Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Frank Plenert
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Couchgespräch

13.12.2059 – Penthouse des Atlantic Tower, Boston

Samantha nahm ihr Weinglas und wandte sich Richard zu. Nach mehr als 24 Monaten Krieg war dies der erste Abend, den sie zusammen mit ihrem Ehemann allein verbringen konnte. Und herausfinden, ob die Ehe noch bestand.

Richard Villiers, in seinem lapisblauen Anzug, saß auf der weißen Couch. Selbst in seiner Freizeit trug er das kleine Monokel, sein neues Spielzeug. Er nannte es so wie die Entwicklungsabteilung von Novatech: Artifical Reality Lens, kurz ARL. Mit ihm schaute er sich zum wiederholten Male den Raum an. Das Feuer im offenen Kamin war echt. Es prasselte, strahlte Wärme aus und man roch die brennenden Scheite. So weit war die Technologie noch nicht, die nur in der Lage war allen zuvor programmierten Gegenständen einen virtuellen Zusatz zu geben, sie anzureichern, mit Farben und Informationen. An der Innenseite der Panoramafenster mit Blick auf den Boston Harbor sah er den Wetterbericht eingeblendet. 4 Grad Celsius – bewölkter Himmel. Er blinzelte einmal und die Anzeige verschwand und gab dem Blick ungetrübt frei. Sein Blick ging weiter, zum Weihnachtsbaum, der im Zimmer stand. Die Kugeln aus Smartglas waren für den normalen Betrachter in Blau und Silber gehalten, den Konzernfarben. Mit der ARL sah man den Novatech-Konzernschriftzug unablässig im Orbit der Kugeln kreisen. Die elektrischen Kerzen wurden zu echten Wachskerzen, so realistisch, dass man meinte, sie ausblasen zu können. "Das müsste doch gehen?", dachte Richard bei sich. "Ein Sensor, der den Hauch des Atems erkennt, und die Flamme flackern lässt, bis sie schließlich ausgehen, virtuell wie in echt."

"Richard, wo bist du wieder mit deinen Gedanken?", riss ihn die Stimme seiner Frau aus seinem Traum von der Zukunft. Er musterte sie. Ihre schwarzbraunen Haare zeigten erste Silberfäden, aber ihre grünen Augen waren noch so wach und schelmisch, wie am ersten Tag, als sie sich kennen lernten, vor über 26 Jahren. Sie trug den Seidenkimono, den er ihr geschenkt hatte, auch in Silber und Blau gehalten, aber mit einer japanischen Landschaft bemalt. Kaum fing die ARL das Bild ein begann die Landschaft Tiefe zu entwickeln, die Pflanzen bewegten sich und Vögel stiegen auf, um über der Oberfläche des Seidenstoffs zu fliegen. Er lächelte.

Samantha musterte ihren Mann weiter. Er schaute sie an, musterte sie von oben bis unten und lächelte. Offensichtlich gefiel ihm, was er da sah, und das schmeichelte ihr. Natürlich hätte sie sich, mit 47 Jahren und ihrem aktuellen Vermögen, einen Urlaub in der Schweiz gönnen können, in einer der renommierten Leonisierungskliniken. Aber, wie Richard, lehnte sie dies ab. Wie er wusste sie, dass in einem Konzern mit japanischen Wurzeln, Alter mit Seniorität und Seniorität mit Autorität gleichzusetzen war. Noch immer war das so, auch nach dem sich Novatech von Fuchi gelöst hatte und die alten beiden alten japanischen Männer, Nakatomi und Yamana, in die Bedeutungslosigkeit befördert hatten.

Es war ein spannendes Jahr gewesen. Nach dem bereits 2057 Richard die Fuchi-Anteile aus Dunkelzahn Erbe erhalten hatte, war klar, dass das Gleichgewicht des Konzerns kippen würde. Das Ausmaß des dann folgenden Bürgerkriegs innerhalb des Fuchi-Konzerns hätte aber wohl niemand voraussagen können.

Als Leiterin der Abteilung Systemdesign von Fuchi Seattle hatte sie nur aus der Ferne zusehen können, wie sich der Konzern zerfleischte und zur leichten Beute für die Konkurrenz wurde. Richard war fast nicht mehr zu sprechen, da sein Konzernteil, Fuchs Americas, praktisch zerrissen wurde. Eine Firma des Verbunds nach der nächsten wurde Opfer von Schattenläufen und illegalen Operationen der Konkurrenz. Miles Lanier, der mit seinem unglaublichen Erbabteil in den Renrakuvorstand wechselte, hatte Fuchi mehrfach verraten. Als ehemaliger Sicherheitschef hatte er wohl die Schachstellen für die Angriffe verraten und dann begann Renraku technologisch an Fuchi vorbeizuziehen, mit patentierten Fuchi-Designs!

