Eine Kurzgeschichte von Daniel Jennewein
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024
Geschichten aus dem Hasenbergl: Mika
Als ich durch vermüllten Straße meines alten Kiezes gehe, fällt mir auf, wie lange ich nicht mehr hier war. In den letzten Jahren habe ich meinen Vater nur noch seltener gesehen und wenn, dann außerhalb. Ich lud ihn ein und ebnete ihm mit einem einzigen Anruf den Weg hinaus und fühlte mich dabei wie ein guter Sohn. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Adam sogar eine Wohnung in Moosach oder gar in der Schwanthaler Höhe in meiner Nachbarschaft besorgt. Aber mein alter Herr wollte seine Werkstatt nicht verlassen. Wahrscheinlich ging es ihm auch um seine Nachbarn, die davon abhängig waren, dass er ihnen half.
Um mich herum ist das Hasenbergl in den letzten anderthalb Jahrzehnten verfallen. Die Natur holt sich hier und da das Viertel zurück, bricht Beton und Asphalt auf und niemand drängt sie zurück. Viele Häuser verwahrlosen, sobald sie von den immer zahlreicher und kleiner werdenden lokalen Netzen abgeschnitten werden. Illegale Müllverbrennungsanlagen verpesten die Luft aber sie schenken ein paar Straßenzügen unstete Wärme.
Ich lache auf, als mir auffällt, dass mit der Abwesenheit der Ordnung auch die Kabel zurückkehren. Die Matrix ist hier ein scheues Reh, dass schneller aus dem Blickfeld verschwindet als man "Rauschen" sagen kann. Das Signal ist brüchig und es gibt wenige Gangs die über illegale Repeater verfügen. Uralte Glasfaserkabel durchziehen die Gassen und werden nebenher als Wäscheleinen und Transportseilbahnen genutzt. Das Hasenbergl mutet an, wie ein mediterranes Ghetto, in dem die Bewohner das Beste aus der beschissenen Lage machen. Wenn da nur nicht der Schneeregen wäre und die Kälte wären.
Noch vor einem Jahr war ich meilenweit entfernt von dieser Tristes. Ich war ganz oben und doch schon im freien Fall. Gerade einmal ein einziges Jahr musste ich in der Sonderverwaltungszone überleben, dann hatte ich als einer der letzten Jahrgänge im Hasenbergl einen Schulabschluss in der Tasche. Die Schule, die mir die mittlere Reife und damit mein Ticket aus der Zone einbrachte, existiert heute nicht mehr. Ist angeblich ein Lager der Grimms.
Mit meinem Abschluss in der Tasche reihte ich mich in die Schlange der Jugendlichen ein, die sich für einen Job "draußen" bewarben. In der heilen, sauberen, lichten Welt. Ich bewarb mich bei den Schwarzen Sheriffs. Ausgerechnet. Ich kannte die netten Schutzmänner noch aus meiner Kindheit. Ich war ein Norm und unsere osteuropäischen Wurzeln sah man uns kaum an. Mein Vater führte seine Werkstatt und im Hasenbergl der Fünfziger zählten wir zur "gehobenen Unterschicht". Also zu den oberen Zehntausend in Monte Karotte.
Ich war kein Rassist, aber ich war schwächer als die orkischen Nachbarskinder in meinem Alter. Als diese wie alle Jugendlichen um mich herum auch in eine Gang eintraten war ich froh über jeden Streifenwagen. Dann wurde das Revier dicht gemacht und die Grimms zogen als verlängerter Arm der Djorovics dort ein. Vater weigerte sich für Klaue und seine Gang zu arbeiten, aber er war zu nützlich, als das man ihn einfach aufschlitzte. Also war ich Mitte der Sechziger kein Bullenhasser. Die Sheriffs hatten mir nichts getan und das das Hasenbergl vor die Hunde ging, war nicht ihre Schuld. Vielleicht könnte ich vor Ort in der Uniform sogar etwas verbessern. Nicht nur in Moosach. Sondern sogar in der Zone! Ich war so dumm.
