Shadowrun

Eine Geschichte von Andreas "AAS" Schroth
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023

Umsturz

[Köln-Deutz, 03.11.2082, 23:05:09 Uhr]

„Ich habe, was du begehrst, Kesil.“

Die Stimme des alten Taliskrämers war wie das Knarzen alter Bäume oder das Ächzen des Seils, mit dem ein Sarg in die Erde gelassen wird. Im Grunde war er kaum zu verstehen, der Akzent schwer und aus tausend Dialekten von Osteuropa bis Nordafrika zusammengewebt.

Herrgott, Umsturz wusste nicht einmal, warum der Mann ihn jetzt „Kesil“ nannte – er hatte sich mehr als einmal mit seinem Online-Handle vorgestellt, unter dem er auch seine Geschäftsanfragen erledigte: Umsturz. Nicht Eversio, nicht Anatropi, nicht Al’iitaha und keinen der anderen unzähligen Namen und Titel, mit denen der Alte und unzählige andere wie er ihn anredeten.

„Es hat mich einiges gekostet, versteht sich. Man fordert nichts von den Grigori, und ihr Erster ist mit dreißig Silberlingen nicht zufriedenzustellen“.

Zur Hölle mit den Blutsaugern: Er hatte keine Zeit für diesen LARP-Unsinn. Er zog einen Credstick aus der Manteltasche und zeigte ihn: „50.000. Wie vereinbart.“

Aus der Finsternis hinter der kleinen Durchreiche am Ende des langen, verkramten und unerträglich muffigen Telesmashops am Ende einer ebenso engen und verkramten Gasse kam Umsturz eine knochige Hand entgegen, dünn bespannt mit Haut, die Fingernägel so lang, dass sie sich krümmten.

Er zog den Stick leicht zurück: „Zuerst die Ware, Frater.“ Umsturz konnte spüren, wie die letzte Wärme aus dem Raum wich, war sich vollends bewusst, sowohl mit der direkten Nennung des „schnöden Mammons“ als auch mit der Verweigerung der Unterwürfigkeit sein Gegenüber schwer beleidigt zu haben. Aus seiner „jungen Sicht“ als Gezeichneter mochte das groteske Gebaren jener gewissen deutschen Vampirszene, zu der er Zugang zu erhalten versuchte, ein blödes Kinderspiel sein – für jene, die es „rein“ geschafft hatten, war es (seufz) „blutiger“ Ernst.

Mochte ja sein, dass ein paar der Infizierten in diesem Club ’nen Drek auf Geld gaben – er, Umsturz, hatte nicht mal eben so 50K, und ehe er sie herausgab, wollte er zur Hölle noch eins die Ware sehen.

Die ausgemergelte Klaue des Taliskrämers verschwand wieder in der Finsternis, kam mit einer Metallschachtel wieder hervor, öffnete sie und zeigte Umsturz den Inhalt: Ein weißes, leicht glimmendes Pulver, wie winzig kleine Sterne, die jemand vom Himmel geschüttelt hatte.

„Essenzia Aliena. 7 Lot reinster Qualität aus dem Ries. Wie bestellt, Kesil.“

7 Lot. Er blickte kurz nach rechts oben, wo ihm die Datenbrille die Umrechnung in nachsintflutliche Einheiten anzeigte. Die Menge war okay.

Er legte den Credstick auf der kleinen Durchreiche ab und wollte schon nach dem Kistchen greifen, als die Hand des Alten ihm drohend Einhalt gebot:

„NICHT SO SCHNELL!“

Er stockte, eine Hand reflexartig Richtung Holster zuckend …

„Du kriegst noch eine Tüte dazu.“

[Vor Vampyr’s Mysterium, Köln-Deutz, 03.11.2082, 23:20:43 Uhr]

Umsturz trat aus der Finsternis der engen Gasse in das grelle Scheinwerferlicht des nahen Parkplatzes vor Vampyr’s Mysterium, dem wohl größten Telesmashop des Landes. Unwillkürlich rümpfte er die Nase und spuckte blutig aus, fühlte die Magie und die Nacht und die Glorie all dessen, was diese Welt darbot, beschmutzt von Konzernlabeln, Scharlatanen, sogar den Werbetafeln für „Reikiletten-jetzt-neu-in-Vampyr’s-Bistro-Sie-finden-uns-hinten-links-in-der-Refugiums-Einrichtungsabteilung“.

Er klappte den Kragen seines Mantels hoch, um sich gegen das gleißende Licht abzuschirmen, und rannte das kurze Stück bis zu jener wiederum dunklen Gasse, in der er seine geliebte Yamaha Rapier abgestellt hatte.

