Eine Kurzgeschichte von Stefano Monachesi
für den SHADOWRUN-Adventskalender 2024
Quecksilbergöttin
Frankfurt, 20. Dezember 2053
Schon wieder donnerte ein Airbus A 1570 über das Areal der Jahrtausendhalle im Anflug auf den Flughafen Frankfurt International. Wintiblitz’ Cyberohren filterten den größten Teil des Lärms aus und ließen sie nur ein sanftes Brummen hören. Auch das Durcheinander der Stimmen von Tausenden Fans, die vor der Halle warteten, erreichte sie nur gedämpft. Wintiblitz schonte ihr Gehör bewusst. Sie wollte jede Note des anstehenden Konzerts aufs Höchste genießen können. Die Frankfurter Jahrtausendhalle war berühmt für ihre perfekte Akustik und für die hundertprozentige Schallisolation - direkt neben dem größten Flughafen des europäischen Festlands auch eine Notwendigkeit. Hier traten die Top-Acts der ganzen Welt auf, und hier spielte heute Wintiblitz’ absolute Favoritin den Eröffnungsgig ihrer ersten Tournee außerhalb der UCAS: Maria Mercurial.
Trotz aller Vorfreude waren ihre Nerven angespannt. Eigentlich war es keine gute Idee gewesen, nach Frankfurt zu fahren. Sogar eine ausgesprochen dumme Idee, sagten ihre Teamkollegen, so kurz nach dem schiefgelaufenen Run gegen den Frankfurter Bankenverein. Dank einem Schnitzer ihres Deckers waren ihre Gesichter auf die Sicherheitskameras des Bürokomplexes in Zürich gelangt. Untertauchen in den Schweizer Schatten war eigentlich das Gebot der Stunde.
Aber Wintiblitz liebte das Risiko. Anders wäre sie nie die erfolgreiche Riggerin geworden, die der Schweizer Bankenverein für Aufträge gegen die internationale Konkurrenz engagierte. Und wenn sich Maria Mercurial weigerte, in der Schweiz aufzutreten ("Ich spiele nicht für Meta-Hasser", Wintiblitz liebte sie für das Statement), blieb nichts als eine Fahrt über die Grenze mit einer gefälschten SIN. Die hatte sie sich etwas kosten lassen, bei Smiley, dem bestvernetzten Schieber der Ostschweiz. Das Konzertticket war daneben nur Kleingeld. Auch ziemlich unvernünftig in ihrer Situation - wann würde sie das nächste Mal bei einem Schattenlauf Kasse machen können? Aber sie verbuchte es als Weihnachtsgeschenk an sich selbst. Und bisher hatte die SIN sie und ihren VW Integra GT sicher über die Grenze, ins ALI und auf den Parkplatz der Jahrtausendhalle gebracht.
Um weniger leicht erkannt zu werden, hatte Wintiblitz sich die Haare abrasiert. Damit fiel sie in der Menge allerdings ziemlich aus dem Rahmen. Die Mehrheit der Fans kopierte die diversen blonden Frisuren, mit denen Mercurial bisher aufgetreten war, oder bunte Afros, wie sie die Tänzer im Trideo zu "Puta" trugen. Lederjacke, Jeans und Kampfstiefel passten dagegen gut ins Bild. Selbst verchromte Cyberware wäre nicht aufgefallen, denn manche trugen silbrig glänzende Textilien oder gar Metallschienen an Armen und Beinen, um Marias Markenzeichen zu kopieren: die quecksilbern reflektierende Dermalpanzerung, von der sie ihren Namen hatte.
Plötzlich schossen vor der Fassade der Halle turmhohe tanzende Hologramme der Sängerin in die Höhe und tauchten den Platz in zuckendes, buntes Licht. Es war das Signal, dass die Tore geöffnet wurden. Wintiblitz mischte sich unter die Menge und ließ sich zum Eingang treiben.
