Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Frank Plenert
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Once upon a time in Seattle

5. Dezember des Jahres 2053 – Runnerkneipe Johns Corner, Downtown Seattle

Claw rieb sich die Schläfen. Ihr Federschmuck tanzte dabei, fast im Takt von Maria Mecurials Gesang im Hintergrund, der aus dem Kneipengebrumm gerade so hervortrat. "Ganz schön schwer zu durchschauen, diese Konzernbrüder.", sagte die Adlerschamanin, die in diesem Moment sicher überall lieber gewesen wäre als in der engen Runnerkneipe in Downtown Seattle.

Sie hatte versucht auf magischem Wege den Wahrheitsgehalt der Erzählungen von Mister Johnson zu ergründen, während der Rest des Teams dies auf ihre Weise getan hatte. Edge, der Straßensamurai, streckte sich auf dem Stuhl aus und setzte an den Rest seines Soja-IPA zu trinken. Honest, der ehemalige Leibwächter, nickte. "Ich denke, er war von Fuchi. Wer sonst würde versuchen der Bau der Renraku-Arkologie zu stören?". "Jeder der anderen AAA.", war die Antwort von Mira. Als Elfe und Deckerin war sie Stimme und Kopf des Teams, dass sich an diesem kalten Dezemberabend des Jahres 2050 auf Jobsuche befand. Mit jedem Tag, den Gouverneurin Schultz die Unabhängigkeit der Stadt von den UCAS weiter vorantrieb, lockte sie die Konzerne stärker in die Stadt. Und machte sie damit zum Austragungsort unzähliger Stellvertreterkriege der Großen Acht.

Mira zog vorsichtig ihr nagelneues Fuchi Cyber-7 Cyberterminal aus dem gepanzerten Futteral. Das Team hatte einige auf sich genommen und einen Run auf eigene Rechnung durchgezogen, um an das neueste Teil zu kommen. Der Vorteil für das Team war enorm, seit die Deckerin persönlich vor Ort in die Systeme eindringen konnte. Seitdem öffneten sich Türen mit technischer Magie und die Reputation des Teams war in die Oberliga aufgestiegen. Auch einer der Gründe, warum sich Konzernjohnsons sich nun persönlich mit ihnen trafen.

Honest, der seine Dermalpanzerung der zweiten Generation dazu genutzt hatte sich die Form einer Schrankwand zu geben, zog entschlossen seinen Taschensekretär hervor. Mira fingert noch umständlich an dem Jackpoint herum, den John, der Barbesitzer, unter dem Tisch installiert hatte, für ‚Stammkunden‘. Mira mochte ja ihr Gerät jetzt überall mit hinnehmen können, aber Honest hatte immer noch den Vorteil, dass er mobile Daten hatte. Ein teurer Spaß, den er aber bei seinem früheren Arbeitgeber zu schätzen gelernt hatte. Entsprechend war er es, der schon die ersten Informationen präsentierte, als Mira noch ihr Cyberdeck hochfuhr.

"Wir haben Clara vor Ort, die dürfte als Subunternehmerin auf der Baustelle beschäftigt sein. Sie weiß sicher, wo wir Ausweise herbekommen. Ich schreib sie mal an. Die Idee, mit einem Müllfahrzeug, in einem Austauschcontainer die Ausrüstung reinzuschmuggeln ist gut, wenn sie uns nicht der Johnson vorgeschlagen hätte. Wir sollten uns was anderes überlegen."

