Shadowrun

Eine Kurzgeschichte von Franziska Jessen
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024

Schrottwichteln

Seattle, der 24.12.2080

Das Ferienhaus von Morlins Eltern lag weit abgeschieden in der Natur. So hatte es sich ihre Mutter gewünscht: einen ruhigen Ort nur für sich, ihre Tochter und die gemeinsame Magie, um ihre Verbundenheit zur großen Mutter zu stärken. Morlin fühlte, wovon ihre Mutter gesprochen hatte. Auch sie spürte die rohe Energie dieses Ortes draußen vor Seattle. Dieses Jahr hatten ihre Eltern jedoch nicht hinausfahren wollen. Die Gründe lagen laut ihrem Vater auf der Hand: Die Zukunft der Stadt sei ungewiss und das schüre Unsicherheit. Alles passiere zu schnell und viele verstünden es nicht.

Seattle erholte sich immer noch von den Nachwehen des Blackouts, der die halbe Sechste Welt ins Chaos gestürzt hatte. Als Hexe hatte Morlin die Nächte ohne Strom und den stummen Kommlink fast genossen.
Immerhin hatte der Blackout dafür gesorgt, dass ihre Eltern die Weihnachtstage in ihrem Apartment in der Stadt und nicht dem Ferienhaus in der Wildnis verbringen wollten.

Morlin hatte diese Entscheidung in die Karten gespielt.

"Wir verpissen uns aus diesem Scheißloch. Weihnachtspause gönnen. Flüge von Frankfurt nach Seattle sind gebucht", hatte ihre Nachricht an die anderen gelautet und nun waren sie hier – natürlich ohne, dass Morlins Eltern etwas davon wussten.


Weiße Flocken legten sich wie eine unschuldige Decke über die Hügel von Seattle. Hier, wo eh kein Strom gebraucht wurde, hatte die Dunkelheit des Blackouts keine Chance gehabt. Im Kamin knisterte ein gemütliches Feuer und wärmte Morlins verfrorene Wangen. Vor einer halben Stunden hatten sie noch eine erbitterte Schlacht gekämpft. Sich gegenseitig mit Schneebällen abzuwerfen, war besser – vor allem weniger tödlich – als mit Waffen um sich zu ballern.

Mit einer Tasse Kräutertee – echten Kräutern – in den Händen lehnte Morlin am Kamin und musterte ihre seltsame, aber irgendwie liebgewonnene Runner-Crew. Die vier Kerle hatten es sich im schicken Wohnzimmer ihrer Eltern gemütlich gemacht. Nikos hatte sogar einen Weihnachtsbaum von draußen hereingebracht und Morlin hatte die Kiste mit der Weihnachtsdeko von den letzten Jahren vom Dachboden geholt. Den Baum zu Schmücken war eine alte Tradition und hatte sich mit ihrer Crew eigenartig persönlich angefühlt. Jetzt saßen also alle im weihnachtlichen Wohnzimmer, jeder mit einem kleinen Geschenk vor sich.

Morlin selbst hatte "Schrottwichteln" vorgeschlagen. Keine Ahnung, warum genau. Vielleicht, weil es irgendwie "nett" klang. Oder, weil sie damit eine Chance hatte, Domino auf eine charmante Art und Weise ein Geschenk unterzujubeln.

Brogg, der bullige Straßenork, der mit seiner grobschlächtigen Art auf dem eleganten Landhaussofas ihrer Familie ein wenig deplatziert wirkte, schüttelte skeptisch eine kleine, braune Kiste, die er von Ukkal gezogen hatte. Der Zwerg grinste selbstgefällig.

"Mach’s auf, Brogg", drängte er. "Ich verspreche, es explodiert nicht."

Brogg fletschte grimmig die Zähne, während er den Karton vom Klebeband befreit. Ein grell blauer, hässlicher Weihnachts-Pullover kam zum Vorschein.

"Was für eine Scheußlichkeit ist das?", knurrte er.

"Hey, ich dachte, nach einem Sommer mit Millionen von Insektengeistern, könntest du etwas Gemütlichkeit vertragen", erwiderte Ukkal grinsend. "Es sticht nicht, aber es tut wahrscheinlich deinem Stolz weh."

