Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Nach dem Crash – Konzernnachrichten

Der blaue Nadelstreifenanzug des Norms war dezent genug, um den dunkelblonden Henrik Hohlkamp elegant aber immer noch seriös wirken zu lassen. Kameras schwirrten von allen Seiten um ihn herum, fingen sein sanftes Lächeln ein und strahlten es als Trid oder in 2D in die deutschen Länder heraus. Auf einem Projektor außerhalb der Aufzeichnungsfläche konnte er die Live-Übertragung von sich selbst sehen. Gerade schwebte noch das WDR Logo in die Projektion und eine junge Frauenstimme aus dem Off informierte die Zuschauer, dass es der erste Dezember 2065 sei und sie die Abendnachrichten "RRP der Tag" sehen. Dann begann Henrik mit routinierter Höflichkeit die Nachrichten zu verlesen:

"Guten Abend meine Damen und Herren,

ein Expertengremium der Zürich-Orbital-Gemeinschaftsbank hat heute seinen ersten Bericht über die Wirtschaftsentwicklung seit dem zweiten Matrixcrash am zweiten November des letzten Jahres vorgestellt. Das Fazit des Berichts sieht eine überaus positive Entwicklung. Weltweit laufe der Aufbau der neuen, überwiegend Kabellosen Matrixinfrastruktur auf Hochtouren und schreite schneller voran als erwartet. Durch die neuen Anwendungsmöglichkeiten der von NeoNET initiierten, drahtlosen Vernetzung entsteht eine hohe Nachfrage an angepassten Geräten und Dienstleistungen. Fabriken auf der ganzen Welt melden volle Auftragsbücher für die kommenden Jahre.

Das Gremium setzt sich aus nicht nur aus Mitarbeitern der Zürich-Orbital-Gemeinschaftsbank selbst zusammen, sondern wurde um renommierte Experten der Finanz- und Wirtschaftswissenschaften erweitern. Hierunter auch mehrere Fachleute der deutschen Commerzbank. Die Expertenrunde betonte in ihrer Pressekonferenz die besondere Bedeutung der Megakonzerne mit Tripple-A Status, ohne deren stabilisierende Größe und umfangreiche Möglichkeiten keine so rasante Erholung der weltweiten Wirtschaft möglich gewesen wäre.

Der Bericht geht auch auf die ADL und auf die Vorreiterrolle von Aetherlink bei uns ein. Die hervorragenden Sicherheitsroutinen des Matrixdienstleistern konnten viele Allianzländer und vor allem das wirtschaftliche Herz der ADL, den Rhein-Ruhr-Megaplex, vor schwerwiegenden Folgen bewahren. Im gesamten Megaplex entstehen aktuell neue Produktionsstandorte und gut bezahlte Arbeitsplätze. Deutlich schwerer haben es hingegen strukturschwache Allianzländer wie Hamburg, Sachsen oder Berlin. Hier konnte keine Notabschaltung vollzogen werden und die Menschen leiden noch immer unter den wirtschaftlichen Folgen. Dies kann man auch an den dort steigenden Arbeitslosenzahlen und der daraus resultierenden innerdeutschen Migrationsbewegung erkennen.

Problematisch an der unkontrollierten Migration zwischen den Allianzländern ist die hohe Anzahl nicht registrierter Personen. Viele haben durch den Crash ihre reguläre SIN verloren. Ohne SIN ist die Ausübung eines legalen Beschäftigungsverhältnisses oder der Bezug von Hilfsleistungen nicht möglich. So können es sich die meisten nicht leisten, weiterhin auf die Ausstellung einer neuen SIN zu warten. Die staatlichen Behörden, der voll vom Matrixcrash getroffenen Allianzländer, kämpfen neben der noch immer nicht wieder aufgebauten digitalen Infrastruktur ebenso mit Personalmangel. Daher können sie die Flut an SIN Neu beziehungsweise Re-Registrierungen nicht bewältigen. Die aktuelle Wartezeit auf eine neue SIN in Brandenburg betrifft rund zehn Monate. Die Regierung von Allianz und Ländern schieben die Schuld hieran jeweils auf die anderes Stelle.

Seien Sie also froh, wenn Sie in einem Allianz Land mit Aetherlink-Infrasturktur leben, Sie haben vermutlich noch eine SIN, einen gut bezahlten Job und goldene Zukunftsaussichten."

Es folgte ein Einspieler, der ein neues Saeder-Krupp Werksgelände im RRP vorstellte. Henrik’s Gedanken schweifen derweil ab. Ihm war bewusst, dass der Einspieler genauso wie der Rest des Beitrags vom Konzern des Drachen gesponsert wurde. Es war ihm aber immer noch lieber als das ständige rumgejammer, wie schlimm der Crash 64 doch gewesen sein soll. Klar, der kurze Stromausfall, bis das Notstromaggregat ihrer Wohnanlage angesprungen war, hatte ihm schon einen Schreck eingejagt. Die Tage ohne Matrix waren auch schon extrem langweilig gewesen, aber sonst? Das schlimmste war, dass einige Folgen von Henriks Lieblingsserie aus Übersee wohl durch den Crash verloren waren. Das neudrehen hatte Monate gedauert, was wahrscheinlich den längsten Cliffhänger in der Geschichte des Trids verursacht hatte.

Natürlich hätte Henrik auch von Toten gehört. Eine ehemalige Studienkollegin hatte sich von der DeMeKo nach Hamburg locken lassen. Ihr Mann wurde wohl während des Crashs in der Matrix durch tödliches Biofeedback getroffen. Aber das kommt ja irgendwie davon, wenn man das lokale Gitter von einem zweitklassigen Medienkonzern betreiben lässt. Solche Einzelfälle bedeuten aber nicht, dass es zu tausenden Toten weltweit kam, wie manche Verschwörungstheoretiker meinten. Man musste schon genau aufpassen, wem man glauben, Henrik als guter Journalist war sich dessen bewusst.

Ein rotes Licht zeigte dem Nachrichtensprecher an, dass es gleich weiterging. Er setzte wieder sein charmantes, aber nichtssagendes Lächeln auf. Weitere seriöse, nur noch teilweise gesponserte Nachrichten folgten, Lokalpolitik, Promiklatsch und das Wetter. Dann leitete er über zur Folgesendung, in der die neusten Spielzeuge für das kommende Weihnachtsfest von den lieben Kleinen selbst vorgestellt wurden. Wie schön der Advent doch ist. Ein Jahr nach dem Crash 64 war dieser fast schon vergessen.