sie setzte sich auf ihren Stammplatz. Ein kleiner Einzeltisch in einer Ecke. Der Hobgoblin – sie wusste, dass er sich Imperativ nannte – kam auf den Tisch zu. „Was darf’s heute sein, Sony?“, fragte er mit tiefer, grollender Stimme. „Soy-Schokolade mit Zimt. Und eventuell ein bisschen deiner Zeit?“ Ihre Stimme klang wesentlich unsicherer, als sie es sich gewünscht hätte. Imperativ musterte sie lange und ohne, dass sie deuten konnte, was er dachte. „Hab’ mich schon gefragt, wann du mit der Sprache rausrückst.“ Es war sein einziger Kommentar, bevor er ging, um ihre Schokolade zu holen. 10:58 Uhr.
Als er zu ihr zurückkam, band er die altmodische Schürze ab. Weiß, mit undefinierbaren Flecken, die Schokolade sein mochten, aber in diesem Moment an Blut erinnerten. Er stellte die Schokolade vor ihr ab und zog einen Stuhl heran, der grotesk klein für den Hobgoblin wirkte. „Also?“ Er war kein Mann vieler Worte, aber Dissonanz suchte noch nach den richtigen. Dann splitterte Glas. 11:00 Uhr.
Eine junge Frau am Nebentisch, die Dissonanz als Maiden kennengelernt hatte, sackte zusammen. Blut lief über die Tischplatte. Weiteres Glas splitterte. Das Jucken und Flüstern der Datenbuchse wurde schlimmer, bevor es schließlich Schmerzblitze aussandte. Die Elfe bemühte sich, ihre Gefühle zurückzudrängen und sich zu orientieren. Maiden fiel zu Boden. Zwischen ihren Augen wie ausgestanzt ein Loch. Imperativ griff nach der Schürze. Der Schmerz wurde schlimmer.
Schreie drangen an ihr Ohr, etwas Heißes traf ihr Gesicht. Ihr Blickfeld flackerte, während die Schmerzen in Wellen anstiegen und abflauten. Revenge fiel. Cadence. Wo war Imperativ? Sie wollte sich unter den Tisch fallen lassen, aber es fühlte sich an, als würde sie durch zähes Gelee gehen wollen. Da. Da war er. Sie versuchte, sich mit aller Macht auf ihn zu fokussieren. Die Halluzinationen kehrten zurück. Die altmodische Kasse begann, Blitze zu spucken.
Schüsse. Dicht bei ihr. In Richtung der Fenster. Dann mehr Hitze. Die Halluzinationen begannen, Sinn zu ergeben. Wurde sie jetzt völlig wahnsinnig? Neben ihr sackte ein schwerer Körper zu Boden. Nein. Nein, nein, nein, nein! Aus dem Rauschen der Halluzinationen erhob sich eine Stimme. Die Stimme ihrer Mutter? Sie wusste es nicht. „Die Fenster“, sagte die Stimme. Aber sie wollte nicht zu den Fenstern schauen! Die Fenster waren gefährlich! Sie wollte, dass die Jalousien, die in der Nacht unten waren, auch jetzt unten waren! Wieder stechender Schmerz. Ein lauter Knall. Es roch nach verbrannter Technik. Die Jalousien fielen mit einem Ruck nach unten. Stille. 11:01 Uhr.
Reale Stimmen mischten sich in die Halluzination. Panische Stimmen, die den Notausgang suchten. Gab es einen? Voller Angst tastete sie nach dem schweren Körper neben sich. Er atmete noch. „Steh auf“, bettelte sie, „wir müssen hier weg!“ Ein leises, grollendes Lachen, unterbrochen von einem ungesund klingenden Zischen. Die Lichter flackerten im Takt ihrer Panik auf und erloschen dann ganz. Der Gestank wurde immer intensiver. Salz auf ihren Lippen. Dann fasste sie in etwas Heißes. Klebriges. Sie tastete weiter, obwohl ihr schlecht wurde. „Komm schon, steh auf, alter Mann!“, fluchte sie, während sie versuchte, ihn hochzudrücken. Ein Schwall des klebrigen Zeugs lief über ihre Finger, der Geruch von Kupfer gesellte sich zu dem der Technik.
Das Zischen wurde leiser. War das gut? Sie hörte Kratzen an den Jalousien. An der Tür. Die Schmerzen waren jetzt weg. Das Rauschen und Flüstern auch. Sie hörte Schritte und sah auf. Ein Mann in Uniform. „Helfen Sie uns!“, rief sie. Er zog eine Pistole und richtete sie auf Imperativ. Wieder das Zischen. Sie begriff erst, was hier geschah, als der Mann abdrückte. Dann wurde ihr schwarz vor Augen. Das Letzte, was sie hörte, war ein bedauerndes „Du hättest uns doch nur sagen müssen, wo er ist, Kleine“.
Die Sirenen brachten sie wieder zu Bewusstsein. Das Flüstern war fort. Die Schmerzen der Datenbuchse auch. Sie lag auf dem reglosen Körper des einzigen Metamenschen, der Antworten gehabt hatte. Seine Hand lag noch immer um eine leichte Pistole. Der Raum war dunkel, aber durch die geöffnete Tür drang immer noch etwas Licht herein. 11:15 Uhr.
Die Sirenen kamen näher. Lisa, eines der Mädchen, die in der Spätschicht hier arbeiteten, kam aus dem Hinterzimmer. Dissonanz begann, lautlos zu weinen. „Dafür ist jetzt keine Zeit“, grollte die stämmige Orkin und zog die Elfe hoch, als würde sie nichts wiegen. „Wir müssen hier weg, bevor die Bullen hier sind.“ Nüchtern fügte sie hinzu: „Er ist ohnehin tot.“
Ein einzelner Satz, der die Hoffnungen auf Antworten zerschmetterte. Erst als sie draußen waren, vibrierte ihr Kommlink. Eine kurze Nachricht von einer unbekannten Nummer. „Dein Vater hat die Antworten.“