Mira war mittlerweile online. Die weißen Linien und Polygone, aus denen die Matrix bestand, verrieten ihr den Weg zur Renraku-Arkologie. Obwohl sie noch im Bau war, war der gewaltige Host nicht zu übersehen. Bunt und mit einer Detailtiefe ausgestattet, dass es einem in der Matrix schwindlig werden konnte, zeigte sich der Knoten schon aus größerer Entfernung. Was auch immer das in der Matrix heißen mochte. Sie klopfte freundlich an, tarnte sich im Schleichmodus als Kundin der Megamall und trat ein. Ein ziehendes Gefühl erfasst sie, als der Host die Realität übernahm. Mehr als ihre Persona konnte sie hier nicht kontrollieren. Ein lebensechter japanischer Markt entfaltete sich vor ihr, eine Mischung aus Science-Fiction und Mittelalter. Die Personas von Menschen interagierten mit den Marktständen und kaufen online ein. Allesamt waren auf eine gewisse Weise ‚uniformiert‘. Verständlich. Nur Renraku-Angestellte bekamen die neueste Technologie in Form von private Matrixgeräten. Manche erledigten sogar ihre normalen Bürojobs komplett in der Matrix. Schöne neue Welt.
Mira schlenderte über den virtuellen Markt und versuchte das Äquivalent einer Baustelle zu finden. Der Ort, an den das Team vordringen sollte, lag im Keller des Gebäudes und wurde noch gebaut. Eine Großrechenanlage. Sie aktivierte ein Analyseprogramm, um die Umgebung zu scannen und erkannte, dass die Datenströme das Aussehen von Wasser angenommen hatten. Sie bemerkte aber auch, dass eine der Marktwache aus ihrem dösenden Schlaf erwachte und zu ihr herübersah. "Verdammt, was für eine Sicherheitsstufe!", dachte Mira als sie versuchte ihre Tarnung zu verbessern und zum Brunnen auf dem Markt zu laufen. Von dort kam all das Wasser, er führte zur Quelle, tief unter dem Markt. Kaum war sie am Brunnen, stellte sie fest, dass die Realität in der Tiefe zerfaserte. Die wunderschöne virtuelle Realität wurden wieder zur Standardikonographie der Matrix und sie sah Datenströme und einige mächtige CPUs in der Tiefe. Dann kam es zu einer kurzen Verzögerung und die Umgebung ruckelte. Zwei Samurai in roter Rüstung tauchten aus dem Nichts neben dem Brunnen auf und sie spürte, wie ihre Füße begannen im Boden zu versinken.

In Panik versuchte sie weg zu kommen, währen die Roten Samurai sich orientierten. In letzter Millisekunde schaffte sie es sich selbst das Glasfaserkabel aus der Datenbuchse an ihrer Schläfe zu ziehen.

Edge stellte gerade sein Bierglas ab, dass er genüsslich in einem tiefen Zug geleert hatte und schaute, erschrocken zu Mira, die sich plötzlich das Datenkabel aus dem Kopf zog, keine zwei Sekunden, nach dem sie es hineingesteckt hatte. Blut lief aus ihrem linken Nasenloch und über ihre perfekte weiße Haut. "Was ist?" fragte er erschrocken. Fast automatisch aktivierte er seinen Reflexbooster, was dazu führte, dass ein elektrischer Schock durch seinen Körper fuhr. Das wiederum regte sein Kunstmuskeln an, deren Stahlsehnen sich sofort mit einem leisen Surren sichtbar unter seiner Haut spannten. Wie ein Flüstern reichte dies aus, das Honest ebenfalls seine Reflexbooster zündete, seine Hand in seinen gefütterten Mantel glitt und den Kolben seiner mächtige Ares Predator umfasste, bereit sich über den Tisch zu stürzen und ihre Anführerin mit seinem fast kugelsicheren Körper zu schützen.

Claw reagierte gelassener. "Ruhig, Jungs. Sie hat sich nur gerade ganz schön erschreckt." Ihre Hand legte sich auf die zitternde Hand ihrer Teamkameradin. Die Blutspur im Gesicht verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

8. Dezember des Jahres 2053 – Pacific Avenue, Tacoma

In der kleinen, sicheren Wohnung in Tacoma, in der sich das Team für den Auftrag eingenistet hatte, roch es nach Soj-Speck und Instant-Rührei. Honest stand in der Küche und bereitet pfeifend das Frühstück. Der Rest trank Soykaf und sichtete die Informationen.

"Ein Angriff über die Matrix ist nicht drin. Ich bin schon froh, wenn ich vor Ort im System nicht gegrillt werden. Aber ich habe auf dem Schwarzmarkt ein Teil organisiert – einen Magschlossknacker. Also so einen richtigen, der den Algorithmus der Schlösser angreift. Die haben da schließlich auch Systeme der neuesten Generation verbaut.", erzählte Mira.

"Was hat der gekostet?", wollte Claw wissen. "120 k¥.", antworte Mira trocken, woraufhin Edge seinen Soykaf über das Sofa hustet und sich eilig ein Bier aufmachte. "Dann sollte der Job aber unbedingt klappen.", erwiderte Claw trocken.

"Außerdem habe ich noch Kopfset-Datensichtgeräte für jeden gekauft, 1000 ¥ das Stück. Aber anders bekommen wir die Karten nicht dargestellt. Die sind über 200 Megapulse groß, ich habe einen großen Optochip gebraucht, um die wegzuspeichern. Mein Rekorder hat geglüht!"