Aber immer noch klüger als die meisten Jungs und Mädels in meinem Alter. Und vor allem konnte ich quatschen. Konnte ich schon immer. Ich beobachtete mein Gegenüber, während ich mit ihm redete und mit jedem Satz sah ich wie sich Falten glätten, Augen vergrößern, Mundwinkel heben. Good Company! Ich verbreite gute Laune, ich kann mit Anderen. Das Bewerbungsgespräch war also ein Klacks und ehe ich es mich versah, steckte ich in den grauen Overalls einer Einsatzhundertschaft. Demos, Unruhebekämpfung, Verkehrsmaßnahmen. Der kunterbunte Alltag einer geschlossenen Einheit. Danach Streifendienst in Pasing und dann endlich kam ich nach Moosach und in die Kontaktgruppe. Wir fühlten uns wie Marshalls in unseren gepanzerten SUVs. Zu zweit mitten in der Zone. "In Feindesland." Für mich war es eine Rückkehr in die Heimat. Nur diesmal am Steuer eines 300PS-Monsters. Mit einer Knarre an meiner Seite und in schwarzer Uniform. Wir lösten Furcht aus oder zumindest Respekt. Wenn wir riefen, waren die Jungs vom Befriedungszug nur fünf Minuten entfernt. Zwei, drei Gangs mussten erfahren, dass wir keine leichte Beute waren, und danach ließ man uns in Ruhe. Weil wir auch keinen Ärger brachten. Wir waren nicht die Handlanger der Zielfahndung, die in die Zone brachen, um Haftbefehle zu vollstrecken und flüchtige Kriminelle festzunehmen. Wir waren die guten Jungs. Der Schutzmann, der Schandi, der Gendarm. Wir kümmerten uns um die Bevölkerung und ihre Probleme. Waren Geleitschutz für Hilfslieferungen sozialer Projekte oder von Angestellten des Jugendamtes oder des Sozialen Dienstes. Wir merkten bald, dass wir ein Tropfen in der Wüste waren und ein Vorzeigeprojekt mit Prestigecharakter. Wenn Wahlen anstanden, ließen sich linke Politiker dabei abfilmen wie sie unsere Lieferungen begleiteten und auch die Konzerne nutzten uns gerne als kostengünstige Publicitymaßnahme. Ein wenig Ablasshandel der Reichen und Schönen. Doch meistens waren wir alleine und unsere Hände leer.
Doch nicht ganz. Eine Organisation unterstützte uns immer. Jederzeit. Schickte Lebensmittel, Medikamente, Werkzeuge. Anfangs waren es eine handvoll kleinerer lokaler Firmen, die uns belieferten, aber schnell fanden wir heraus wer hinter ihnen stand. Eine wohlhabende, einflussreiche Familie aus Starnberg. Die Familie Djorovic. Der kroatische Mafia-Clan, der die Münchner Unterwelt kontrollierte. Die Tschechen waren mittlerweile nur noch kleine Putzerfische die die Nischen besetzten, die ihnen Athena und ihre Brüder ließen. Selbst die Schatten und ihr Schieber-Quartett respektierten die Vorherrschaft der Grauen Wölfe in München und mittlerweile hatte sich auch nahezu jeder damit abgefunden, dass eine Frau anführte. Athena Djorovic stellte sich gut mit der Münchner Polizei und ich war dumm genug, die Hilfe nicht zu hinterfragen. Bald schon waren wir nicht mehr nur Geleitschutz für Hilfslieferungen von NGOs, sondern beschützten auch Konvois der kroatischen Mafias vor dem Zugriff vorwitziger Gangs. Das sich zwischen den Lebensmitteln und Hilfsgütern sicherlich auch die eine oder andere illegale Schmuggelware befand, war mir herzlich egal solange es den Bürgern des Hasenbergls half.
Und die Djorovics waren dankbar: Beim Imbiss fanden wir in unseren Tüten einen kleinen Nachtisch, dann vergaß ein Kellner "ihrer" Restaurants zu kassieren, als mein Kolllege sich ein neues Auto kaufen wollte, bekam er es bei einem Händler zu einem wirklich unverschämt günstigem Preis. Überhaupt bekamen wir plötzlich Rabatte. Und irgendwann Geschenke. Und Einladungen. In Clubs und Bars. Dann in Nachtclubs. Und schließlich ganz unverblümt in eines ihrer Bordelle.