Mitte des Jahres folgte dann die Anklage gegen Renraku beim Konzerngerichtshof. Sie erinnerte sich noch gut an die 18 Stunden, in denen die Welt knapp vor einen Konzernkrieg stand. Und am Ende musste sich Lanier der Konzernsicherheit von Fuchi stellen und Renraku verlassen. Die Sache hatte Renraku, Fuchi Asia und Fuchi Europa Unsummen an Geld gekostet, Fuchi Americas war von den illegalen Aktionen verwüstet.

Und dann der Anruf am 28.September "Platziere eine Order morgen zur Börseneröffnung. Verkaufe deine gesamten Fuchi-Anteile." Keine Zeit für Erklärungen, nur die kurze Order ihres Mannes. Ihr Instinkt war, gegen jede Vernunft, der Aufforderung gefolgt. Danach gab man ihr die Schuld an Weißen Montag an der Tokioer Börse. Sie hätte den Stein ins Rollen gebracht. Das mag sogar so sein. Und war wahrscheinlich der Plan von Richard gewesen, der, wie bei der Übernahme von Matrix Systems, vermutlich wieder einmal viel weiter und komplexer dachte als alles anderen CEOs zusammen.

In jedem Fall verschwand Fuchi eine Woche später quasi von der Bildfläche der großen Acht. Und Novatech tauchte einfach so auf, mit Richard an der Spitze. Und mit ihm Miles Lanier! Er hatte alle durch feindliche Aktionen ‚vernichteten‘ Firmen mit einer Firma namens Cambridge Holding aufgekauft, die nun bei Novatech plötzlich wieder profitabel eingegliedert wurden. Richard selbst hatte wiederum alle Sahnestücke von Fuchi zusammengekauft, als die Aktie am Boden lag. Und er hatte einen kleinen Laden namens JRJ International gekauft. Die Firma war ein längst verglühter Stern am Konzernhimmel, eigentlich nur noch ein Name - und Rechteinhaberin eines der Richterplätze im Konzerngerichtshof aus Gründerzeiten. Der entsprechende Wechsel von Richterin Lynn Osborne von Fuchi zu Novatech war das Aus für Fuchi. Und Novatech machte seinem Namen alle Ehre – der hellste Stern am Konzernhimmel.

Aber alle Puzzelsteine hatte sie noch nicht zusammen.

"Wie kam es eigentlich dazu, dass Miles all dies tun konnte, den Verrat an Fuchi, und du noch immer mit ihm befreundet bist?", begann sie das Gespräch mit Richard. "Miles war nie ein Verräter, sondern der loyalste Mensch auf der Welt. Er hatte eine Mordsangst, als er plötzlich die Renraku-Anteile bekommen hatte. Und er wusste, dass er nun im Scheinwerferlicht stand und dutzende Waffen auf ihn gerichtet waren. Er ist ein Sicherheitsmensch, kein Konzernvorstand. Er fragte mich, was er tun solle, und so machten wir einen Plan." Samantha lachte. "Entschuldige, aber ausgerechnet du fängst einen weltweiten Konzernkrieg mit hohen Risiko an, nur aus Freundschaft zu einem Mann?" "Das habe ich nicht gesagt. Als mir die Chancen klar wurden, die sich daraus ergaben, hatte ich aber sehr schnell das komplette Bild. Der Plan breitete sich vor mir aus, in ganz klaren Linien. Die Dinge waren so offensichtlich. Wir brauchten nur die Zeit und die Geduld sich das alles entfalten zu lassen." Samantha trank einen Schluck aus ihrem Glas und legte den Kopf schief. "Und wie konntest du das alles wissen und planen? Zum Beispiel, den Absturz von Flug 1118 und damit den Tod von David Hague?" Plötzlich einsetzende Erkenntnis brachte sie dazu scharf einzuatmen. "Sag nicht, dass du und Miles…!"
Richard setzte sich etwas bequemer in die Kissen und nahm seinerseits sein Glas mit Rotwein in die Hand. Beim Trinken blicke er über den Rand des Glases, nun nicht mehr von künstlichen Effekten abgelenkt, und musterte seine Frau. Wollte sie ihn ausforschen? Was für einen Plan verfolgte sie? Aber Richard zählte sie zum Kreis der Vertrauten.

