Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Thomas Pfab
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Geschichten aus dem Hasenbergl: Mika

Megablock "Dachauer Blick", München, 07.12.2081

Mika lehnte an einer Straßenlaterne direkt gegenüber vom Eingang des Dachauer Blicks, die Hände tief in den Taschen ihres langen Mantels vergraben. Von hier unten aus konnte sie das Dach des gewaltigen Hochhauses nur erahnen, dessen brachiale Konturen sich deutlich vom wolkenlosen Nachthimmel absetzten. Das tiefe Schwarz wich bereits langsam einem dunklen Blau. Mikas Zeichen loszulegen.

Sie ließ den Blick an der heruntergekommen Fassade entlang herabwandern. Es mussten über fünfzig Stockwerke sein – was für ein absurder, größenwahnsinniger Bau. Geschäftiges Treiben herrschte unten vor dem Eingangsbereich, wo sich trotz dieser frühen Uhrzeit bereits immer wieder Menschen die Klinke in die Hand gaben.

Ein eiskalter, scharfer Windstoß wehte durch die Straße und ließ Mika einen Schauer über den Rücken laufen. Sie zog noch einmal genüsslich an ihrer Zigarette. Sofort breitete sich eine wohltuende Wärme in ihr aus, während sich der Qualm von innen an ihren Rachen schmiegte. Das gute, echte Zeug.

"Ich habe dir doch gesagt, du sollst endlich mit den verdammten Glimmstängeln aufhören, Kleine." Sie konnte Pipers freches Grinsen dabei förmlich hören. "Das Zeug bringt dich noch um."

Mika stieß eine kleine Rauchwolke durch den Mund aus und sah dieser verträumt hinterher, bevor sie sich verflüchtigte.

"Was du nicht sagst, elende Klugscheißerin", hauchte sie lächelnd in den Nachthimmel.

Nur für einen kurzen Augenblick zögerte Mika, spürte eine drückende Leere in sich hochkriechen, doch sie schüttelte sich – fast so, als könnte sie das Gefühl damit einfach abwerfen.

"Etwa doch Zweifel?", fragte Piper. "Noch kannst du diese bescheuerte Nummer abblasen."

Mika schnaubte leise auf, schnipste achtlos die Kippe beiseite und stieß sich von der Wand in ihrem Rücken ab. Beim Überqueren der Straße tastete sie automatisch noch einmal nach der Pistole unter dem Mantel, fühlte das harte Metall an ihrer Hüfte. Natürlich, als hätte sie jemals ohne ihr Werkzeug das Haus verlassen.

Sie stapfte über einen Schotterstreifen auf den Eingang zu, vor dem ein einzelner, breitgebauter Mann mit Mütze stand. War das etwa Security? Als sie näherkam, hob er den Kopf und sah sie an. Sofort spannte Mika die Muskeln in ihrem rechten Arm an.

"Ganz locker bleiben", mahnte Piper. "Stell dir einfach vor, du würdest hier wohnen."

Wortlos lief Mika daraufhin an dem Mann vorbei, der sie widerstandslos passieren ließ. "Selbstverständlich", wies sie sich zurecht. Mit einem langen Atemzug entspannte sie sich wieder, während sie das Gebäude betrat. Das war hier schließlich kein Hochsicherheitstrakt.

"Siehst du? Ganz easy, wenn man nicht immer alles kurz und klein schlägt", warf Piper gehässig ein.

"Das gerade von dir? Ich habe dich oft genug erlebt."

"Uns trennen Welten, Kleine!"

"Leider wahr…", murmelte Mika.

Nur unwesentlich wärmere Luft empfing sie im Inneren, aber immerhin hatte sie den eisigen Wind hinter sich gelassen. Schnell verschaffte sie sich einen Überblick. Überall Graffiti an den Wänden, flackernde Beleuchtung. Irgendwo tropfte es rhythmisch von der Decke. Abgerissen Gestalten, Müllsäcke, Dreck. Kaum besser als in ihrer eigenen Bruchbude ein paar Straßen weiter.