"Wie kommunizieren wir?", wollte Edge wissen, der langsam wieder Luft bekam. "Ich habe auch ein paar Kopfhörertelefone gekauft. Wir werden aber Boosterpacks brauchen, wenn wir drin sind und uns entfernen", gab Mira auch diese Information preis. "Oh, man. Bleibt da am Ende noch was hängen?", maulte Edge. "Ist doch klar, dass wir investieren müssen. Wir können das Zeug ja auch wiederverwenden. Aber wenn wir State-of-the-Art sein wollen, müssen wir auch State-of-the-Art Material haben.", erwiderte Mira. "Was ist mit der APDS-Munition?", wollte Honest aus der Küche heraus wissen. "Ich habe dir welche besorgt, aber nur ein Magazin. Und auch nur, weil du so nett gefragt hast. Nur, weil du die größte Wumme am Markt besitzt, kommst du damit bei Renraku auch durch. Die Wachen sind alle mit automatischen Waffen ausgerüstet. Die Roten Samurai sogar mit SCK Modell 100…", referierte Mira. "Was!", kam es aus der Küche zurück. "Die Dinger sind hier in Seattle! Wenn wir davon welche mitbringen, können wir uns den kompletten restlichen Schwarzmarkt dafür kaufen." Honest tauchte in der Tür auf. "Wird nicht viel nutzen. Die Dinger haben etwas, das sich biometrische Sicherung nimmt. Das ist so was, wie ein eingebauter Handabdruckscanner.", versuchte Mira die Begeisterung ihres Teammitglieds zu dämpfen. Enttäuscht wandte sich Honest wieder den Rühreiern zu. "Dann nehm ich eben die Hände mit.", kalauerte Edge von der Couch her und fuhr, mit vernehmbarem Geräusch, seinen Cybersporn aus. Claw verdrehte die Augen. Mira nahm den Straßensamurai scharf ins Auge. Desto mehr Cyberware, desto weniger Menschlichkeit. "Edge, wenn wir den Ruf bekommen blutrünstig zu sein, werden alle Sicherheitsleute, inklusive LoneStar …" Edge unterbrach sie: "Ich weiß, war doch nur ein Scherz, meine Liebe." Zweifelnd wechselte die Teamchefin das Thema.

10. Dezember des Jahres 2053 – Kellergeschoß Minus 10, Renraku Arkologie

Claw schwitze in ihrem Overall, trotz der kühlen Umgebung. Die Ventilatoren bliesen kalte Winterluft von der Bay in die Kellerräume, in denen die Computer des Hosts standen. Kellerräume! 330 Stückwerke Beton unter der Erde. Sie kämpfe gegen ihre Klaustrophobie, wie sie auch gerade gegen das Feuerelementar gekämpft hatte. Natürlich war der Plan den Bach runter gegangen, kaum dass sie in den Baustellenbereich eingedrungen waren. Der Magschlossknacker machte sich bezahlt. Aber das Sicherheitstrupp musste etwas gerochen haben, vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Einer der Wachen hatte ständig geschnüffelt. Vielleicht hatte er Cyberware in der Nase, die Sprengstoff riechen konnte. Der Trick mit den fast lautlosen Nacojet-Waffen hatte geklappt. Die waren auch ihr Geld wert. Aber wer hatte ahnen können, das Renraku Kampfmagier in Uniformen steckte und mit den Trupps laufen ließ? Kaum war der Magier am Boden, schon brannte die Luft, als sein Elementar auftauchte. Der Sturmgeist Federschön, ihre beste Verbindung in die Geisterwelt, hatte den Elementar lange genug aufhalten können, bis sie in den Astralraum gewechselt war und mit ihrem Tomahawk, einem mächtigen Waffenfokus ihres Stammes, das Elementar vertreiben konnte. Die Nachwirkungen der Flammen sorgten jedoch genau so für das heiße Brennen, wie der Entzug der Zauber. Unsichtbarkeit, Stille und alle anderen Tricks brauchte das Team gerade unbedingt. Entschlossen klebte sie sich das Stimpatch auf den Unterarm, wohl wissend, dass sie damit alles riskierte.

Mira hatte sich vor geschlagenen 2 Minuten in den Großrechner eingestöpselt. Auch ihr lief Schweiß in Strömen und zeichnete die Stellen auf dem Overall ab, die darunter nicht durch ihre Sicherheitsweste mit Platten abgedeckt wurden. Edge hatte seine Steyr AUG-CLS zu einem veritablen leichten Maschinengewehr umgebaut und lauerte hinter der Zugangstür. Honest stand, mit gezogener Ares Predator und geladener APDS-Munition vor Mira, bereit sie zu schützen. Auch wenn er ihr aktuell nicht helfen konnte, was auch immer ihr Geist in der Maschine erdulden musste.

