Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Robert Bernard
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Geschichten aus dem Hasenbergl: Markos Frieden

Der 3. Dezember 2070 war nur ein weiteres Datum im Kalender. Der Schnee fiel schwer auf die Straßen des Hasenbergls, erstickte den Schmutz und verwandelte das verkommene Viertel in eine trügerische Winterlandschaft. Unter der weißen Decke Münchens warteten wie an jedem anderen Tag auch Gier, Gewalt und Verrat. In diesen Straßen zählte kein Frieden, nur Macht. Das hatte Marko Ivanovic früh gelernt. Er zog den Mantel enger um sich und ließ den Blick durch die Gassen schweifen. Seine Füße knirschten auf dem gepressten Schnee, während er das Dalmacija-Stüberl ins Visier nahm. Sein Atem ging gleichmäßig, während er Schritt für Schritt näherkam.

Marko wusste, was ihn dort erwartete. Es war kein weihnachtliches Zusammensein, aber vielleicht eine Chance auf Frieden. Es war eine Verhandlung mit dem neuen Zar Münchens, und Verhandlungen mit den Vory liefen selten reibungslos. Sein Auftrag seiner Patin Athena Djorovic war klar: den Frieden zu sichern. Doch Marko hatte weitere Pläne, ehrgeizigere Pläne. Er dachte an das Stüberl, an seine Kindheit im Hasenbergl, und daran, dass dies der perfekte Rückzugsort wäre, um seine Geschäfte auf ein neues Level zu heben. Ein Symbol seiner Rückkehr, seiner Macht.

Doch heute Nacht ging es nicht um Träume. Heute Nacht ging es ums Überleben.

Er trat vor die Holztür des Stüberls, sog die kalte Luft ein und stieß sie aus. Sein Atem schwebte wie Dampf vor ihm in der Nacht. Einen Moment hielt er inne, lauschte der Stille, die nur durch das Knirschen des Schnees unter seinen Stiefeln unterbrochen wurde. Dann drückte er die Tür auf.

Hitze und der Geruch von kaltem Zigarettenrauch und abgestandenem Bier schlugen ihm entgegen. Der Raum war eng, schlecht beleuchtet, aber leer und warm. Das Brummen alter Heizungen mischte sich mit dem Flackern verstaubter Lampen, die lange Schatten auf die Tische warfen. Am hintersten Tisch saß ein Mann, den Marko sofort erkannte: Balthasar Narekov, neu gekrönter Zar der tschechischen Vory v Zakone in München.

Narekov war ein Hüne, breiter als jeder Mann, den Marko bisher getroffen hatte. Sein Gesicht war ein Abbild brutaler Gewalt, doch seine Augen verrieten einen messerscharfen Verstand. Sie musterten Marko, als er eintrat, ohne eine Spur von Emotion zu zeigen.

"Marko Ivanovic", dröhnte Narekovs Stimme durch den Raum, als er seine schwere Faust auf den Tisch klopfte. "Setz dich."

Marko trat an den Tisch heran, griff in seinen Mantel und zog eine Flasche Sljivovic hervor. "Ein Geschenk Zar Narekov", sagte er ruhig und stellte die Flasche auf den Tisch. "Selbstgebrannt. Ein Gruß aus der Sarajevo-Enklave."

Ein leichtes Lächeln zuckte über Narekovs Lippen. "Du hast Geschmack." Er deutete auf eine Flasche tschechischen Hruska, Birnenbrand, die bereits auf dem Tisch stand. "Auch ich bin nicht mit leeren Händen gekommen."

Marko setzte sich. Der Zar nahm die Flasche Sljivovic und goss ihnen beiden ein. Ein Moment der Stille entstand, während die beiden Männer sich musterten. Marko wusste, dass er hier auf einem schmalen Grat wanderte. Jede Geste, jedes Wort war entscheidend. Ein Fehler, und das Treffen könnte in einem Blutbad enden.

"Pro Mir", sagte Marko schließlich auf Tschechisch und hob sein Glas. Der Zar nickte.

"Na zdravi", entgegnete Narekov.

Der Alkohol brannte angenehm in Markos Kehle, und für einen Augenblick schien die Kälte der Nacht vergessen. Doch die Anspannung blieb, lauerte unter der Oberfläche wie ein Raubtier, das auf den richtigen Moment wartete.

Narekov stellte das Glas ab und lehnte sich zurück. "Wir wissen beide, warum wir hier sind", begann er. "Unsere Geschäfte haben sich in letzter Zeit etwas… überschnitten. Deine Leute, meine Leute. Es gibt… Spannungen… und das ist schlecht fürs Geschäft."

Marko nickte und nahm einen weiteren Schluck, während er seine Worte sorgfältig wählte. "Ich beschönige nichts. München war in den letzten Monaten ein Schlachtfeld", sagte er ruhig. "Wir beide haben genug Kämpfe gesehen, um zu wissen, dass es manchmal klüger ist, das Schwert zu senken und zu verhandeln, anstatt es noch höher zu heben."