Morlin lächelte. Der Sommer war hart gewesen. Wochenlang waren sie in der Allianz Deutscher Länder unterwegs, um gegen die sechsbeinigen – oder jede andere Mischform, die bei der Verschmelzung aufkamen – Plagegeister zu kämpfen, die in verschiedenen Städten aufgetaucht waren. Es war ein Höllentrip, aber es brachte Kohle und Befriedigung die Biester zu zerschnetzeln. Jetzt nach allem, war sie froh, mit ihren Leuten hier zu sein – selbst wenn das bedeutete, dass sie hässliche Pullover aus Schrottwichtel-Paketen zogen.

Sie beobachtete Domino, der abseits saß, wie er mit der roten Schleife spielte, die Morlin um seine Machete gebunden hatte. Elfen mochte sie normalerweise nicht und wurde es auch nicht müde zu betonen, dass sie sie als arrogant und unnahbar empfand– aber Domino hatte sie eines Besseren belehrt. Er war selbstlos.

"Morlin! Du bist dran!" Broggs tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hielt das Päckchen in der Hand, dass sie von Nikos gezogen hatte. Der Minotaurus mit dem griechischen Akzent, der sein Stufferchack und den Roadrunner betrieb, hatte während des Blackouts vielen das Leben gerettet, indem er die Straßen von Frankfurt mit Nahrungsmitteln versorgte, als die Regale leer blieben.

Mit einem Ruck riss sie das Papier auf und hielt einen Beutel Wolfsranken in der Hand. "Woher hast du die?", fragte sie überrascht. Diese seltenen Kräuter waren nicht leicht zu bekommen.

"Hatte sie im Truck gefunden. Dachte, du kannst damit was anfangen", brummte Nikos, während er auf seiner Stufferchack-Stange kaute.

Sie strahlte. "Definitiv, danke."

Ukkal hatte währenddessen sein Geschenk von Brogg aufgerissen – einen alten, verrosteten Schraubenschlüssel.

"Wirklich kreativ", murmelte er, während Brogg nur schulterzuckend sein Bier kippte.

"Schau nochmal unten nach. Ich glaube, Brogg hat auch noch ein paar leere Patronenhülsen springen lassen", forderte Morlin Ukkal lachend auf, während sie sich zu Brogg aufs Sofa sinken ließ und entspannt ein Bein auf seins legte. Seine Wärme fühlte sich vertraut an. Domino funkelte sie vom Boden aus an. Schließlich öffnete er das kleine Päckchen, das Morlin ihm untergeschoben hatte. Ihr Herz pochte. Sie hatte ihm ein handgeschmiedetes Ritualmesser geschenkt, extra für ihn gemacht. Er betrachtete es kurz, testete das Gewicht in seiner Hand und steckte es in seinen Gürtel.

"Danke", sagte er kurz angebunden.

Wie aus dem Nichts krachte es plötzlich laut. Ein Funkenregen sprühte in den Raum.

"Verdammt, Ukkal!" Morlin sprang auf. Der Zwerg hob unschuldig die Hände. "Das war nicht ich! Diese Solarheizung ist seit dem Blackout ein Wrack!"

"Ich dachte, ich hätte klar gesagt, dass keiner sie einschalten soll!"

"Hat ja auch niemand …", versuchte Brogg sie zu beruhigen.

Die letzten Funken verglühten im Raum und die wenige Elektronik im Haus begann verrückt zu spielen. Morlin verdrehte die Augen. "Na toll, ein weiteres Nachbeben. Und ich dachte, wir hätten den größten Dreck hinter uns."

"Wenn Seattle wirklich die Unabhängigkeit erklärt, wird es hier vielleicht noch chaotischer als nach dem Blackout", sagte Nikos nachdenklich. "Die ganzen Konzerne werden sich um die Kontrolle reißen."

Morlin nickte. "Ich will gar nicht daran denken, was passiert, wenn Seattle wirklich unabhängig wird. Die Matrix ist kaum stabil, und die Straßen … In den Schatten ist es heißer als je zuvor."

Plötzlich hörten sie noch ein weiteres dumpfes Geräusch von draußen. Etwas oder jemand bewegte sich im Schnee. Ukkal griff reflexartig nach seinen Sprengsätzen, während Brogg seine Fäuste ballte. Morlin konnte fühlen, wie die Luft vor Spannung knisterte und das Mana in ihr aufstieg.

"Das war nicht die Heizung", murmelte sie und tauschte einen Blick mit Domino, der seine Machete hob.

"Na, dann mal los", sagte Brogg und spuckte auf den Boden, während er zur Tür schritt. "Wer auch immer da draußen ist, bekommt eine besondere Weihnachtsüberraschung."