Der Schlussakkord von "Shadow Storms" verklang, die purpurnen Holowolken verblassten, und durch die Halle tobte ein Sturm der Begeisterung. Wild durcheinander springende Fans stießen Wintiblitz hierhin und dorthin. Sie wünschte, sie hätte Reflexbooster im Körper, um den Verzückten ausweichen zu können. Ausflippen war nicht ihr Ding. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt ganz der Quecksilbergöttin, die auf der Bühne für einen Augenblick zur Ruhe gekommen war, ihrer Band einen Moment zum Durchatmen gab. Mit Schwung zog sie den Lack-Bolero aus, den sie über dem Zebra-Minikleid trug. Darunter kam ein Schulterholster mit einer Morrisey Elan zum Vorschein. Das Publikum hielt den Atem an. Maria lächelte dieses unglaubliche Lächeln, das den Puls jedes Fans schneller in die Höhe trieb als eine Dosis Novacoke. "Now take your gun in your hand", rief sie in die Halle. Eine Kakophonie von Brüllen, Kreischen und Pfeifen antwortete ihr, und über den Lärm erhob sich das Intro zu Marias Megahit "Take It to Mister".
Wintiblitz schloss genussvoll die Augen. Da vernahm sie ein eindringliches Piepen. Ihre Headware signalisierte einen eingehenden Anruf. Sofort war sie hellwach, denn das System hatte Anweisung, nur einen einzigen Anrufer durchzulassen: Smiley.
"Hoi Mann, was gibts? "
"Ich habe einen Ping auf deiner SIN, Wintiblitz. Jemand interessiert sich für deine Tarnidentität." Smiley kam gleich zur Sache, das verhieß nichts Gutes.
"Wer ist es?"
"Ließ sich nicht identifizieren. Immerhin konnte ich die Spur in die Verbotene Stadt zurückverfolgen ..." Ins Herz der Frankfurter Bankenwelt. Wintiblitz schluckte leer.
"Bin ich aufgeflogen?"
"Kann ich nicht sagen. Wer immer es war, war verdammt schnell und gut. Ehrlich gesagt, deine beste Option ist ein sofortiger Abgang aus der Gegend. Fahr zurück nach Hause!"
Wintiblitz stieß einen Seufzer aus. Das Konzert war erst zu zwei Dritteln durch, ihr Lieblingslied würde bestimmt erst als Zugabe gespielt. "Take It to Mister" schraubte sich gerade zum großartigen Solo vor der letzten Strophe hinauf. Davonlaufen, in diesem lang ersehnten Augenblick?
"Danke für die Warnung, Smiley. Ich will das hier nicht verpassen. Werde mich auf mein gutes Karma verlassen müssen."
"Wie du meinst. Pass auf dich auf." Er beendete das Gespräch.
Wintiblitz richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne, wo Marias metallische Dermalpanzerung das rote Flackern der Flammenwand spiegelte, die an den Bühnenrändern wogte. Der Novastar schwang die Morrisey nach allen Seiten, sprang, duckte sich, rollte zur Seite wie ein Strassensamurai im Kampf mit einer Ares-Guardian-Drohne, während sie zum dritten Mal den Schlussvers wiederholte. Wintiblitz bekam weiche Knie. Ein Run mit Maria Mercurial im Team war eine ihrer Lieblingsfantasien. Doch leider wurde ihr Tagtraum sogleich durch ihre Runnerinstinkte unterbrochen.
Unter dem Dach der Halle hatte sie eine Bewegung wahrgenommen. Ein kleiner Schatten huschte dort umher, fast nicht wahrnehmbar, aber für ihre Riggeraugen unverkennbar. Eine Saeder-Krupp-Mikrodrohne, nicht viel mehr als ein Rotor und eine Kamera. Und garantiert nicht erlaubt im Innern der Jahrtausendhalle. Klein, aber zu groß, um sie an den Sicherheitskontrollen vorbeizuschmuggeln. Das waren nicht Fans, die ein illegales Konzertsouvenir aufnahmen. Das war auf jeden Fall eine professionelle Operation. Vielleicht war doch ein taktischer Rückzug angesagt.
Wintiblitz schaute sich um. Sie stand unten im Plenum, eingezwängt in der dicht gedrängten Menge der Novarock-Enthusiasten. Sie war nicht klein, aber zwischen massigen Orks, riesigen Trollen und Elfen mit Turmfrisur oder Monsterirokesen konnte sie den Haupteingang nicht sehen. Ihr Blick wanderte hoch zu den Emporen, wo die Eingänge von VIP-Lounges flankiert waren. Und, wie sie besorgt feststellte, von vercyberten Typen in schwarzen Anzügen. Wach- und Schließgesellschaft, die hier die Security machten, waren die nicht. Dafür trugen sie zu viel Chrom im Körper. War es das BKA, die Landespolizei, MET2000, Sternschutz oder ein freischaffendes Team? Sie kannte sich zu wenig aus mit den Sicherheitskräften der ADL. Sie kannte sich überhaupt zu wenig aus. Klar war, dass auch der Hauptausgang abgesperrt sein musste. Sie brauchte Optionen. Sie brauchte Smiley.