Narekov betrachtete ihn eine Weile, bevor er nickte. "Eine nette Allegorie. Weise Männer sagen so etwas gerne in billigen Schundromanen, aber weise Männer sterben auch oft früh." Sein Lächeln war kalt, seine Augen wachsam. "Bist du ein solcher weiser Mann, Ivanovic?"

Marko setzte das Glas ab und lehnte sich leicht nach vorne. Er wusste, dass er alles auf eine Karte setzen musste, wenn er hier heil rauskommen wollte. "Wir haben beide etwas, das der andere braucht. Ihr habt die Kontrolle über die Prostitution und den Menschenhandel. Wir halten den BTL-Markt in der Hand. Was wäre, wenn wir beides zusammenführen? Eure Mädchen, unsere Personafix-Programme. Bunraku-Bordelle mit dem besten, was München zu bieten hat."

Für einen Moment sagte Narekov nichts. Die Spannung im Raum war greifbar. Marko wusste, dass dies der entscheidende Punkt war. Er musste Narekov überzeugen, dass es mehr zu gewinnen gab, wenn sie zusammenarbeiteten, als wenn sie gegeneinander kämpften.

Dann lehnte sich der Zar langsam zurück und grinste. "Frische Ware, hm? Ihr bekommt den gesamten BTL-Markt, und wir sollen einfach so Mädchen an euch liefern? Klingt für mich nach einem guten Deal… für die Djorovics."

Marko schüttelte den Kopf. "Das ist nicht nur ein Geschäft, Zar Narekov. Es ist ein neues Geschäft. Keiner von uns verliert. Wir beide gewinnen."

Narekov starrte in sein Glas, ließ das Spiel mit dem Gedanken zu, bevor er schließlich sprach. "Und wenn ich Nein sage? Wenn ich mich entscheide, dass München allein den Vory gehört? Dass wir nichts von euch brauchen?" Er hob den Blick und fixierte Marko. Die Frage lag nicht nur in seinen Worten, sondern auch in den stählernen Augen. Es war eine Drohung, aber Marko war vorbereitet.

"Ihr könntet es versuchen", sagte Marko ruhig und stellte sein Glas vorsichtig auf den Tisch. "Aber ihr wisst so gut wie ich, dass es nicht funktionieren wird. Die Stadt hat bereits genug Blut gesehen. Wenn ihr die Cherzekov in einen offenen Krieg mit den Grauen Wölfen führt, wird es keinen Gewinner geben. Es wird nur Asche übrigbleiben."

Er lehnte sich leicht zurück und ließ die Worte sacken. Dies war das Spiel, das er spielen musste – ein Spiel der Überzeugung, der Diplomatie, aber auch des drohenden Unheils. "München gehört nicht nur den Vory. Es gehört auch nicht nur den Djorovics. Es gehört denjenigen, die wissen, wann es Zeit ist, zu verhandeln und wann es Zeit ist, zu kämpfen. Es gehört denjenigen, die klug genug sind, das zu erkennen."

Narekov musterte Marko erneut, dieses Mal mit einem Hauch von Respekt. Der Zar der Vory v Zakone Münchens war kein Mann, der leicht zu beeindrucken war, aber er war auch kein Dummkopf. Er wusste, dass Marko Recht hatte. Die Wunden des letzten Krieges zwischen den beiden Organisationen waren noch nicht verheilt, sein glückloser Vorgänger noch nicht lange unter der Erde. Ein weiterer Krieg könnte beide Fraktionen zerstören, und das würde nur Raum für neue Spieler schaffen, die darauf warteten, in das Machtvakuum zu stoßen.

"Du bist klug, Ivanovic", sagte Narekov schließlich und nahm einen weiteren Schluck. "Zu klug für dein Alter."

Marko lächelte schwach. "Man lernt schnell, wenn man auf diesen Straßen überleben will."

Die beiden Männer tranken eine Weile schweigend, der Alkohol füllte die Leere zwischen ihnen und ließ die Anspannung allmählich schwinden. Doch Marko wusste, dass die Ruhe trügerisch war. In dieser Welt änderte sich nichts so leicht. Jede Bewegung, jedes Wort konnte die fragile Balance stören, und das wusste auch Narekov.

"Weißt du, warum ich hier bin, Ivanovic?", sagte der Zar schließlich, seine Stimme tiefer und nachdenklicher. "Ich bin nicht nur hier, um mit dir Geschäfte zu machen. Ich bin hier, weil ich herausfinden wollte, wer du bist. Die Lupa spricht gut von dir. Zu gut. Es ist schwer, jemanden zu vertrauen, den deine Feinde loben."

Marko hob eine Augenbraue, überrascht von der direkten Wendung des Gesprächs. "Ich diene Athena, ja, und ich bin loyal. Aber ich bin keine Familie, kein geborener Djorovic. Ich habe meine eigenen Pläne. Und wenn ihr klug seid Zar, wisst ihr, dass das, was ich vorschlage, nicht nur gut für Athena ist, sondern auch für uns beide."

