Eine Kurzgeschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024
Nach dem Crash – F-Berliner Wirklichkeiten
"Dreckspropaganda", rief Max der schlaksige Punk und warf seine leere Soybierflasche auf den Bildschirm, der gerade das Antlitz von Henrik Hohlkamp zeigte. Der spontan wie unüberlegten Versuch, die Nachrichtenübertragung so zu beenden, scheiterte gleich auf mehreren Ebenen. Zum einen war der Bildschirm, hier in dieser Ostberliner Kaschemme, vergittert. Viel zu oft versuchten irgendwelche idiotischen Punks ihre fehlende Zustimmung zum aktuellen Programm radikaldirekt mit Flaschenwürfen zu äußerten. Zum anderen war dieser idiotische Punk bei weiten nicht treffsicher genug. Die Flasche prallte ein halben Meter neben dem Bildschirm an der Wand ab und verschwand in einer dunklen Ecke. Deutlich zielsicherer traf der stämmige Ork hinter dem Tresen mit dem Bierdeckel, den er auf den Punk warf und ihn scharf in dickstem Berliner Dialekt zur Ordnung rief: "Noch so‘n Ding Keule und die nächste Flasche, die fliegt, bist du, kapiert?". Max hob die Hände um seine Friedfertigkeit zu demonstrieren. Natürlich hätte er als stolzer Magiestudent an der Freien Universität Optionen die Sache weiter eskalieren zu lassen, aber wer in diesem Berlin Überleben wollte, konnte nicht jede Gelegenheit nutzen sich Feinde zu machen.
Stattdessen entschied er sich seinen Standpunkt dem Wirt und den Rest der Bar deutlich zu machen. Ermutigt vom Genuss von zu viel Soybier und Jabifu stieg er auf den Barhocker. Mit einer für seinen unterernährten Körper erstaunlich lauten Stimme übertönte er Henrik Hohlkampf in seinem flammenden Kampfaufruf: "Das ist doch alles kapital-imperialistische Propaganda! Die Wahrheit ist: Der Crash war von den Eliten inszenierter Angriff auf die globale neoanarchistische Bewegung! Die Hochburgen der Freiheit und alternativen Wirtschaftssysteme sollen ausgeblutet werden. Erst treten sie dich zu Boden und dann bieten sie dir an, dir wieder aufzuhelfen. Der Preis sei einfach nur eine SIN-Registratur, nichts anderes als ein Halsband mit dem sie euch unterwerfen und kontrollieren wollen. Sie versprechen die Illusion von Wohlstand und Sicherheit doch der Preis dafür ist ewige Knechtschaft. Aber sie kennen unseren Kampfgeist nicht! Lieber frei in secound Hand als ein Sklave in schicken Hemd! Erhebt euch zum Sturm gegen das Großkapital! Hebt die Fackeln zum Zug der Millionen auf nach Tempelhof und brennt den Hort des Drachen nieder! F-Berlin ist eine Philosophie und nicht nur Heimat! Hoch lebe das letzte Gesetz! Nieder mit…".
Weiter kam Max nicht, der stämmige Wirt hatte ihn mit beiden Händen am Kragen gepackt und hob ihn beinah mühelos vom Hocker. Der dünne Punk strampelte mit den Beinen, schaffte es vor Schreck aber nicht zu protestieren. Der Ork jedoch erhob nun das Wort: "Nimm‘s mir nich‘ übel Junge, keiner kann die Kon’s leiden. Aber ick hab den einzigen Laden in drei Kiezen mit Strom und ‘ner Funktieren Matrixverbindung.". Max wurde von dem stämmigen Norm vor die Tür platziert. Unsanft auf dem Hosenboden gelandet demonstrierte er noch: "Die Matrix ist das Opium fürs Volk! Sprengt die Ketten der Sklaverei! Auf zur Revolution!". Der Wirt schürzte nur die Lippen: "Mach ma‘ halblang Flitzpiepe. Revolution hab ick, wenn die Leute nich‘ gleich nach dem Nachrichtenonkel ihr‘n Karl Kombatmage sehen könn‘ weil du zu viel laberst." Dann zog er die Tür von innen zu. Diskussion beendet. Max blieb nichts anderes übrig als leicht schwankend durch das kalte F-Berlin zu streunen. Wo man Generatoren brummen hörte, sah man auch etwas Licht, vereinzelt sogar Weihnachtsbeleuchtung. Insgesamt aber waren die Straßen für einen Megaplex erstaunlich düster. Immerhin war Soybeir und Jabifu billiger als eine vernünftige Mahlzeit. Betrunken ist auch der Hunger gar nicht so schlimm. Diese Dreckskonzerne versuchten alles, um die Versorgungslage zu Stören und F-Berlin ausbluten zu lassen. Ein Jahr nach dem Crash war immer noch alles ziemlich beschissen.