Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Jan Krüsmann
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Ein Hundeleben

München, Dezember 2061

Ein lautes Rauschen gefolgt von einem dumpfen Aufprall schreckten den Jugendlichen auf. Mit seinen schwarzweißen Hundeohren lauschte er in das Dämmerlicht, welches ihn umgab, aber außer dem Schnee, der vom Dach gerutscht war, blieb es ruhig. Er zog die Decke enger um sich. Nun war er wach und an Schlaf erstmal nicht mehr zu denken.

Die letzten Monate hatten alles verändert. Schon seit er sich erinnern konnte hatte er in und um den Olympiapark in München gelebt. Bis er Anfang September krank geworden war. Fieber, Schüttelfrost und Schmerzen am ganzen Körper hatten ihn heimgesucht. Dazu kamen Juckreiz und Kopfschmerzen, die er sich vorher in der Intensität nicht einmal ausmalen konnte.

Selbst ohne ein eigenes Kommlink zu haben erreichten ihn die Nachrichten und Bilder von Mutanten, von den Wechselbälgern die plötzlich auf der ganzen Welt auftauchten. Und was er anfangs für eine verfrühte Grippe gehalten hatte, erwies sich schnell als Symptom einer eben solchen Transformation.

Bis zu diesem Zeitpunkt lebte er mit anderen Jugendlichen in einem einsturzgefährdeten Haus ohne Strom und fließend Wasser zusammen, viele von ihnen waren Metas, aber alle zu jung um die Nacht des Zorns die auf die Goblinisierung der Orks und Trolle folgte miterlebt zu haben. Noch mitten in der Transformation erfuhr er nun eine Prise von dem Hass, der schon damals gewütet hatte. Bisherige Freunde wandten sich gegen ihn, auf der Straße wurde er bedroht und sein Ersuchen um Hilfe abgewiesen. Wie sollte er mit dreizehn auch verstehen, was mit ihm passierte, wenn es nicht einmal die Erwachsenen wussten?

Nach ein paar Tagen stand Tante Moni vor ihm. "Wir müssen weg. Sofort." Normalerweise begrüßte sie ihn mit einem freundlichen Servus! doch davon fehlte jede Spur. Obwohl sie es überspielen wollte, konnte er ihr ansehen, dass sie verängstigt und besorgt war. "Die Welt dreht völlig durch. Ich habe das schonmal miterlebt… Wenn Sie keinen Schuldigen finden, dann erklären Sie den nächstbesten dazu der sich nicht wehren kann. Und ich wette darauf, dass auch der ein oder andere Zugereiste hier sich auf dich stürzt, um nicht selbst der Verfolgte zu sein… Schwachsinnig, wenn du mich fragst. Aber ich bringe dich woanders unter."

Woanders war in diesem Fall der zugige Dachboden eines baufälligen Gebäudes in Neuperlach. Diese hastige Flucht rettete ihm mehrfach das Leben. Hier entging er der Verfolgung durch Neoskins die nach einem Anschlag auf das Amt für Metamenschenangelegenheiten mordend durch die Stadt zogen ebenso wie dem VITAS-1 Anschlag, der sich vom Olympiapark aus in der Stadt ausbreitete.

Völlig verängstigt und meistens allein fristete er hier den Rest seiner Transformation. Wenigstens kam Tante Moni oft und versorgte ihn mit dem Nötigsten wie Medikamenten und Essen. Etwa drei Wochen versteckte er sich hier, dann waren auch die letzten Symptome abgeklungen. Zurück blieben eine Menge Veränderungen. Seine Ohren befanden sich nun auf dem Kopf und sahen aus wie die eines Malamut, passend dazu musste er Löcher in seine Hosen schneiden damit der Hundeschwanz hindurch passte und wenn er sich auf die Zunge biss, hinterließen seine Fangzähne sofort blutige Wunden. Über die Zahnschmerzen hinweg hatte er gar nicht mitbekommen, wann der Juckreiz nachgelassen hatte. Was er jedoch schnell bemerkte, war das fluoreszierende Leuchten seiner Haut und seine verbesserte Sicht im Dämmerlicht. Wenigstens das machte das Leben hier auf dem Dachboden erträglicher. Kalt war ihm auch gar nicht so sehr, als die Temperaturen sanken und der erste Schnee fiel.

Schritte in der Etage unter ihm ließen ihn aufhorchen. Er kauerte sich auf den Boden, ein Messer in der Hand und bereit, jeden Eindringling anzugreifen und die steile Leiter hinabzustoßen. Doch schon, als die Dachbodenluke geöffnet wurde, erschallte ein gut gelauntes "Servus!" und Tante Moni steckte ihren Kopf herein. Ihre Taschenlampe blendete ihn kurz, dann erkannte er sie aber auch visuell. Er legte das Messer hin und begrüßte sie herzlich. Oft kam sie her und erzählte ihm Neuigkeiten oder zeigte ihm auf dem Kommlink aktuelle schreckliche Newsfeeds, doch jetzt wirkte sie anders.

"Komm mit runter", forderte sie ihn ruhig auf. Er spürte, dass sie sich freute und ihre Stimmung sehr gut war. "Die letzte Zeit war ruhiger in der Stadt und ich will dir ein paar Leute vorstellen. Immerhin wohnst du seit drei Monaten auf ihrem Dachboden… und der Advent ist doch ein guter Anlass dazu."

Zögerlich folgte der Jugendliche Tante Moni die Leiter und dann die Treppen hinab. Drei Monate war er nicht hier herunter gegangen, um sein Versteck nicht zu verraten. Jetzt das lange leerstehende Gebäude zu verlassen, fühlte sich seltsam an, aber er hatte diesen Moment jeden der vergangenen 107 Tage herbeigesehnt. Unwillkürlich wedelte er mit dem Hundeschwanz, seine Aufregung und Vorfreude konnte er nicht verstecken.