"Ärger?", nahm er ihren Anruf entgegen.
""Scheint so", gab sie zurück. "Ich brauche dringend einen unauffälligen, unbewachten Ausgang aus der Halle. Kann ich deine Matrix-Skills mieten?"
"Brauchst nur zu fragen. Bin schon im LTG. Bis gleich."
Wintiblitz blickte wieder zur Empore hoch. Die schwarzen Typen hatten sich vermehrt, zwei Orkfrauen bahnte sich einen Weg zu den vordersten Plätzen. Wo war die Drohne? Verschwunden. Das konnte nur heißen, dass sie gefunden hatte, was sie suchte. Ruhig bleiben, vielleicht gehts um jemand ganz anderes, versuchte sie sich einzureden. Wie wichtig konnte sie dem FBV sein, wieviel Rachsucht leistete sich der Konzern? Klar, ihr Run hatte einigen Schaden verursacht und der Konkurrenz wichtige Daten verschafft. Aber war das nicht Business as usual? Dann tauchte vor ihrem inneren Auge ein schwarz geschuppter Schädel auf mit geschlitzten Pupillen in giftig gelber Iris. Nachtmeister! Der Oberboss des Bankenvereins. Was war schon gewöhnlich, wenn man es mit Drachen zu tun hatte?
Smiley. meldete sich. In schneller Folge zeigte er ihr Bilder aller offiziellen Ausgänge. Überall Wachen, da war kein Durchkommen.
"Sieht schlecht aus", sagte der Schieber, "aber ich habe einen Vorschlag. Ich könnte den Feueralarm in der Halle auslösen, mit Sprinklern und allem. Das Durcheinander würde dir eine Chance geben."
Wintiblitz schnappte nach Luft. "Das Konzert abbrechen? Maria Mercurials Triumphzug sabotieren? Bist du bescheuert?"
Smiley seufzte. "Wenn dir dein Fantasieschwarm wichtiger ist als deine Freiheit ..."
"Ohne Prinzipien ist eine Shadowrunnerin nur eine Kriminelle", antwortete sie halb im Scherz, während sie sich näher an die Bühne herankämpfte. Sie hoffte, dass auch die Typen es nicht darauf ankommen lassen wollten, das Konzert zu stören und den Zorn der Fans auf sich zu ziehen. Wahrscheinlicher war, dass man sie unauffällig zu betäuben versuchen würde. Schließlich fielen immer wieder mal überexaltierte Fans in Ohnmacht, das ließ sich ohne Aufsehen durchziehen.
Ein neuerlicher Ping von Smiley. "Ich habe was gefunden. Es gibt in der Bühne mehrere Lifte und Schächte nach unten. Neben dem dritten Lautsprecherturm links ist ein Müllschacht, dessen Ausgang nicht bewacht zu sein scheint. Ich könnte ihn für dich öffnen."
"Junge, echt? Wenn ich auf die Bühne klettere, habe ich gleich auch noch Marias eigene Sicherheit am Hals! Im besten Fall stoßen sie mich zurück, aber wahrscheinlich zerren sie mich backstage und schließen mich irgendwo ein, wo mich die Typen in Schwarz nur noch einsammeln müssen."
"Irgendein Risiko wirst du eingehen müssen, Mädel." Er zeigte ihr Bilder der Überwachungskameras. Die ersten Verfolger waren nur noch ein Dutzend Meter von ihr entfernt. Sie drängte sich weiter nach vorn und stand endlich direkt vor der Bühnenabsperrung. Schnell überschlug sie die Situation. Ein Sprung über den anderthalb Meter hohen Zaun, vier Meter zur Bühne, die zum Glück verhältnismäßig niedrig war. Wach-und-Schließer sah sie ein halbes Dutzend im Graben stehen. Mit Glück könnte sie es hinaufschaffen, bevor sie einer an den Füßen hinunterreißen konnte.