Aber eine Sache riss ihre Aufmerksamkeit auf sich: Der gigantische Schacht, der in der Mitte des Gebäudes bis ganz nach oben führte. Bei Tageslicht bestimmt ein beeindruckender Anblick, aber jetzt ein dunkler, gewaltiger Schlund - als würde das Haus selbst sie verschlingen wollen. Treppen führten an den Seiten des Schachts zu den höher gelegenen Etagen, aber Mika hatte herzlich wenig Lust, die verbleibenden neunundzwanzig Stockwerke bis zu ihrem Ziel zu Fuß zurückzulegen.

"Bisschen mehr Kondition würde dir guttun", frotzelte Piper.

"Leck mich", brummte Mika grinsend.

Sie durchquerte das ausladende Erdgeschoss, in dem sich auf beiden Seiten etliche Geschäfte und Restaurants befanden, bis sie bei den Fahrstühlen ankam. Diese machten immerhin einen halbwegs soliden und gewarteten Eindruck, auch wenn sie diesen Dinger nie über den Weg traute. Mika betrat die stickig müffelnde Kabine und drückte seufzend auf den Knopf. Die Türen schlossen sich, beinahe gehässig quietschend.

"Scheiße, wie sehr ich diese Särge hasse", knurrte sie. Ihr Fuß wackelte nervös, während der Fahrstuhl nach oben glitt.

"Wolltest ja nicht auf mich hören."

"Lieber verrecke ich elendig hier drin als diese Treppen hochzulatschen." 

Als hätte der Aufzug sie gehört, erschütterte ein kurzer Ruck die ganze Kabine.

"Sag das mal lieber nicht zu laut, Kleine."

Mikas Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. "Endlich ein brauchbarer Vorschlag von dir", zischte sie, jetzt betont leise.

Doch da setzte der Fahrstuhl seinen Weg auch schon wieder fort, ruhig und ohne weitere Zwischenfälle. In der dreißigsten Etage angekommen, wurde Mika von einem bunten Chaos aus Bars, Supermärkten und anderen Geschäften empfangen. Das Feuerwerk greller Anzeigen auf Mikas Kontaktlinse bohrte sich in ihren übermüdeten Verstand.

"Sieht unterhaltsam aus."

Mika schüttelte den Kopf. "Arbeit, schon vergessen?"

"Oh, plötzlich so erwachsen?"

Wortlos lief Mika an einer Gruppe Betrunkener vorbei, die ihr kurz hinterherpfiffen. Ein nach hinten gestreckter Mittelfinger war ihre einzige Antwort, während sie sich unbeirrt umsah. Schließlich entdeckte sie den beschriebenen Wartebereich und die dahinterliegenden Büroräume. Um diese Uhrzeit war weder der Empfang besetzt, noch brannte Licht in einem der angrenzenden Zimmer. Sie war wohl noch etwas zu früh dran, aber das kam ihr gerade recht. Routiniert machte sie sich in aller Ruhe am Schloss des äußersten Büros zu schaffen. Ein Schild an der Tür wies es als das des gesuchten Anwalts Meyer aus. Klackend sprang das Schloss auf, was Mika ein kurzes Lächeln auf die Lippen zauberte. Als würde sie so etwas aufhalten.

Sie betrat den finsteren Raum – und hielt abrupt inne.

Der Anblick aus der gegenüberliegenden Fensterfront war absolut atemberaubend. Noch war es draußen dunkel, doch die Sonne kündigte bereits ihr Aufgehen mit einem herrlichen warmen Farbverlauf am Himmel an.

"Da könnte man doch fast neidisch werden auf ehrliche Arbeit, oder Kleine?"

Ächzend ließ Mika sich auf einen Drehstuhl hinter dem Schreibtisch fallen, zog ihre Warhawk aus dem Holster und legte die schwere Pistole vor sich auf die Tischplatte. Vor acht Uhr tauchte dieser Meyer sowieso nicht auf, also warum nicht noch kurz den Ausblick genießen?