Plötzlich wurde Mira wie von einer Faust zurückgeschleudert, die Glasfaserleitung löste sich mit einem lauten Klick aus der Konsole. Honest war sofort bei ihr und fühlte ihren Puls. "Das sind mehr als 200 Schläge pro Minute, ganz schwach!" teilte er sachlich mit. "Wir müssen hier raus. Hoffen wir, dass sie es geschafft hat."

15. Dezember des Jahres 2053 – Unterschlupf des Schiebers Silver, Redmond

"Du willst nie wieder decken?", fragte Claw ungläubig, nur um sicher zu gehen, dass sie Miras letzte Ausführung richtig verstanden hatte. "Ja. Nicht mal mehr in die Matrix gehen. Wie ich schon sagte: Es verfolgt mich. Das schwarze IC, gegen das ich gekämpft habe, war anders als alles, was ich kenne. Es war … intelligent. Es reagierte wie ein anderer Decker, aber mit der tödlichen Effizienz des schwärzesten IC. Und es verfolgt mich. Immer wenn ich in der Matrix das Grid wechsle oder irgendwo Zugang verschaffe, beobachtet es mich. Ich war noch einmal in der Nähe des Renrakuhosts. Keine Ahnung warum. Etwas hat mich angezogen. Und dann hörte ich seine Stimme, die mir drohte. Ich habe mich mit letzter Kraft ausgestöpselt und hielt mir in der wahren Welt gerade meine Fichetti an den Schädel. Ich habe etwas Rachsüchtiges, Intelligentes in der Matrix geweckt.", erklärte Mira die Angelegenheit noch einmal. Das gesamte Team lauschte den Worten ungläubig. Claw ging zum Fenster und blickte über die Dächer Redmonds hinweg zu den hohen Bergen im Osten, dort, wo ihr Stamm lebte. Edge schaute trübsinnig in seine Bierdose, also ob es dort etwas zu entdecken gäbe. Honest aber stand auf und nahm Mira in den Arm. Er wusste genau, wie es war, wenn man darin versagte, worin man am besten war. Und wenn man nichts dagegen machen konnte. So wie eine aus 1500 Metern abgefeuerte Hochgeschwindigkeitskugel aus einer schallgedämpften Smartwaffe. Nie wieder würde er eine Person verlieren, deren Schutz er versprochen hatte. Wie eine Sicherheitspanzerung legten sich seine mächtigen Arme um die zierliche Elfe.

24. Dezember des Jahres 2053 – King Street Station, Downtown Seattle

Claw und Edge standen mit gepackten Rucksäcken an der Straße und warteten auf den Bus, der sie ins Council bringen würde. Winterurlaub in den Bergen. Etwas Gras über die Sache wachsen und vielleicht noch etwas Schnee auf die Sache fallen lassen. Der Eurocar Westwind 2000 von Edge hielt an der Bordsteinkante, genau vor den Beiden. Mira öffnete das Beifahrerfenster. "Na, ihr Beiden? Alles klar für Urlaub?", fragte sie. Beide nickten. "Ich habe die Daten und Missionsparameter noch mal gecheckt. Was wir da in den Rechner geschleust haben, ist ein Virus, der die Hydroponikanlagen angreifen wird. Mal sehen, wann da jemand auf das Knöpfchen drückt und Renraku einen empfindlichen RP-Schlag versetzt. Wie auch immer. Das Geld ist da. Wir haben die vier erbeuteten SCK-Maschinenpistolen, das High-Tech-Katana und die Paydata für wirklich gute Geld verkauft. Und ich habe mein Deck bei Silver vertickt. Das haben wir gemeinsam organisiert, also teilen wir auch das Geld. Honest und ich fahren jetzt erst mal nach Kalifornien, auch etwas Urlaub machen. Außerdem gibt’s da einen Doc, der den neuesten Kram von MCT hat, was Social Modding angeht. Ich lass mir einen Stimmverstärker einbauen und vielleicht sogar Talentleitungen. Dann machen wir in Zukunft mehr den sozialen Ansatz. Das mit der Matrix hat keine Zukunft. Ein Glück muss ich mich dann nicht jeder jeden Tag damit auseinandersetzen.", erklärte Mira ihre weiteren Pläne.

Honest ließ den Westwind anrollen. Mira gab den Beiden auf dem Gehweg ihr gewinnendstes Lächeln: "Frohe Weihnachten! Und bis bald."