Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Stefano Monachesi
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Tag der Entscheidung

Bern, 6. Dezember 2022

Nichts verpassen mit Blixx! Alles zum Abstimmungssonntag auf Blixx! Die neusten Hochrechnungen zum MTG von Blixx! Metamenschen-Trennungsgesetz: Ja: --% (-- Kantone), Nein --% (-- Kantone)."

Beat Hungerbühler seufzte und blickte schon wieder auf den Bildschirm seines Rechners, wo ein Countdown die verbliebenen Minuten hinunterzählte bis zwölf Uhr, wenn die Wahllokale schließen würden. Noch nie hatte ihn eine Abstimmung so nervös gemacht, so heftig mitgenommen. Denn es ging um alles: Es ging um seinen Sohn.
Sein Blick wanderte weiter zu den Fotos von Roger, die auf seinem Schreibtisch standen. Nur aktuelle, mit Horn und Hauern. Die alten hatte er verbannt. Er wollte Roger nicht das Gefühl geben, er wünsche sich zurück in die Zeit vor der Verwandlung. Liebe den kleinen Röschu von damals mehr als Rog the Trog, den zwei Meter fünfzig messenden Teenager. Seit anderthalb Jahren versuchte Hungerbühler, bedingungslos zu seinem Sohn zu stehen. Sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn die dröhnende Stimme, die knotige Haut, die schiere Größe noch immer erschreckten. Ihn vor dem Hass zu schützen, der ihm überall entgegenschlug. Dem Hass, der heute Gesetz zu werden drohte.

Schweizerinnen und Schweizer! An die Urnen! Und nehmt die Sturmgewehre mit!

Digi-Flugblatt der Aktion Heimatschutz

((Staatsschutz-Fiche 023-2X3LE)) Name: Hungerbühler, Vorname: Beat, Alias: Beatle, Geburtsdatum: 21.04.1980, Zivilstand: Verwitwet, Kinder: Hungerbühler Roger, 04.08.2006 (goblinisiert). Abstract: Sozialpädagoge und Politaktivist (Gründungsmitglied des Linken Flügels, Pro-Meta), persönliche Verbindungen zur Besetzerszene und zur Aktion Linksdrall. Beobachtungen: ... 07.04.2022: Mittagessen (Migros-Restaurant) mit Regine ("Mentona") Mai <Fiche>, Gespräch über Wanderrouten (Code für staatsfeindliche Umtriebe?). H. zahlt Rechnung für beide. Küsschen zum Abschied (Tarnung für geflüsterte Worte?) ...

NON À L'ANTI-MÉTAÏSME! COMBATTEZ LES ROESCHTIS!

Graffiti am Genfer Hauptbahnhof

"Hoi, Beatle! Wie gehts dir?"

"Ich hab so einen Knoten im Magen, Ursi. Die Würfel sind gefallen, aber wir müssen noch Stunden warten, bis wir wissen, was sie zeigen."

"Klar, das stresst, das macht einen fertig. Hast du schon was genommen? Ich habe kürzlich Zetatranq probiert. Das ist was Neues von Zeta-Imp Chem, das holt dich wirklich gut runter."

"Bleib mir vom Leib mit deinem Chemoscheiß, Schwesterchen!"

"Ja sorry, ich weiß, Andrea und du, ihr wart immer mehr auf diesem Kräutertrip. Aber warum rufst du mich an, wenn du meine Hilfe nicht brauchen kannst?"

"Ich muss halt mit jemandem reden. Rog ist irgendwo abgetaucht. Und seit mir VITAS Andrea genommen hat, bist du die einzige, der ich voll vertraue. Naja, neben Mentona, aber die ist auch weg vom Netz."

"Du machst mich ganz verlegen. Aber hör mal, ich bin recht zuversichtlich. Die Stimmbürger sind nicht so dumm, Hunderttausende aus der Schweiz zu vertreiben, wenn uns schon wegen VITAS überall die Arbeitskräfte fehlen. Und die Welschen sind sowieso auf unserer Seite oder jedenfalls gegen alles, was sich die rechten Hetzer im Parlament ausdenken."