Wintiblitz drehte sich um - und starrte direkt in die Cyberaugen eines verchromten Elfen in schwarzem Anzug, die sich zwischen zwei Fans in der Reihe hinter ihr durchzwängte. Von links näherte sich eine Afrikanerin des Teams, in den Chromfäusten hielt sie eine kleine, böse glänzende Spritze. Scheiße! Es war bereits zu spät, um sich wieder umzudrehen und über die Absperrung zu klettern. Das gäbe Chromfaust perfekte Gelegenheit, sie ihn den Oberschenkel zu piksen. Sie hob die Fäuste, bereit sich zu wehren, vielleicht die Spritze zu zerbrechen ...
Irgendetwas ist falsch, meldeten ihre Instinkte. Aber was? Der Song, realisierte sie. Maria hatte den Einsatz verpasst zur zweiten Strophe von "Night Tears". Dann hörte sie die glasklare, melodische Stimme der Sängerin. "Lasst uns jemanden aus dem Publikum auf die Bühne holen", dröhnte sie über die Anlage. "Die junge Frau mit der Glatze da bei der Barrikade"
Bevor Wintiblitz sich umdrehen konnte, wurde sie von kräftigen Händen über die Absperrung gehoben. Zwei Security-Frauen führten sie zu einer Treppe, die sich plötzlich im Rand der Bühne gebildet hatte. Wie im Traum stieg sie nach oben, wo Maria sie lächelnd empfing, während die Band weiterspielte, als sei das planmäßiger Teil der Show. Wintiblitz sah ihr Gesicht reflektiert in der silbernen Haut des Stars, die Augen weit aufgerissen, die Mundwinkel hängend, eine Fratze des Unglaubens. "Mein Date mit Maria Mercurial hatte ich mir anders vorgestellt", sagte eine Stimme in ihrem Geist, während die Sängerin sie in eine Umarmung zog und dann endlich die zweite Strophe des Songs anstimmte. Eingehakt führte sie Wintiblitz über die Bühne, zur Schlagzeugbatterie, zum Synthrack, das mit Marias Headware verlinkt war, und weiter. "Sometimes I feel like I'm falling / down an endless rabbit hole", sang sie. Das war nicht der Originaltext, durchzuckte es Wintiblitz. Dann merkte sie, dass sie neben dem dritten Lautsprecherturm links standen. "Grüß Smiley von mir", flüsterte ihr Maria Mercurial ins Ohr, "und take it to mister!" Dann öffnete sich unter Wintiblitz’ Füssen eine Klappe, und sie rutschte einen steilen, finsteren Kamin hinab.
Erst nachdem sie den geknackten EMC-Lieferwagen von der ummauerten Zufahrtstrasse auf die Landstrasse gesteuert hatte, erlaubte sich Wintiblitz, einen Moment tief durchzuatmen. Ihren VW hatte sie stehen lassen, der war zu offensichtlich mit ihrer gefälschten SIN verknüpft. Bestimmt lungerten da auch schwarze Anzüge herum. Den EMC musste sie auch bald loswerden und ein neues Fahrzeug beschaffen, mit dem sie unverfänglich auf der A5 nach Hause fahren konnte.
Seufzend kontaktierte sie Smiley. "Hoi, Kolleg! Ich kanns nicht glauben! Du kennst Maria Mercurial?"
"Sagen wir, ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der Kontakt zu ihr aufnehmen kann", kam die Antwort. "Das ist es, was einen guten Schieber ausmacht."
"Sie sagte, ich solle dich grüßen. Na, jedenfalls schulde ich dir jetzt wohl einen großen Gefallen."
"Einen großen Haufen Gefallen, würde ich sogar sagen. Und die werde ich eines Tages einfordern, aber erst, wenn Gras über diese Sache gewachsen ist. Jetzt tauchst du am besten erstmal in den Schatten unter. Ich könnte dir ein paar Tipps geben ..."
"Nein danke", unterbrach sie ihn. "Ich will meine Schulden bei dir nicht noch in die Höhe treiben. Ab hier finde ich mich selbst zurecht. Aber nochmals herzlichen Dank. Mit Maria Mercurial auf der Bühne - das war das ganze Debakel mehr als wert!"
Wintiblitz beendete das Gespräch und schaltete die Mediakonsole des EMC an. Sie war nicht überrascht, dass zuoberst auf der Musik-Playlist ihr Lieblingssong von Maria Mercurial stand. Sie drückte auf Play. Laut dröhnten Gitarren und Synthorgeln aus den Boxen, und darüber sang diese Stimme, die sie im Geist noch immer in ihr Ohr flüstern hörte, mal zornig schreiend, mal samtig weich von Freiheit, von Hoffnung und von Widerstand.