Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Susanne Lamprecht
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Erinnerungen der Welt

Stockholm, 10.12.2049

Stockholm im Winter war ein Anblick, der jede Schneekugel arm aussehen ließ. Die Straßen und Gebäude waren von einer dichten Decke aus weißem, dichtem Schnee bedeckt und weitere Flocken wirbelten vom Himmel wie Wattebäusche, um die Decke noch zu verstärken. Für sentimental gestimmte Metamenschen mochte der Anblick wirken, als hätte die Welt selbst für einen Augenblick den Atem angehalten, um die historische Bedeutsamkeit dieses Moments zu würdigen. Der erste Nobelpreis für Magie. Eine Auszeichnung, die der Stifter des Preises wohl niemals erwartet hätte.

Dr. Katharina Belling, eine der führenden deutschen Magierinnen und Teil des Teams aus deutschen und tschechischen Magiern, stand auf der Bühne. Ein Moment, den sie selbst nicht für möglich gehalten hätte. Sie hörte ihren Namen wie durch einen dichten, alle Geräusche dämpfenden Nebel, als die Errungenschaften des Teams zusammengefasst wurden. "… und Doktor Belling eine Methode entwickelt, um vergangene Ereignisse wieder lebendig werden zu lassen. Die Erinnerung der Welt selbst, in magischer Form, wird zugänglich – für all diejenigen, die lernen, sie zu lesen."

Das Publikum applaudierte, aber selbst an diesem Höhepunkt ihrer Karriere beschäftigte sie etwas ganz anderes. Eine Erinnerung, eine Frage aus ihrer Vergangenheit, die sie heute zu verstehen hoffte. Warum?

Zum ersten Mal seit Jahren dachte Katharina an ihre eigene Kindheit zurück. An den alten, knarrenden Dachboden ihres Großvaters und an die langen Winterabende, die sie dort verbrachten. Wenn draußen der Schnee fiel, saßen sie zusammen in einem Sessel und er erzählte ihr von den Liedern der Welt. Von der Magie, die sich in einen Ort einbrannte. "Alles, was geschehen ist hinterlässt seine Spuren", hatte er gesagt. "Manche von ihnen sind so stark, dass sie nie verblassen." Manchmal fragte sie sich, ob ihr Großvater selbst ein Magier gewesen war. Aber in dieser Zeit – vor dreißig Jahren – waren Magier noch nicht wirklich verbreitet. Trotzdem hatte ein Satz ihres Großvaters dafür gesorgt, dass sie immer an diese Erinnerungen der Welt dachte. "Eines Tages wirst du sie hören."

Es war wie ein Versprechen gewesen. Während der Laudator seine Rede beendete, schien sie die Worte ihres Großvaters noch einmal zu hören. Ja, sie hatte den Nobelpreis gewonnen. Es war allerdings nicht ihr Triumph über andere Magier und ihre Teams, der sie beschäftigte. Es war der tröstliche Gedanke, dass ihr Großvater sie damals auf eine Reise geschickt hatte. Und jetzt glaubte sie, das Ziel der Reise zu kennen.

Mit einem Lächeln, das ihre Unruhe kaum verbarg, verließ Katharina das Podium und suchte sich einen Ort, an dem sie etwas Ruhe finden konnte. Sie fand diese Ruhe im alten Bankettsaal. Früher hätte um diese Zeit Leben geherrscht, aber heutzutage fasste der Raum nicht mehr genügend Gäste, und das Dinner wurde in den neuen Bankettsaal der Nobelhalle verlegt. Dieser Raum war nur noch ein Museum, so gestaltet, wie es im Jahr 1900 gewesen war. Leise flüsterte sie die Formel, bewegte die Finger in den komplexen Gesten, die den Zauber zum Leben erwecken würden.

Die Luft schien unter dem Einfluss der Magie dichter zu werden. Wie jedes Mal, wenn sie den Schleier der Zeit zur Seite schob, um hindurchzusehen, sah sie ihren eigenen Großvater. Diesmal saß er in einem unpassenden Schaukelstuhl in der Ecke. Aber auch der Raum war nicht mehr leer. Sie konnte das Murmeln von Stimmen hören. Von einem Kamin ging eine Hitze aus, die tröstlich wirkte, wenn man sie im Kontrast zur dichten Schneedecke draußen erlebte.

Der Großvater aus ihrer Erinnerung – oder war es doch seine Erscheinung in der Ecke? – flüsterte: "Orte bewahren mehr als Erinnerung. Sie bergen die Geschichten der Menschen, die damit verbunden sind. Wenn wir zuhören, können wir sie wahrnehmen."

Katharina machte einen Schritt auf die Ansammlung von Männern zu. Sie konnten sie nicht sehen, nicht hören oder fühlen. Sie existierte in diesem Moment in einem dazwischen. Die Schrift auf einer schwarzen Schiefertafel – die ursprünglichen Kategorien des Nobelpreises, begannen für sie zu verwischen und sich zu verändern. Glitzernd formten sie eine neue Botschaft.

"Erinnerungen sind nicht nur Wissen. Sie sind ein Teil unseres Erbes und müssen bewahrt werden."

War es eine Botschaft ihres Großvaters? Und wenn nicht, wie war sie hierhin gekommen? Es war eine Antwort. Die Antwort, nach der sie gesucht hatte, seit sie mit ihren Forschungen begonnen hatte. Warum? Warum machte sie all das? Jetzt stand es dort. In weißer Kreide auf schwarzem Grund.

Sie sank auf den Boden und beobachtete stumm, wie die Männer ihre Toasts ausbrachten. Auf den König. Auf den Kronprinzen. Sie lauschte dem vierfachen Hurra. Es war das letzte Hurra, das den Zauber beendete und sie in die Gegenwart zurückbrachte. Sie saß immer noch auf dem kalten Steinboden. Draußen fiel noch immer Schnee. Kaum fünf Minuten waren vergangen, obwohl sie das Gefühl hatte, es wären Stunden gewesen.

Der Zauber zehrte von ihren Kräften, aber Katharina konnte sich nicht leisten jetzt Schwäche zu zeigen. Beim Hölzchenziehen darum, wer die Rede halten musste, hatte sie verloren. Sie riss sich zusammen und wischte das Blut von ihrer Nase. Die Tür zum Bankettsaal öffnete sich und Thomasz, einer ihrer Kollegen, streckte den Kopf zur Tür herein. "Hier bist du, Tinka! Komm. Es wird Zeit."

Sie atmete tief ein und aus und streckte ihm die Hand entgegen, damit er ihr aufhelfen konnte. Seine warme Berührung ein Anker im hier und jetzt, während er sie auf die Beine zog und den Staub von ihrem Kleid klopfte.

An seiner Seite kehrte sie in den Festsaal zurück. Gerade rechtzeitig, um für ihre Rede ans Podium zurückzukehren. Ein weiteres, tiefes Durchatmen.

"Die Vergangenheit ist in jedem von uns", begann sie und lächelte. Eine neugefundene Ruhe machte sie selbstbewusster, als sie sich jemals zu träumen gewagt hätte. "Es ist an uns, diese Vergangenheit zu beschützen, bevor sie für immer verschwindet. Unsere Forschung ist ein Weg, diese Vergangenheit lebendig zu halten, damit sie nicht vergeht." Sie war zufrieden.