"Vergiss nicht, dass die rechten Hetzer die Mehrheit im Parlament haben, weil sie von einer Mehrheit des Volkes gewählt werden. Ich mach mir wenig Illusionen, dass wirtschaftliche Argumente sich gegen Angst und Hass durchsetzen werden. Am meisten Hoffnung setze ich noch auf die Gerichte, die das Ganze vielleicht stoppen oder wenigstens verzögern können."

"Hoffnung, das ist doch das Stichwort, Beat, einfach die Hoffnung nicht aufgeben!"

Blixx Wahlalarm! Erste Resultate! Jura: 21% Ja, 79% Nein. Appenzell Ausserroden: 72% Ja, 28% Nein.

Mentona Mai kümmerte sich nicht um Prognosen und Resultate. Hass war Hass, ob mit oder ohne Paragraphen. Ein Nein zum Trennungsgesetz würde nichts daran ändern, dass Metamenschen in der Schweiz unerwünscht waren. Die ganze Abstimmung war Zeitverschwendung. Eine Falle, um die Kräfte der Metas und ihrer progressiven Freunde zu binden. Sie fiel darauf nicht herein. Sie hatte die Zeit besser genutzt. Sich organisiert. Ressourcen besorgt, Verstecke gebaut, Fluchtrouten erkundet. Sie hatte nicht vor, sich und ihre Freunde den Rassisten einfach auszuliefern. Sie war bereit zu kämpfen.

Elfenhexer planen Zauberzwang gegen Meta-Trennung!

Blick-Schlagzeile, 21. Oktober 2022

Liebe Mentona, es freut mich, von dir zu hören, und es ehrt mich, wie hoch du meine Fähigkeiten einschätzt. Aber ehrlich: in den Untergrund? Ich glaube, du siehst die Lage zu dramatisch. Ein Ja zum MTG heißt ja nicht, dass morgen die Polizei bei einer halben Million Metas läutet, sie in einen Kastenwagen zerrt und zur Grenze spediert. Die Logistik dafür gibts gar nicht und auch nicht den Willen. Das wird von der Bürokratie ausgebremst werden und sich gutschweizerisch in die Länge ziehen. Wenn du etwas tun willst, unterstütze unsere Klage gegen das Gesetz am UNO-Gerichtshof. Das scheint mir viel aussichtsreicher als Molotovs und Manabälle. Überhaupt rechne ich fest damit, dass sich die Aufregung über Orks und Trolle in ein paar Jahren gelegt hat. Genau wie das Misstrauen gegen Magie. "Als nächstes werden sie euch Erwachte am Wickel haben", schreibst du, das ist doch Panikmache. Im Gegenteil, mein Projekt für ein Studienfach Hermetik an der ETH macht gute Fortschritte.

Auf meine magischen Künste wirst du darum leider verzichten müssen. Aber ich kenne deinen Dickkopf ja bestens, von meinen Einwänden wirst du dich nicht bremsen lassen. Also will ich dir im Sinne unserer alten Freundschaft einen Tipp geben: Im Urserental hat sich ein Kreis von Naturhexen angesiedelt, die deinen Ideen gewiss näherstehen als ich. Einen Kontakt kann dir Gonzo in Luzern vermitteln.

Alles Gute, deine Lucy.

Blixx Wahlalarm! Neue Resultate! Aargau: 61% Ja, 39% Nein. Zwischenstand (13 Kantone): 66% Ja, 34% Nein

"Ich bins, Menty. Ja, du hattest Recht. Der Mist ist geführt, das schleckt keine Geiß weg. So viele Freunde haben die Metas nicht in Zürich oder Bern, dass da noch etwas kippen könnte. Ja, Scheiße. Danke, das weiß ich zu schätzen. Ja, natürlich geht es um Roger. Wir müssen uns jetzt auf alle Eventualitäten vorbereiten. Wie laufen deine Pläne? Hättest du irgendwo einen Platz für meinen Jungen? Wenn alle Stricke reißen. Was? Doch nicht als Kämpfer, Mentona! Einen sicheren Ort, wo er eine Zukunft findet. Klar bin ich bereit, dafür zu zahlen. Was immer nötig ist. Nein, er ist nicht hier. Ja super, er wird dich anrufen, sobald ich mit ihm gesprochen habe."

