Eine Kurzgeschichte von Andreas AAS Schroth
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Rudolf

Hamburg, (Tag des Releases der Story) 2032

Die ersten Elfen und Zwerge wurden zu Beginn des Erwachens von normalen Eltern geboren und hatten es enorm schwer, weil sie als Freaks und Mutanten galten. Frag sie nur, und sie werden stundenlang darauf herumREITEN (ha ha). Wenig später verwandelten sich normale Leute unter enormen Schmerzen in Orks und Trolle, und auch die können quasi nicht aufhören, darüber zu jammern, wie furchtbar schwer sie es als erste Generation ihres heute ziemlich normalen Metatyps hatten. Yadda-yadda-yadda.

Meine Mama war ein Pferd. Aber nicht in der Weite einer von Menschen entfernten Prärie in Nordamerika, dem Hochland Griechenlands oder den Weiten von Kasachstan, wo sehr schnell nach dem Erwachen Herden von Zentauren entstanden – pferdegesichtigen Größeren, wenn man Glück hatte, oder menschengesichtigen Geringeren, wenn man Pech hatte – worüber die jeweils Betroffenen gerne ebenso ohne Ende jammern – sondern mitten in der Zivilisation.

Merke: Die erwachten Gene sind dumm und nehmen keine Rücksicht darauf, wo sich die Herde befindet – oder ob es eine solche überhaupt gibt.

Meine Mama war eine Zuchtstute. Meinen Papa – ein dekorierter Deckhengst natürlich – habe ich nie kennengelernt, und das hätte auch wenig gebracht: Mama und Papa waren Tiere, waren Investitionen, waren Assets, und ich bezweifele stark, dass meine Geschwister draußen in Prärie oder Steppe von ihrem engeren Kontakt zu Mama oder Papa Pferd irgendeinen Vorteil hatten.

Ich meine, COME ON: Du wächst als Zentaurenfohlen auf, schlaksig, wacklig, nichts ahnend, du hast im Gegensatz zu den Viechern menschliche Intelligenz und schnell eskalierende Bedürfnisse, aber deine Eltern – oder, minus Zuchthengstpapa – "Mutti" kann kein Wort mit dir wechseln, kann dir NICHTS beibringen über diese seltsame, fremde, in keinster Weise auf dich eingestellte Sechste Welt, einfach weil sie halt nur ne blöde Stute ist.

Die gute News, in meinem Fall: Weil du ja jemandem "gehörst", der einiges an Geld in deine Eltern bzw. das Zuchtprogramm investiert hat, findet der dich – den Freak, das Sensationelle, den ZENTAUREN – unglaublich faszinierend, und er kann sich kaum den Sabber abwischen im Angesicht dessen, was er mit dir womöglich verdienen kann, es sei denn – ES SEI DENN – dass dir von irgendeinem Idioten Menschenrechte zugesprochen werden und du – Igitt! – dein eigener Herr werden könntest.

Und so war es halt. Geworfen 2015, geschlechtsreif 2017 – denn wir Zentauren altern im Allgemeinen genau wie Pferde (ooh, ihr Orks, jammert doch einfach noch etwas mehr, Pferde werden selten älter als 30, also werd ich wohl kaum älter als drekking 2045) – und entsprechend dem Zuchtprogramm für Pferde wurde ich mit drei Jahren diversen Stuten zugeführt, um "mehr seltene, ergo hochpreisige" Freaks wie mich zu produzieren. Nie in meinem Leben habe ich mich schlimmer gefühlt, und nie mehr als Herr meines eigenen Schicksals, als ich mich losriss, meinem verhassten "Trainer" das Gesicht eintrat und irgendwie – Gott weiß, wie – die Absperrungen übersprang, die Taser abschüttelte und in eine Freiheit davongaloppierte, von der ich nichtmal ein konzeptionelles Grundverständnis hatte.

