Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Julius Murphy-Mechtel
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Nach dem Crash – Grenzüberschreitende Barmherzigkeit

"Hast du die Nachrichten gesehen?", fragte die jugendliche Jennifer Borgenmeier ihren Vater, während sie ihm den verlangten Schraubenschlüssel reichte. Der Mann, der gerade unter dem Van lag und versuchte einen nicht wirklich legalen Transportbehälter zu montieren, nahm das Werkzeug entgegen und verneinte die Frage beiläufig. "Sie haben gesagt, dass es in der ADL wieder aufwärts geht, zumindest teilweise, aber in Sachsen und so wohl nicht so.", erläuterte die Teenagerin ungefragt und ihr Vater antwortete erneut eher beiläufig; "Mag sein Liebes". "Sie haben gesagt, dass es in Sachsen wohl noch immer viele ohne SIN gibt, die keine Arbeit und keine Sozialhilfe bekommen.", fuhr Jennifer fort, doch wieder zeigte sich ihr Vater weitestgehend desinteressiert, was die junge, blonde Frau jedoch nicht davon abhielt mit ihren Ausführungen weiterzumachen: "Ich meine diese Leute sind ziemlich verzweifelt, wahrscheinlich wollen sie deswegen alle her?". "Kann schon sein Liebes.", Herr Borgenmeier klang nicht sonderlich erpicht darauf, dieses Gespräch zu vertiefen, seine Tochter hingegen sehr und fuhr so unbeirrt fort: "Du fährst wieder rüber, in die ADL – oder?".

Borgenmeier Senior seufzte resignierend. Leider hatte er keines dieser eleganten Liegebretter mit Rollen dran, so dass er eben sehr unelegant unter dem Van hervorkroch, sich aufsetzte und zu seiner Tochter hochblickte: "Worauf willst du hinaus?". "Das wir ihnen helfen könnten. Ich habe in der Matrix gelesen, viele wollen nach Marienbad. Wir könnten ihnen helfen über die Grenze zu kommen, auch ohne SIN. Du kennst die Wege an den offiziellen Übergängen vorbei und kannst ihnen helfen.", platzte es aus der jungen Frau enthusiastisch heraus. Ihr alter Herr rappelte sich an der Seite des Vans hoch. Er vermied den Blickkontakt zu seiner Tochter. Stattdessen sortierte er das Werkzeug wieder ein, während er ihren Vorschlag pragmatisch und kühl abschmetterte: "Die meisten von ihnen haben völlig falsche Vorstellungen von Marienbad. Wilde Märchen von magischen Erzen in der Erde und wohlwollenden Drachen am Himmel. Aber schau uns an, deine Mutter und ich arbeiten sehr hart und wir schaffen es gerade so, uns ein wenig Wohlstand zu erhalten. Außerdem könnten sich diese Flüchtlinge eine Überführung gar nicht leisten.". Jennifer kannte ihren Vater besser als diesem lieb war. Sie positionierte sich wieder so, dass sie direkt vor ihm stand. Es war ihm so kaum mehr möglich sie nicht anzublicken. Erst dann antwortete sie: "Du und Mama haben immer gesagt, es geht nicht immer nur ums Geld. Zuallererst kommt die Liebe, die Liebe zu Gott, zu sich selbst, zur Familie und auch für unsere Mitmenschen. Nächstenliebe macht uns zu besseren Christen. Ich helfe dir auch, ich kümmere mich um die Kontaktaufnahme und um eine Notunterkunft hier, wenn wir zurück sind. Und das bisschen mehr, was wir an Energie und Treibstoff brauchen arbeite ich ab – versprochen! Es wird kaum ein Mehraufwand für uns sein und stell dir vor, du schenkst so vielleicht einer ganzen Familie eine Zukunft! Und natürlich ist nicht alles wahr, was sie sich vielleicht erträumen, aber hie haben sie zumindest die Möglichkeit sich etwas Neues aufzubauen. Hier haben sie Hoffnung. Du kannst ihnen Hoffnung schenken – und was kann denn mehr Nächstenliebe sein als Hoffnung zu Weihnachten zu schenken?".

Borgenmeier Senior seufzte resignierend- abermals. Er war sich bewusst, dass seine Tochter nicht lockerlassen würde, sie war noch starsinniger als ihre Mutter. "Du wirst dich nicht von dieser Idee abbringen lassen, oder?", der alte Mann sah schon fast wehleidig zu der Sechzehnjährigen, die mit einem breiten Lächeln antwortete: "Ich habe mit Freundinnen aus der Schule schon angefangen warme Kleidung, Spielzeug und Essen zu sammeln. So viele sind bereit zu helfen.". "Du musst mit helfen eine andere Sitzbank einzubauen, falls wir doch kontrolliert werden können sie sich dahinter verstecken.", war die einzige Erwiderung des Schmugglers. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass er Flüchtlinge schmuggelte. Der Matrixcrash hat nicht nur viele Existenzen zerstört, er hat auch andere Optionen geschaffen. Reihenweise Hardware zur Grenzsicherung wurde unbrauchbar. Haufenweise Kartenmaterial ging verloren, so dass einige Wege über die Grenze völlig vergessen wurden. Borgenmeier Senior würde es vielleicht einfacher haben als er zugeben wollte. Ein Jahr nach dem Crash 64 war dieser vielleicht eine Möglichkeit, einer Familie zu Weihnachten Hoffnung auf ein neues Leben zu schenken.