Blixx Wahlalarm! Schlussresultat Metamenschen-Trennungsgesetz: Ja 58% (11 Kantone), Nein 42% (7 Kantone). ANGENOMMEN!!!

Rog stapft die Gerechtigkeitsgasse hinauf, die durch die schäbigen alten Leuchtsterne der Weihnachtsdekoration nur schwach beleuchtet wird. Er hat die Hände in die Jackentaschen gesteckt, es eiskalt an diesem Nikolausabend. Er achtet nicht auf die bröckelnden Fassaden der mittelalterlichen Häuser mit ihren Laubengängen. Er grübelt über den Ausgang der Abstimmung nach. Es war nicht anders zu erwarten, und trotzdem ist es ein Schock. Was wird jetzt? Normale Jugendliche seines Alters sorgen sich um eine Lehrstelle, er sorgt sich um sein Leben. Wo soll er hin, wenn er in seiner Heimat nicht erwünscht ist? Immerhin werden sie Minderjährige hoffentlich nicht gleich von ihren Eltern wegreissen. Er hat also wohl noch zwei Jahre Gnadenfrist.

Als Rog am Brunnen mit der Figur der Justitia vorbeigeht, lösen sich aus den Lauben ein halbes Dutzend Gestalten. Zwei weitere steigen aus einem parkierten Auto. "Hey, Rübezahl!", ruft einer. "Ja, dich meinen wir, Geißbock!", brüllt ein Zweiter. "Hast du die News nicht gehört? Du hast hier nichts mehr zu suchen!". Sie umringen ihn, er schaut auf sie hinunter. Selbst der Größte ist drei Köpfe kleiner als er. Sie tragen Lederjacken oder dunkelblaue Anoraks, verwaschene, hochgekrempelte Jeans, Springerstiefel.

"Was guckst du so, Dorftrottel?" Sie überbieten sich gegenseitig mit Beleidigungen, aber er kann hinter ihren Augen sehen, dass sie sich vor ihm fürchten. Er hat keine Lust auf Krise. Er hebt beschwichtigend die Arme, doch sie sehen es als Drohung, nehmen die Fäuste hoch.

Plötzlich erkennt er einen unter ihnen. "Sag mal, bist du nicht Hansli Roggenmoser? Wir waren doch in der gleichen Primarschulklasse." Der andere zuckt zusammen. "Quatsch!", ruft er. "Doch", insistiert Rog, "wir haben zusammen Drachenjäger am Fujisan gezockt." Kopfschütteln und zorniges Stampfen erhält er zur Antwort. Doch nun mischt sich der Rest ein. "Stimmt das, Janni? Du kennst den? Bist du ein heimlicher Trogfreund?"

Janni wird rot, beginnt zu zittern. Bevor die andern weitermachen, ergreift er die Flucht nach vorne: Er stürzt sich auf Rog, prügelt mit den Fäusten auf dessen Bauch ein. Rog fühlt es kaum durch seine Dermalpanzerung. Er will Janni wegschieben, doch er unterschätzt seine Kraft. Der Kleinere fliegt durch die Luft und prallt hart auf die Pflastersteine.

Das ist das Signal zu Angriff. Von allen Seiten kommen sie jetzt. Rog versetzt einem eine Ohrfeige, tritt einem ans Schienbein, stösst einen in den Strassengraben. Fast amüsiert ihn das Ganze, doch dann sieht er ein Messer aufblitzen. Ein zweites, drittes, bald haben alle eine Klinge in der Hand. Das ist kein Spaß mehr.

Rog springt nach vorne, zwischen zwei Gegnern hindurch, und läuft davon. Seine Beine sind länger als ihre, seine Lungen mächtiger, er kann sie locker abhängen. Wenn er den Kornhausplatz erreicht, kann er in ein Tram springen und nach Hause fahren. Da hört er den Motor aufheulen. Scheinwerfer gehen an in seinem Rücken, die Lichtkegel auf der Strasse vor ihm werden länger, das Brummen rasend schnell lauter. Dann spürt er einen Schlag gegen die Beine. Er wird hochgehoben, rollt über Motorhaube und Dach, schlägt hinten hart auf dem Pflaster auf. Benommen bleibt er liegen. Sechs Schatten mit Messern umringen ihn.