Mika stieß sich mit den Füßen am Schreibtisch ab und rollte nah an das Fenster heran. Sie drückte ihre Nase förmlich an die Scheibe, sodass diese leicht beschlug. Zahllose Personen wuselten chaotisch auf der Straße entlang, wie kleine Ameisen. Von hier oben sah alles so winzig aus, so… belanglos. Als wären all ihre Probleme unendlich weit weg. Dort unten, in weiter Ferne.

Sie holte tief Luft und wandte sich wieder ab, widerwillig. Dann zog sie der Reihe nach von unten nach oben die Schubladen des Schreibtischs auf. Vielleicht versteckte sich hier auch noch ein kleiner Bonus - obwohl ihr Auftraggeber ohnehin alles andere nicht sparsam war für so eine ordinäre Inkasso-Nummer. Dieser Anwalt musste definitiv den falschen Leuten auf den Schlips getreten sein. Von wegen ehrliche Arbeit…

Mika öffnete das letzte Fach und spähte hinein, als sich schlagartig ihr Magen zusammenzog. In der Schublade lag ein gerahmtes Foto eines Mädchens im frühen Teenager-Alter. Sie lächelte fröhlich in die Kamera, stand Arm in Arm mit dem Mann, auf den Mika es abgesehen hatte.

"Scheiße", fluchte sie leise. "Der hat Familie?"

"Was dachtest du denn?"

"Keine Ahnung…"

"Dass jeder so ein armes, einsames Findelkind ist wie du?"

"Nein, natürlich nicht, aber…" Mika zögerte.

Der unschuldige Blick des Mädchens bohrte sich erbarmungslos direkt in ihre Brust. Sie schob das Bild etwas beiseite und zog einen Zettel raus, der darunter hervorragte. Ein kindliches, buntes Gekritzel war darauf zu sehen und in krakeliger Handschrift die Worte: Ich hab dich so lieb, Papa.

Mika wurde plötzlich unfassbar übel.

"Hey, machst du jetzt etwa schlapp?"

Sie reagierte nicht, starrte nur mit zusammengepressten Lippen auf das Bild.

"Du sollst ihn doch auch nicht gleich umlegen", säuselte Piper sarkastisch. "Aber ohne ein paar gebrochene Knochen kannst du deine ach so geliebte Bezahlung wohl vergessen."

Mika ballte die Fäuste und sah zu ihrer Pistole auf dem Tisch. Was war nur mit ihr los?

"Also? Ziehst du die Scheiße durch?", fragte Piper. "Oder meldet sich doch endlich dein Gewissen, Kleine?"

"Mann, ich brauch doch die verdammte Kohle", stöhnte Mika. "Was soll ich denn sonst tun?"

"Weißt du, was du wirklich brauchst…?"

Mika drehte sich um und sah aus dem Fenster. Langsam ging das tiefe, dunkle Blau in ein wärmeres Lila über. Ein Hauch von Orange zeichnete sich ab. Leichter Dunst hing in der Luft und tauchte die Szenerie in eine surreale Atmosphäre.

"Ein Scheißbier brauch ich jetzt", murmelte Mika.

Sie schnappte sich ihre Waffe vom Tisch, kickte die Schublade wieder zu und marschierte hinaus auf den Flur. Nur für einen winzigen Moment warf sie einen Blick zurück über die Schulter. Doch dann schlug sie die Tür hinter sich zu.

"Bin stolz auf dich."

"Davon kann ich meine Miete auch nicht zahlen", grummelte Mika und stapfte wieder zum großen Schacht in der Mitte des Gebäudes zurück.

Von allen Seiten brannten sich erneut die leuchtenden Schilder und Anzeigen in ihre Netzhaut, priesen Alkohol in allen Formen und Farben an – doch Mikas Augen blieben an einem rostigen Getränkeautomaten an der Seitenwand hängen. Eine Dose in dessen Auslage hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Paulaner. Pipers Lieblingsmarke.

"Das gute Zeug", hauchte Mika leise.

