Eine Geschichte von Stefano Monachesi
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2023
Der Beobachter
[Bern, 04.11.2082, 18:12:31 Uhr]
Der Beobachter nippte an seinem Grain Noble de Fully. Elegant und teuer, die richtige Wahl, um im Café Fédéral an einem Mittwochabend nicht aufzufallen. Von seinem Ecktisch hatte er den Eingang und den Saal gut im Blick. Er hob das Glas und blickte durch den goldenen Wein auf die Gäste. Hier in der Bar trafen sich jeden Abend die Strippenziehenden Berns zum Apéro, die Politikerinnen, die Lobbyisten und die Medienschaffenden. Er war hier, um Herrn Keller zu treffen.
Ruckartig ließ er das Glas sinken. Er musste vorsichtiger sein. Dass er Keller nicht über das Kommlink erreichen konnte, verhieß nichts Gutes. Was machst du überhaupt hier, schrie ihm sein Instinkt ins Ohr, du solltest besser abschöberlen! Aber Keller war ein alter Freund. Er wollte ihn nicht so leicht aufgeben. Und die Daten, die er für Keller beschafft hatte, mussten ihr Ziel erreichen. Keller kam jeden Mittwoch hierher, traf sich meist mit den gleichen Kolleginnen und Kollegen. Wenn er sich nicht zeigte, konnte ihm vielleicht jemand einen Tipp geben.
Man kannte sich aus den 50ern. Gemeinsame Neo-A-Zeiten, damals hieß Keller „Der Matter“. Dann trat er den Marsch durch die Institutionen an und sie verloren sich aus den Augen. Bis er wieder auftauchte, jetzt als Herr Keller. Und Büez mitbrachte. Kellers Insiderwissen aus der Verwaltung und die Hacking-Skills des Beobachters ließen einige saftige Skandale auffliegen. Öfter aber nutzten sie den Dreck, den er aus der Matrix geborgen hatte, um den Damen und Herren in der Politik die Motivation zum richtigen Handeln zu verleihen.
Der Gedanke an den gesammelten Paydirt brachte ihn in die Gegenwart zurück. Er rief seine Lebensversicherung auf dem Cyberdeck in seinem Schädel auf, die App, die bei seinem Ableben die ganzen Dateien in die einschlägigen Foren posten sollte. Check, alles in Butter. Dass er sich selbst nicht vertraute, zeigte, wie weit er von seinen glorreichen Tagen entfernt war. Spätestens seit den huere neuen Matrixprotokollen hinkte er den Jungen endlos hinterher. Ein Opa mit Rollator beim Marathonlauf.
Drum war ihm ja auch die Kinnlade runtergefallen, als sich Keller gestern meldete. Zum ersten Mal seit Jahren mit einem Job. „Muss ja was verdammt Dringendes sein“, hatte er gebrummt. „Ist Polyball an der ETH, dass keine Jüngeren Zeit haben?“ Keller hatte nicht gelacht. Also gottverdammt dringend. „Bessere Hacker finde ich unter jedem Stein im Marzili“, hatte Keller gnadenlos ehrlich gezischt. „Ich brauche deine Verbindungen.“ Soziales Hacken, schon immer sein bestes Fach.
Der Beobachter ließ seinen Blick durch die Bar schweifen. Die meisten Tische waren besetzt. Gut ein Drittel der Gesichter kannte er, die meisten anderen stellten sich ihm per ARO vor. Wer hier war, wollte gesehen und erkannt werden. Für die anderen gab es Hinterzimmer. Etwa ein Dutzend Bedienungen nahmen Bestellungen auf. Man legte Wert auf persönlichen Kontakt, man war ja nicht MigroSoy. Fürs Abräumen rollten allerdings Drohnen zwischen den Tischen und der Küche hin und her. Drohnen steckten auch in den zwei antiken Holzschränken beim Eingang, wusste der Beobachter. MCT Roto-Drohnen mit Reizgas und Gummigeschossen. Die Herren und Damen in Anzügen, die Neuankömmlinge freundlich begrüßten, waren ehemalige Zürcher Gardisten. Und die Oberkellnerin mit dem krassen Bizeps? Bestimmt eine Adeptin. Er atmete tief durch. Viel sicherer als im Café Fédéral, direkt gegenüber vom Bundeshaus, konnte er gar nicht sein. Es sei denn …
„Eine Verschwörung quer durch die Parteien und Konzerne“, hatte Keller gesagt. „Eine ganz große internationale Schweinerei, die uns schon bald um die Ohren fliegen wird.“ Natürlich wusste er, dass er noch untertrieb. Seit er die Daten beschafft hatte, wusste es der Beobachter auch. Die Morde, die Anschläge, der Terror weltweit seit gestern: Das war die Schweinerei und sie flog schon. Umso wichtiger, dass er den Job abschließen konnte. Es konnte Leben retten, zumindest hier in der Schweiz.
Angenommen hatte er den Job nicht aus Idealismus. Den hatte er schon vor Jahren abgegeben. Da hätte sich Keller seine Predigt sparen können. Aber ein letzter großer Lauf, ein bedeutsamer Abgang, bevor er seine Paydata flüssig machte und sich absetzte. Irgendein tropisches Paradies, wenn es das noch gab. Ein Inseli für sich allein kaufen und fürs Schnorcheln leben.
Verdammt, hör endlich auf zu träumen! Fast hätte er die Frau übersehen, die gerade eingetreten war. Mittfünfzigerin wie er, kurze graue Haare, goldene Datenbuchse. Klassischer Nadelstreifenanzug mit Alpaufzug-Besatz am Kragen. Rosa Böhli, Ständerätin von Appenzell. Bingo! Er schickte ihr eine Nachricht aufs Kommlink, eine rosarote Wolke und einen Pfeil, der auf ihn zeigte. Mit schnellen Schritten kam sie heran. „Bobby!“, „Wülchli!“, begrüßten sie sich mit ihren alten Spitznamen. Sie setzte sich und winkte einer Kellnerin. Er kam gleich zur Sache. „Hast du heute schon vom Matter gehört? Ich kann ihn nicht erreichen.“ Sie schaute ihn erstaunt an. Für diese grünen Augen wäre er früher von jeder Aarebrücke gesprungen. Sie schüttelte den Kopf und blickte auf ihr Kommlink, wandte sich dann der Kellnerin zu. Aus dem Augenwinkel nahm der Beobachter eine Bewegung wahr. Eine Abräumdrohne rollte auf ihren Tisch zu. Er stutzte. Direkter Kurs, obwohl es nichts abzuräumen gab. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Am Rumpf der Drohne fiel ihm eine Abdeckung auf, die nicht ganz korrekt geschlossen war.
Der Beobachter griff instinktiv nach seiner Pistole unter dem Jackett. Idiot, was tust du? Natürlich kam man nicht bewaffnet ins Fédéral. Er stöpselte sich in sein Schädeldeck. Muss das Ding hacken … Doch kaum war er drin, kam sein Deck unter Beschuss. Er riss die virtuellen Augen auf. Die Datenschutzpolizei? Gopfertami, da war sie, Kellers Schweinerei. Also ein Abschied ohne Inselchen. Um Rosa tat es ihm leid. Er versuchte noch, seine Lebensversicherung zu aktivieren, als der Sprengsatz in der Drohne explodierte und der Beobachter das Beobachten für immer einstellte.