Es war längst nicht mehr seine Erste, aber er kaufte immer dann, wenn es nötig war, eine Neue: immer dasselbe Modell, 2064er Elegance Edition. Leider immer schwerer zu bekommen.

Kurzer Blick auf den Timestamp im oberen Sichtfeld der Smartbrille: 23:21:12 Uhr. Wenn er sich beeilte und die Strecke halbwegs frei war, konnte er in rund vier Stunden in Berlin sein, wo bereits Agenten seiner Zelle auf die Essenzia warten würden.

Leider war auch durch die MMVV-Infektion kein Magier aus ihm geworden – übrigens ein Unfall, der einem Runner schon mal passieren kann, wenn man sich mit dem falschen Sucker anlegt –, aber soweit er die Sache verstand, bereitete DER FEIND etwas Großes vor, und die Essenzia war eine mögliche Wunderwaffe gegen ihn:

Der Theorie der Particula Aliena nach stammten die enormen magischen Verwerfungen im Nördlinger Ries daher, dass mit dem Meteor, der vor unzähligen Jahren dort eingeschlagen war, Partikel einer fremden, ja, feindlichen Manasphäre eingeschleppt worden waren. Die Wirkung jener Partikel war so mächtig, dass sie selbst gegen die viel größere Gaiasphäre der Erde bestehen konnte und diese sogar beständig beschädigte.

Wie würde also wohl eine bereits geschwächte, sterbende Manasphäre auf die zur Essenzia gereinigten Partikel reagieren? Sagen wir, die Ebene von Dis? Oder, um ein praktischeres Beispiel für ein paar „Tests“ zu wählen: Ein Disianer in Menschengestalt? Eine durch die Dis-Sphäre geschaffene Chimäre? Zum Beispiel durch eine entsprechend beschichtete Klinge oder Kugel? Oder Staub in einer Granate?

„Ey, Blutsturz.“

Den Motorradhelm bereits in Händen, drehte er sich um: „Zum letzten Mal: Das war damals nur ein Wi…“ – er stutzte. Abgelenkt von seinen eigenen Gedanken, hatte er gedacht, die Stimme zu kennen, aber hinter ihm stand kein flüchtiger Bekannter, kein Fan oder Ex-Kollege, sondern drei Typen in grauen Mänteln, mit schweren, grauen Panzerhandschuhen, grauen Kapuzen, das Gesicht hinter grauen Masken verborgen, drei hölzerne Stöcke, nein, Speere in der Hand und – was eindeutig das Wichtigste war – sie waren Vampire, wie er durch das fahl zehrende Glimmen ihrer Auren erkannte.

Sie standen da. Er stand da. Legte den Helm auf dem Motorradsitz ab, um die kleine Plastiktüte mit dem Kistchen zu verbergen.

„Was sollt ihr denn vorstellen? Die dreifaltige Einfältigkeit? Vader, Hohn und Himbeergeist?“

Die drei sahen sich an, ehe ihr Anführer – jedenfalls nahm Umsturz das an, denn es war derselbe, der ihn angesprochen hatte – sich räusperte und sagte:

„Wir sind dein Ende.“

Er sah sie weiterhin an, während er eine Kippe aus der Tasche fischte und anzündete.

Vampire waren Einfaltspinsel. Obwohl: Das war nicht ganz fair. Sie waren Raubtiere, und als solche perfekt auf ein bestimmtes Szenario angepasst: Dass sie ein Opfer auswählten und sich dieses verdammt noch mal wie ein Opfer verhielt. Renn vor einem Wolf davon, und er hetzt dich und tötet dich. Lauf ihm schreiend entgegen, und er bleibt mindestens stehen und macht dieses unsagbar dämliche „Wazefak“-Gesicht, das die drei vor ihm unter ihren Masken vermutlich auch gerade machten.

Dass er selbst nicht irgendwer war, sondern ein wohlbekannter Name in den Schatten, dessen Kräfte mit einiger Sicherheit überschätzt wurden, half ihm zusätzlich.

Über ihre Auren zogen Schlieren der Verwirrung, sogar der Angst. Jeder hoffte, der andere würde den ersten Angriff starten, damit man sich diesem anschließen konnte. Keiner richtete bisher den Speer auf ihn, und er hoffte, dass die drei – so als Vampire, die ebenso wie er gegen Holz schwerstens allergisch waren – nicht unbedingt die besten Speerkämpfer waren.

Er hatte sich unter Kontrolle – wusste, dass genau das Fehlen von Angst in seiner Aura das Einzige war, das ihn aktuell am Leben erhielt.

„Komisch. Ich hatte mir mein Ende irgendwie epischer vorgestellt. ’Ne schöne Interkontinentalrakete oder ein Thor-Shot, wenigstens ’ne Brandgranate oder ein paar Scharfschützentreffer mit Holzspitzgeschossen“.