Inzwischen – wir schreiben 2032 – gelten Zentauren wie ich zumindest in einigen Jurisdiktionen als sapiente Wesen mit – in Ermangelung besserer Begriffe – "Menschenrechten". Die NAN sind dabei, dito Griechenland, Tschechien, Amazonien, Jakutien, die Mongolei, und – für mich besonders relevant – Yamatetsu, die wenigstens hier in Berlin eine gar nicht mal so unerhebliche Präsenz haben. Wirklich helfen können auch die mir natürlich nicht, denn die Stadt geht zunehmend zur Hölle – andererseits ist die Gültigkeit von Gesetzen hier zunehmend "theoretisch" und die Stadt befindet sich im freien Fall, was Regeln jedweder Art angeht. Nicht umsonst ist Berlin ein Sammelbecken für Freaks und Rechtlose, die dem Terror der umgebenden Bundesrepublik Deutschland (wer weiß, wie lange sich dieses gescheiterte Konstrukt noch am Leben halten kann) entgehen wollen.

Wie ist also mein Leben hier?

Nun, die meisten Berliner betrachten mich als "Mensch", denn ich kann reden, Bier trinken und komplexe Gedanken darstellen – was die BRD oder sonstwer dazu sagt, ist den meisten ziemlich latte. Mein Geld verdiene ich die größte Zeit des Jahres als Reitlehrer für reiche Gören, da ich – nolens, volens – besseres Feedback zu verpatzten Reithilfen als jedes Pferd geben kann (wobei natürlich die meisten Reitlehrlinge weiterhin auf Pferden lernen – wer will schon seine Prinzessin einem Freak anvertrauen, egal, wieviel effizienter seine Lektionen sind?)

In Teilen verstehe ich das sogar: Es ist die eine Sache, ein Pferd zu striegeln, Hufe auszukratzen etc. – oder das bei "jemandem" zu tun, der ein Bewusstsein hat.

Jetzt, in der Vorweihnachtszeit – wo die Gören keinen Bock haben, sich der Kälte und irgendeiner Art von – oh, Gott – ANSTRENGUNG auszusetzen, habe ich Zusatz-Gigs als Rentier. Ja, mit aufgesetztem Geweih und rot leuchtender Nase. Vermutlich ist es weit zu früh, bis solche wie ich Eingang in das "ganz normale" Leben der Sechsten Welt finden, aber gestern zum Beispiel stand ich auf dem traditionellen Weihnachtsmarkt der Spandauer Altstadt, blinkende Weihnachtsmütze auf dem Kopf, vier Bänder mit Glöckchen um Brust und Körper, und egal, welcher Scheiß in meinem Umfeld verdealt wurde, ich war der absolute Star!

Klar ist die Konkurrenz durch andere "Fantasiewesen" wie "Weihnachtselfen" (Gnome und Pixies) wachsend, aber etwas Großes, Massives wie ich scheint auf die Weihnachtsmarktbesucher dennoch eine ganz eigene Anziehungskraft zu haben.

Meine Wünsche für die Zukunft? Achjeh. Ich fühle mein Alter mit jedem Tag. Im Extremfall hab ich noch 10 Jahre, aber ich hab nicht gerade eine gesunde Lebensführung, und dass ich in jener Zeit noch eine nette Zentaurin treffe und eine Familie gründen kann ist so grotesk unwahrscheinlich, dass ich das lange abgehakt habe. Klar: Ich könnte auch irgendeine Stute bespringen und hätte eine relativ gute Chance, dass daraus ein Zentaurenfohlen hervorgeht ... aber mal ehrlich: Selbst ihr als Norm-Leser könnt euch vorstellen, wie krank das wäre.

Im Grunde, betrachtet man es genau, sind viele Konzepte betreffs Metavarianten und -sapienten wie Bratwürste: Am Besten, man denkt nicht zu genau darüber nach, was die bekannten Fakten eigentlich in der praktischen Anwendung bedeuten.

Sorry für die Alpträume.