Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Daniel Jennewein
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Geschichten aus dem Hasenbergl: Niko – Teil 2

Niemand hält mich auf, als ich die Sonderverwaltungszone über den Kontrollposten betrete. Mein Link sendet meine SIN und es wird in der Datenbank protokolliert. Uhrzeit und Personalien. Wenn ich die Zone wieder verlassen will, wird es schwieriger werden. Dann bin ich einer von vielen in einer langen Schlange und mit meiner Vorstrafe und meinem ganz speziellen Hintergrund ein klarer Fall für eine "Stichproben"-Kontrolle. "Warum verlassen sie die Sonderverwaltungszone?", "Verfügen sie über genügend Geldmittel, um sich in der Landeshauptstadt München aufzuhalten?", "Haben sie Freunde oder Verwandte, die sie besuchen? Sind sie angestellt bei einem Münchner Unternehmen? Bürgt jemand für sie?" In den nächsten Tagen und Wochen werde ich die Zone also eher selten verlassen. Und wenn, dann über den großen Umweg im Norden. Wo der Zaun löchrig ist und jede Gang die Patrouillenpläne der schlecht bezahlten Subunternehmer der SS kennt.

Hasenbergl ist ein Gefängnis für seine Einwohner wie jede Sonderverwaltungszone. Und man muss noch nicht einmal etwas verbrochen haben, um zu lebenslänglicher Haft verurteilt zu werden. Es reicht, wenn du ohne eine SIN im Hasenbergl geboren wirst. Die älteren von uns, hatten vielleicht sogar mal eine Identität und Bürgerrechte. Und verloren sie wegen den Wichsern von Winternight.

Als die Münchner Matrix vor vielen Jahren crashte, setzte sich der Untergang für meine Familie fort. Renraku schottete tagelang seine Europa-Arkologie ab und die Bewohner Münchens gerieten in Panik. Der komplette Ausfall des Gitters und aller Matrixanwendungen, der physische Schaden an allen Geräten, die mit der Matrix verbunden waren und natürlich die völlige Überforderung von Verwaltung und Sicherheitsapperat sorgten für bürgerkriegsähnliche Unruhen bei meinen Nachbarn und nahezu allen Bürgern in der Millionenstadt.

Die schwarzen Sheriffs und die Bundeswehr waren die einzigen, die das Chaos beenden konnten und Ruhe und Frieden wiederherstellten. Doch unsere Stadt war versehrt. Der Medienstandort changierte zwischen hektischem Aktionismus und Schockstarre, die Konzerne versuchten verzweifelt ihren persönlichen Schaden zu minimieren und die Stadtoberen waren gelähmt vom schieren Ausmaß der Schäden in der Infrastruktur und des fragilen sozialen Netzes.

Die ersten Wochen waren unwirklich in meiner Erinnerung. Wir wollten nicht akzeptieren, dass die Welt sich grundlegend verändert hatte. Viele klammerten sich an die Hoffnung, dass die Mächtigen im Rathaus oder in Freising oder in Hannover es schon richten würden. Dass die alten SINs wieder auftauchten.

Doch am Ende hörte der Mittelstand einfach auf zu existieren: Die Reichen und Mächtigen retteten sich, doch die Masse der arbeitenden Bevölkerung rutschte in Armut und soziale Ungewissheit ab. Erst Kurzarbeit. Dann Massenentlassungen. Die Unterschicht der Landeshauptstadt verzehnfachte sich innerhalb weniger Wochen. Vor allem in den Brennpunktgebieten Hasenbergl, Großried und Perlach geriet die ehemalige Unterschicht nun in eine bisher noch nie dagewesene unvorstellbare, völlig neue Armut: Wo früher arm war, wer keine Markenklamotten trug, nicht in den Urlaub fuhr und in beengten Verhältnissen lebte, war nun arm, wer sich nichts mehr zu essen leisten konnte. Plötzlich waren hunderttausende in der Situation, dass sie sich die grundlegendsten, überlebenswichtigen Dinge nicht mehr leisten konnten.

Soziale Leistungen wurden seit dem Crash nicht mehr ausgezahlt, plötzlich waren 80% der Bevölkerung SINlos. Rechtlos. Wer nicht existiert hat auch keinen Kündigungsschutz. Welcher Arbeitsvertrag überhaupt? Können sie beweisen, dass sie für uns gearbeitet haben? Wer sind sie überhaupt?

Wer Beziehungen hatte, Einfluss oder Geld behob diesen "ärgerlichen" Umstand schnell und unbürokratisch. Doch die Einwohner der sozialen Ghettos fanden sich in kilometerlangen Schlangen wieder, um ihre einstigen Bürgerrechte wiederzuerlangen, die ihnen ohne eigenes Verschulden genommen wurden.