"Schon im Jahr 2057 übergab mir Miles seine komplette Datenbank mit Kontakten in die Schattenszene. Ich rekrutierte mehre Eliteteams, die wir einsetzen konnten. Absolute Profis, denen man jeden Job anvertrauen konnte. Und wir hatten noch jede Menge Ersatzspieler auf der Bank sitzen, denen wir die heiklen Jobs anvertrauten, bei denen mit Verlusten zu rechnen war. Diese Runner haben überall dort eingegriffen, wo man dem Schicksal einen Schubs geben musste. Kein Entwicklungslabor ist ausgebrannt bevor nicht die Prototypen draußen waren. Kein Host ist gecrashet, bevor die Daten nicht gesichert waren. Kostspielig, aber sehr verlässlich." "Aber das sind Terroristen!" erwiderte Samantha. Ihr Mann schüttelte den Kopf "Ach wirklich? Es sind Spezialisten. Du erinnerst dich doch sicher an Michelle? Der Concierge, der oft auf den Fuchi-Veranstaltungen in Seattle war. Ihr seid doch befreundet, oder? Er ist einer der besten." Es war Richard eine Freunde Samantha völlig überrumpelt zu sehen. "Michelle? Aber… Ich habe ihn immer der Konzernsicherheit zugerechnet. Jemand der eingesetzt war auf Fuchileute und die Gäste achtzugeben.", stotterte sie. Richard streckte sich "Das eine schließt das andere in solchen Zeiten nicht aus, meine Liebe. Michelle hat für den Konzern, mich und gegen Fuchi gearbeitet. Er hat Informationen gesammelt, von ALLEN anwesenden Personen." Samantha begann zu verstehen. "Er war also nicht für mich, sondern wegen mir da? Ich habe ihm die Informationen gegeben, die er dann für Schattenläufe gegen Fuchi Seattle eingesetzt hat? Wir haben uns immer gefragt, woher die Terroristen so präzise Informationen hatten!" Samantha war aufgebracht. Richard nahm ihre Hand "Alles Teil des Plans, ich hatte immer ein Auge auf dich. Mach dir keine Sorgen. Die Sache ist jetzt vorbei. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und sah, dass Samantha ihn weiter fragend anschaute. "Und Flug 1118?", fragte sie nach. Richard seufzte. Also gut. "Flug 1118 war der absolute Coup. Diese Flugzeuge sind gut gesichert. Aber ja, auch so was haben Shadowrunner gemacht."

Samantha schüttelte den Kopf. "Ich will jetzt nicht moralisieren wegen der paar hundert Menschen, die da umgekommen sind, aber schafft das nicht den Präzedenzfall, die Blaupause für die Ursünde? Welche Grenzen sind wir noch bereit in Zukunft wegzuwischen? Du wärst wohl auch bereit die gesamte Matrix zum Absturz zu bringen, wenn es dir etwas nützen würde, oder?" Samantha schien in Wut zu geraten. Richard stellte sein Glas ab und nahm, zum ersten Mal seit Monaten, seine Frau in den Arm. "Ich richte mich nicht gegen die Welt, gegen meine Familie, gegen das Wohlergehen der Menschheit." Schmerzlich dachte er an Cara, seine Tochter, die sich wieder auf Abwegen befand. Und Anton, der dieses Jahr auch nicht zum Weihnachtsfest erscheinen würde. "Alte Männer, wie Nakatomi und Yamana, würden die Welt am liebsten mit aller Macht zurück in ein verchromtes Mittelalter führen. Wir sind die Zukunft. Wir sind Nova."

In Boston begann es zu regnen. Den restlichen Abend verbrachten die Beiden mit Belanglosigkeiten, bereiteten Weihnachtsgrüße vor. Es war alles gesagt. Der Weihnachtsbaum verbreitete weiter ein Vorweihnachtsgefühl und versprach Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Statt künstlichen Schnee hatte jemand eine Art weißes Fell unter dem Baum drapiert. Sah aber trotzdem passend aus, in der sonst sterilen Wohnung.

Samantha schrieb an ihre Tochter Cara, in der Klinik. Sie formulierte einen Brief an Anton, den sie aus Mangel an Kenntnis an keine Adresse schicken konnte. Und dann suchte sie in ihrem Telefon nach einer bestimmten Kontaktnummer. "Lieber Michelle. Ich bin heute erst dazu gekommen, einige deiner wundervollen Geschenke zu öffnen, die du mir im letzten Jahr gemacht hast. Ich möchte mich dafür ganz herzlich bedanken. Ich denke nicht, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden, aber ich wünsche dir ein Weihnachtsfest mit tausenden goldenen Lichtern, die alle Schatten in deinem Leben vertreiben mögen." Sie machte ein Bild, vom Baum, und dem weißen Fell, und sendete es mit der Nachricht. Dann löschte sie den Kontakt.