Die Lieferungen der Djorovics veränderten sich. Die Tarnung wurde immer schlampiger und schließlich kam der erste Wagen mit vier jungen Frauen aus Tschechien. Als ich meinen Kontakt bei der Familie anrief und ihm erklären wollte, dass das so nicht ging, lernte ich Zethos kennen. Seine Schwester hatte ihn zurück aus Nürnberg beordert. Weil es in Franken auch ohne ihn lief? Wohl eher damit sie ihn an der kurzen Leine hatte. Das Hasenbergl überließ sie ihm als Spielplatz, damit er einen Ort hatte, an dem er sich austoben konnte. An diesem Abend tobte er sich an mir aus und schlug mich halb tot. Erst danach erklärte er mir genüsslich die Ausweglosigkeit meiner Lage. Das man genaue Aufstellungen darüber hätte, wie viele zigtausend Euros an Schmiergeld ich schon verschlungen hätte. Dass die Miete meiner Wohnung dreimal so hoch sein müsste und mein Vermieter ein Strohmann der Familie sei. Das man Aufnahmen von mir mit Mädchen der Kroaten hätte...
Während er sich seine blutigen Fäuste wusch und mit Lotion einrieb, machte er mir klar, dass ich ein durch und durch korrupter Cop war. Und das ich für meine Unbotmäßigkeit nun blutete. Das man von mir in Zukunft mehr erwartete und ich weniger bekommen würde. Weil man mich eh schon in der Hand hatte. Und ich in die Hand gebissen hatte.
Ich war auf Bewährung bei der kroatischen Mafia.
Das meine Gunst bei der Familie zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt auf einen Tiefpunkt gerutscht war, merkte ich ein paar Wochen später, als meine eigenen Kollegen mir die Tür meiner Bude eintraten und ich festgenommen wurde. War ich zu unvorsichtig gewesen und hatte bei den falschen, den unbestechlichen Kollegen Misstrauen erregt? Oder war ich nur ein Bauernopfer, eine Abschreibung in einem Verlustgeschäft.
Offenbar hatte es schon seit längerem Ermittlungen gegen Zethos gegeben, er ist ein Sadist und zieht zwangsläufig Aufmerksamkeit auf sich.
Die Staatsanwaltschaft, das Rathaus und die Presse wollen Erfolge im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und ein Syndikat wie die Djorovics bestand deshalb schon so lange weil man immer ein paar entbehrliche Aktivposten zur Hand hatte die man den Jägern zum Fraß vorwerfen konnte. Jemand musste an den Pranger und die Djorovics hatten mich zusammen mit einer Handvoll anderen Kollegen und einigen missliebigen "Geschäftspartnern" geopfert.
Das darauffolgende Jahr verbrachte ich in Stadelheim und es war einmal mehr meinem Charme und meinen bereits geknüpften Beziehungen zu verdanken, dass ich bei der Richterin als auch bei meinen Mitinsassen mit einem blauen Auge davonkam. Ich überlebte mein Jahr im Gefängnis und kam frei. Arbeitslos, wohnungslos, nahezu mittellos. Aber frei.
Nun stehe ich in der Straße meiner Kindheit vor der Werkstatt meines Vaters. Ich hatte mein Ticket ins Licht und habe es versaut. Anderthalb Jahrzehnte weggeworfen, zurück auf Los.
Etwas in mir weiß längst, dass meine Entscheidung schon gefallen ist. Das ich nie und nimmer zehn lange Jahre durchhalte. Das ich früher oder später den leichten, den schnelleren Weg nehmen werde. Die Abkürzung zurück zu den Partys und dem Geld und den Frauen. Für die Djorovics bin ich im Wert gesunken, aber ich habe immer noch mein Wissen und meine Fähigkeiten und meinen Charme. Wäre doch gelacht, wenn sich das nicht irgendwie zu Geld machen ließe.
Vielleicht nicht mehr als Cop und sicher nicht bei irgendeinem schlecht bezahlten Wachdienst. Aber vorbestraft bin ich eh schon, meine Weste ohnehin beschmutzt. Ist der Ruf erst ruiniert... Wenn die lichte Welt mich hierher in die Gosse verbannt, muss ich es vielleicht in den Schatten versuchen.
Na frohe Weihnachten!