Der Winter war Krieg im Hasenbergl. Die Anderen schauten weg, kümmerten sich um ihre Probleme. Die Jugendbanden fingen an zu plündern und die Sheriffs räumten das Feld: Zwei Cops waren unter die Räder gekommen bei einer Schlägerei. Vier tote Ganger, ein toter Cop, der andere schwer verletzt. Sie nannten es eine Umstrukturierungsmaßnahme. Sie flohen aus dem Viertel und überließen uns den Wölfen.

Die Plünderungen erlebten noch eine kurze Hochzeit und dann gab es einfach nichts mehr zu plündern. Einige wenige toughe Geschäftsmänner hatten sich Schutzpatrone gesucht, der Rest ließ die Türen offen und hörte einfach auf die Schäden zu beseitigen und neue Ware zu kaufen. Die Djorovics nutzten die Gelegenheit und schufen Fakten. Rekrutierten Gangs und spielten sich als Schutzmacht auf.

Fressen oder gefressen werden: die ersten Wochen waren wie Krieg. Man kämpfte oder floh. Schloss sich einer Fraktion an oder machte sich zumindest unentbehrlich für sie. Erst kamen die Stromausfälle und wurden immer häufiger und länger. Dann kamen sie irgendwann unangekündigt und schließlich kam der Strom gar nicht mehr zurück. Dann wurde das Leitungswasser rationiert und die Leute begannen zu horten.

Schließlich, zu Beginn des Winter, wurde die Fernwärme abgedreht. Angeblich eine schwere Beschädigung aufgrund des Crashs, eine höhere Gewalt gegen die man nichts tun konnte. Die Reparaturen würden erst im Frühling erfolgen können. Die Leute sollten sich um lokale Alternativen kümmern.

Die Djorovics kümmerten sich. Übernahmen die lokale Ordnung. Jetzt waren sie das Gesetz und das Feuer und das Wasser und bestimmten wer überlebte und wer erfror oder elendig verhungerte.

Und das war alles noch bevor sie die Zäune bauten. Wir gingen elendig zugrunde und ein paar hundert Meter weiter, feierte die Schickeria auf ihren Weihnachtsmärkten, als wäre nichts geschehen. Jeder versuchte wegzuziehen in bessere Viertel, doch niemand hatte das Geld für die absurd hohen Mieten. Verzweiflung machte sich breit, schlug in Wut um. Die Demos wurden größer und verlegten sich inmitten der Weihnachtszeit immer weiter ins Stadtzentrum.

Dann entschieden die Stadtoberen zum Wohle Vieler die Ärmsten der Armen zu opfern: Um die drei riesigen Problemviertel wurden zuerst binnen Stunden mithilfe von Konzerntruppen und der Bundeswehr Zäune und später Mauern gezogen. Und die Büros der SIN-Stellen schlossen. Im Frühjahr 2065 wurden Perlach, Großried und unser Hasenbergl zu Sonderverwaltungszonen erklärt. Man schnitt hunderttausende aus der Gesellschaft wie ein lästiges Furunkel. Und Adam und ich fanden sich nun außerhalb des Systems wieder. Ohne SIN, ohne Rechte. Eingesperrt in einem sozialen Ghetto, der mit rasender Geschwindigkeit vor die Hunde ging.

Meine Schwester hatte uns schon vor Jahren verlassen und in Vater hatte es ein weiteres Stück zerbrochen. Er funktionierte noch, kümmerte sich um mich, sorgte dafür das ich in die Schule ging und mich von den Gangs fernhielt. Ich war 15 und ohne es zu wissen, stellte mein Vater damals die Weichen, die mir eine Chance verschafften. Eine Chance, die ich freilich grandios verbockte.

Jetzt bin ich also zurück im Hasenbergl. Der Weg zur Werkstatt meines Vaters ist lang und ich habe noch genügend Zeit, um mir ein paar Worte zurecht zu legen. Und zu überlegen wie es nun weitergehen soll. Ich habe nun zwar wieder eine SIN, aber ich bin vorbestraft. Was schlechter ist als gar keine SIN zu haben. Ich habe eine Ausbildung und besonderer Fähigkeiten, aber ich bin gebrandmarkt und niemand wird mich anstellen. Ich sehe am Horizont zwei Wege: Ich kann mich in mein Schicksal fügen und die nächsten zehn Jahre irgendwie versuchen in der Zone zu überleben, bis meine Vorstrafe aus den Datenbanken verschwindet, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Oder ich nutze meine Fertigkeiten gewinnbringend. Und verabschiede mich unwiderruflich aus der lichten Welt. Reiße all die Brücken ab, für die mein Vater jahrelang schuftete. Ein Leben in Armut oder ein Leben in den Schatten. Mit jedem Schritt, den ich gehe, mit jedem Blick mit dem ich all die Hoffnungslosigkeit meiner alten Heimat aufsauge schwanke ich mehr und mehr. Ich will nicht zurück in diese Welt. Ich kann nicht. Mein Vater ist jetzt schon enttäuscht von mir, doch wenn ich mich vom Licht abwende, wird er sein Herz brechen.

Na frohe Weihnachten!