Sie kramte ihren fast schon leeren Credstick hervor und steckte ihn in das antike Lesegerät an der Seite des alten Automaten. Zweimal wählte sie anschließend das Bier aus, woraufhin es polternd nach unten in das Ausgabefach fiel. Durch den massiven Schacht hinter ihr kroch mittlerweile hauchzartes Tageslicht von oben herein. Fast Viertel vor acht, kurz vor Sonnenaufgang. Unwillkürlich musste Mika lächeln, als sie die beiden eiskalten Dosen aufsammelte. So eine Gelegenheit kam so schnell wahrscheinlich nicht wieder.

"Denkst du, was ich denke?", fragte sie leise und sah am Zentralschacht entlang nach oben.

Keine Antwort. Natürlich nicht.

Seufzend lief Mika zu den Fahrstühlen zurück, betrat eine offene Kabine und wählte das oberste Stockwerk als Ziel. Dort angekommen, fand sie nach kurzer Suche schnell ein Treppenhaus neben den Aufzügen. Fluchttreppen, unverschlossen. Mika erhöhte das Tempo und eilte noch drei weitere Etagen nach oben, bevor sie die letzten Stufen hinaufsprang und eine dicke Stahltür mit der Schulter aufdrückte.

Sofort schlug ihr ein heftiger Windstoß ins Gesicht, kalt und scharf. Doch es war nicht unangenehm – im Gegenteil, eher erfrischend. Sie fühlte sich plötzlich so unglaublich… lebendig.

Der Himmel leuchtete mittlerweile beinahe golden, es war also jeden Moment so weit. Schnell trat Mika an den Rand des Dachs heran, das von einer brusthohen Mauer umgeben war. Sie stellte eine Dose direkt vor sich darauf ab, die andere ein Stück daneben.

Das Rauschen des Winds vermischte sich mit dem monotonen Surren einiger Turbinen und technischer Anlangen hinter Mika. Doch das störte sie nicht im Geringsten. Alles, was jetzt zählte, war dieser Moment. Kein Geld, keine Miete. Gar nichts.

Nur dieser flüchtige Augenblick.

Mika öffnete ihre Dose und lehnte sich mit einem Arm auf die Brüstung. Über die Dächer der Stadt spähte nun langsam die Sonne hervor, tauchte den Himmel in ein pastellfarbenes Feuer und warf ihre ersten Strahlen durch den Dunst hindurch. Ein absolut malerischer Anblick, der Mika etliche Sekunden lang vollkommen in den Bann zog.

Dann sah sie instinktiv kurz auf den leeren Platz neben ihr; zur herrenlosen Dose auf der Mauer. Schlagartig schossen Mika Tränen in die Augen.

Es war einfach nicht dasselbe ohne sie.

Nichts war das, nicht einmal mehr Mika selbst. Außer dieser alles verschlingenden Leere in ihrer Brust war nichts mehr übrig. Sie ließ sie nicht mehr los, biss sich gnadenlos in ihr fest, vernebelte ihren Verstand. Was hatte sie sich bei diesem Auftrag bloß gedacht? Was zur Hölle war nur falsch mit ihr?

"Scheiße, du fehlst mir so sehr…", hauchte Mika ins Leere.

Manchmal konnte sie Piper beinahe hören. Manchmal, wenn sie sie besonders stark vermisste, an Tagen wie heute. Als würde ihre alte Freundin ihr noch wie damals ungefragt ihre Moralpredigten halten; ihr die immer gleichen altklugen Ratschläge geben. Ihr einziger Anker, ihr strahlender Leuchtturm in diesem finsteren Drecksloch. Ein letztes Echo aus besseren Tagen.

Plötzlich spürte Mika eine kühle Träne über ihre Wange rollen. Schnell wischte sie sie mit dem Handrücken weg und blickte durch den feuchten Schleier vor ihren Augen noch einmal in den wundervollen Sonnenaufgang.

"Ich hab dir das nie gesagt, aber… danke für alles", flüsterte sie heiser.

In den warmen Sonnenstrahlen blitzten die Tropfen außen an der Dose neben ihr auf, fast wie zu einer stillen Antwort.

"Bisschen früh für Bescherung, aber lass es dir schmecken." Mit bebenden Lippen rang Mika sich ein schwaches Lächeln ab und stieß ihre eigene Dose gegen das Bier auf der Mauer. "Frohe Weihnachten."