Narekov lachte leise, ein tiefes, raues Geräusch, das in seiner Kehle aufstieg. "Du bist ehrgeizig, das sehe ich. Aber das gefällt mir. Männer ohne Ehrgeiz haben keinen Platz in dieser Stadt."

Die Worte des Zaren hingen für einen Moment im Raum, bevor er sich wieder nach vorne beugte und seine Augen sich mit denen von Marko verschränkten. "Du sagst, wir könnten den BTL-Markt und die Mädchen kombinieren. Du willst, dass wir zusammenarbeiten, aber was garantiert mir, dass mir die Lupa nicht in den Rücken fällt, sobald sie genug Macht hat?"

Das war der Moment, in dem Marko wusste, dass er seine Karten richtig ausspielen musste. Ein kleiner Fehler, und die Fassade würde bröckeln. "Weil wir beide wissen, dass es nicht nur um Macht geht, Zar", sagte er, seine Stimme fest. "Es geht um Kontrolle. Gewalt bringt nur kurzfristige Siege. Aber Kontrolle… echte Kontrolle über die Stadt, über den Markt – das ist es, was Bestand hat. Und das erreicht ihr nicht allein."

Narekov musterte ihn schweigend, bevor er schließlich nickte. "Du hast recht. Ein Mann allein kann diese Stadt nicht halten. Zu viele Interessen, zu viele Spieler."

Er hob sein Glas. "Also gut, Ivanovic. Wir machen das. Aber eines solltest du wissen: Sollte ich auch nur den Verdacht haben, dass du mich hintergehst…"

Marko hob ebenfalls sein Glas und unterbrach den Zar mit einem knappen Lächeln. "Dann werde ich es nicht mehr erleben, zu erfahren, was ihr tun werdet."

Narekov nickte zufrieden. "Genau."

Die beiden Männer stießen erneut an und tranken. Die Atmosphäre im Raum hatte sich verändert, doch Marko wusste, dass das Spiel noch lange nicht vorbei war. Dies war nur der erste Zug. Die kommenden Tage würden zeigen, ob dieser fragile Frieden halten würde oder ob alles wieder ins Chaos stürzen würde.

Sie saßen eine Weile länger zusammen, sprachen über die Details ihres Abkommens. Marko hielt sich zurück, gab gerade genug preis, um das Vertrauen des Zaren zu gewinnen, aber nie zu viel. Narekov war ein gefährlicher Mann, das wusste er. Doch er wusste auch, dass dieser Deal der Schlüssel zu seiner eigenen Zukunft sein könnte. Mit dem Stüberl als Basis und der Unterstützung der Djorovic könnte er seine Macht festigen und seine Position in München stärken.

Als die Flasche fast leer war, lehnte sich Narekov zurück und sah Marko nachdenklich an. "Du erinnerst mich an jemanden, Ivanovic", sagte er schließlich. "An meinen Onkel Tomas. Er war auch ein kluger Mann. Er wusste, wie man Menschen führt. Aber er wusste auch, dass man manchmal die Zügel loslassen muss, um wirklich zu gewinnen."

Marko nickte langsam. "Ein kluger Mann, euer Onkel."

"Das war er", erwiderte Narekov und stand auf. "Lass uns sehen, ob du genauso klug sein wirst."

Marko erhob sich ebenfalls und reichte dem Zar die Hand. Es war ein kurzer, fester Händedruck, aber er bedeutete mehr als Worte. Es war eine Vereinbarung, ein Pakt, der beide Männer für die kommenden Monate aneinanderbinden würde.

"Bis bald, Ivanovic", sagte Narekov, bevor er sich zum Gehen wandte. "Vergiss nicht: Ich werde dich beobachten."

Marko lächelte leicht, während er den Zar beobachtete, wie er das Stüberl verließ. Er wusste, dass dies nur der Anfang war. Die wirkliche Arbeit begann erst jetzt. Doch er war bereit.

Er trat an den Tisch zurück, nahm die leere Flasche und drehte sie auf dem Tisch. Das Stüberl. Sein Stüberl. Bald würde es ihm gehören. Mit dem Frieden, den er mit den Vory geschlossen hatte, würde ihm Athena diesen Ort nicht verweigern. Es war alles vorbereitet.

Draußen begann der Schnee wieder dichter zu fallen. Marko trat hinaus in die Nacht, das Lächeln auf seinen Lippen zog sich schelmisch über sein Gesicht. Die Straßen des Hasenbergls lagen still vor ihm, doch er wusste, dass das Spiel in Bewegung war. Er würde die Zügel fest in der Hand halten. Und wenn alles gut ging, würde er sich nicht nur das Stüberl verdienen, sondern so viel mehr.

"Klug wie der Ujak des Zaren", murmelte er belustigt, als er durch den Schnee in die Nacht verschwand.