Atmen. Rauch rein, Rauch raus. Zentrieren. Ruhig bleiben.

„Aber da ihr es nicht eilig zu haben scheint: Warum? Warum ich? Vergesst die Frage. Warum jetzt? Warum ihr? Habt ihr die kürzesten Hölzchen gezogen?“, fragte er, während er mit der Kippe auf die Speere deutete.

„Schweig, Geächteter. Du bist ordentlich verurteilt. Vom Hohen Tribunal der Judaskinder. Vor dem blutigen Thron des …“

„Spart’s euch. Ich dachte, die Antwort wäre interessant. Aber ich habe weder Beef mit den Aeterna noch den Moroi, und was Renatus treibt, ist mir egal. Ich bin neutral. Aber das heißt nicht, dass hier jeder mit mir machen kann, was er will. Ich habe Runs erledigt für ein paar große Nummern bei euch, und wenn Bella oder Tenjak glaubt, mich umlegen zu können, um ihre Schulden loszuwerden, dann …“

„Kannst du mal deine Upirfresse halten, Blutsturz?“

Der Typ links war es, dessen Aura in hasserfülltem Rot entflammt war. Exakt bei der Nennung von Tenjaks Namen. Treffer. Nicht gut. Er hatte gehofft, das hier sei irgendein schwachsinniger Revierkampf unter Vampiren, speziell jenen, die versuchten, die „Trostlosigkeit der Ewigkeit“ (kotz würg Schmalz Brechreiz) mit mehr als nur Jagen zuzubringen, eine „Gesellschaft der Kinder der Nacht“ aufzubauen und was einem halt sonst so in Kitschromanen und Trideoschund eingeimpft wurde.

Tenjak war ein ganz anderer Fall: Zu ihm gab es eine Akte bei der Grauen Zelle und einen Verdacht, der sich gerade bestätigt hatte.

„Wir sind nicht zum Spaß hier“, fuhr der Aufgebrachte fort, während sich in der Aura des Anführers Wellen der Erleichterung breit machten: „Du hast Mist gebaut, und den Ahnen reicht’s. Du bist Asche, und wir sind hier, um dir ein würdiges Ende zu bereiten. Andernfalls wird die Blutjagd auf dich und alle ausgerufen, die dir etwas bedeuten, HÖRST DU? Freunde, Bekannte, Connections, Partner, Ex-Kollegen, deine verdammte Familie, von der du dich seit deiner Wandlung so sorgsam fernhältst. Also klemm deinen Arsch zusammen und verhalte dich EIN MAL nicht wie der Anarcho-Arsch, als der du geboren wurdest, sondern wie das Judaskind, als das dich – Kain weiß, wieso – irgendein Zwiesäuger in die Nacht gekotzt hat.“

Umsturz merkte, wie er und seine Aura aschfahl vor Schreck wurden. Fühlte, wie das lähmende Grauen, wer alles seinetwegen in Todesgefahr geraten würde, wegen seiner Mitgliedschaft in der Zelle, … wegen der 7 Lot Essenzia Aliena, die die beste Gelegenheit sein mochten, die ganze Disianerbrut direkt in die Hölle zu schicken.

Er sah, wie die drei Vampire wieder zu Raubtieren wurden. Weil er zum Opfer geworden war.

Kurz davor, sich aufzugeben, glomm ein Gedanke in ihm: Tenjak würde diesen Idioten nicht verraten haben, worum es ging. Vielleicht, nur vielleicht, wusste er es nicht einmal.

Er überkreuzte die Arme vor der Brust, wie es ihm in einer vergessenen Krypta beigebracht worden war, und verbeugte sich.

„Ich ergebe mich dem Tribunal und euch als Ausführern Seines Willens. Doch habe ich ein Ersuchen: Unter meinem Helm ist eine Tüte, deren Inhalt der Herrin der Fleurs Du Mal gehört. Ich bin durch Eid gebunden, es ihr nach Berlin zu bringen, gemeinsam mit der Botschaft, die mir anvertraut wurde. Wenn einer von euch meinen Eid übernimmt und fortführt, will ich mich euch ergeben. Andernfalls ich euch töten muss, egal, was die Konsequenzen sind.“

Wirbeln von Farben. Flüstern der drei. Der Anführer trat vor:

„Ich übernehme deinen Eid und schwöre bei meiner Ewigkeit, diesen zu erfüllen. Wie lautet die Nachricht für deine Herrin?“

„Zwischen grauen Gräbern sieht man Flammen lodern. Und alle sind so durch und durch entflammt, dass keine Zelle solches Feuer überdauern kann. Alles muss vergehen, darum erklingen solche Klagetöne. Auf immer dein, Kesil.”